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FÜNF

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I can’t get no satisfaction …

Sandra griff zu ihrem privaten Handy, das auf dem Schreibtisch lag. Die auf dem Display angezeigte Nummer war ihr unbekannt.

»Ja, bitte?«, meldete sie sich. Keine Antwort. »Wer ist da?« Der Anrufer schwieg weiterhin, aber sie hörte jemanden atmen. »Hören Sie, wenn das ein schweinischer Anruf ist, dann legen Sie am besten auf, bevor ich mit der Trillerpfeife Ihrem Trommelfell einen bleibenden Schaden zufüge.«

Sandra hatte gelesen, dies sei das wirksamste Mittel gegen unerwünschte Anrufe. Und da der Anrufer ihre Privatnummer gewählt hatte, die außer ihren Eltern und engsten Freunden niemandem bekannt war, musste Sandra nicht fürchten, einen potenziellen Gast zu vergraulen.

»Wer spricht denn da?«, fragte eine tiefe, männliche Stimme. »Ms, ich will Sie nicht belästigen, sondern nur wissen, wem diese Nummer gehört.«

Der Sprecher wirkte eingeschüchtert. Sofort tat es Sandra leid, derart barsch gewesen zu sein.

»Entschuldigen Sie, aber ich mag es nicht, wenn man sich am Telefon nicht gleich mit Namen meldet. Ich bin Sandra Flemming vom Higher Barton Romantic Hotel. Woher haben Sie diese Telefonnummer?«

»Higher Barton Hotel?«, wiederholte der Mann. »Wo ist das?«

»Sechs Meilen nördlich von Polperro«, antwortete Sandra automatisch. »Warum wollen Sie das wissen? Wer sind Sie?«

Ohne Kommentar legte der Anrufer auf.

»Seltsamer Kauz«, murmelte Sandra. Sie war sicher, die Stimme nie zuvor gehört zu haben.

Sandra wandte sich wieder der Planung des Bingoabends für die kommende Woche zu und hatte den Anruf bald darauf vergessen. Manchmal dachte sie noch an Creeda Pengelly. Christopher hatte vehement abgelehnt, über den Mann der Milchfarmerin Erkundigungen einzuziehen.

»Eine vage Aussage ist kein Grund für Ermittlungen, zumal ihre Ärztin keinen Hinweis auf eine eventuelle Vergiftung finden konnte.«

Seit ihrer Begegnung bei St Gwinnodock Well waren neun Tage vergangen. Creeda hatte sich nicht mehr bei Sandra gemeldet, daher dachte sie, die Farmerin habe sich wieder beruhigt. Creeda befand sich ja in regelmäßiger ärztlicher Behandlung, und Sandra sah ohnehin keine Möglichkeit, wie sie ihr hätte helfen können.

Am Nachmittag bat Major Collins Sandra, ihm beim Tee Gesellschaft zu leisten. Da sie Zeit hatte und das Wetter zum Sitzen im Freien verlockte, nahm sie am Tisch des ehemaligen Jagdfliegers auf der Terrasse Platz. Sie waren allein, die anderen Gäste nutzten das schöne Wetter für Ausflüge und würden erst gegen Abend zurückkehren.

Der Major räusperte sich. »Ms Flemming, ich glaube, ich habe Ihnen noch nicht ausführlich von meinem Einsatz im Falklandkrieg erzählt.«

Sandra bemühte sich, ernst zu bleiben. »Sie haben erwähnt, Sie seien während eines Einsatzes am Bein verwundet worden.«

Major Collins nahm eine bequeme Sitzposition ein, legte die Fingerspitzen aufeinander und schloss die Augen. Das Zeichen, dass jetzt eine längere Geschichte folgte. Der alte Haudegen liebte es, von seinen Erfahrungen in der Royal Air Force zu erzählen. Zugegeben, seine Berichte waren interessant und spannend, wenngleich Sandra den Verdacht hatte, der Major schmücke das eine oder andere Detail zu seinem Vorteil aus. In der Regel fehlten ihr und dem Personal die Zeit, Major Collins länger zuzuhören. Daher war sie froh, dem alten Herrn heute ihre volle Aufmerksamkeit schenken zu können.

»Es war eine kalte, nasse Nacht«, begann der Major. »Neumond, und so stockfinster, dass man die Hand nicht vor Augen erkennen konnte …«

»Sandra, da ist jemand, der Sie unbedingt sprechen möchte.«

An der Terrassentür stand Eliza Dexter, hinter ihr ein älterer Mann, den Sandra nicht kannte. Er war groß, mit bulligem Körperbau, Stiernacken, einer Glatze und einem grauen Drei-Tage-Bart. Er trug eine derbe braune Cordhose, ein grün-blau kariertes Baumwollhemd, darüber eine grüne Steppweste, an den Füßen nicht ganz saubere Boots.

»Ist sie das?«, fragte der Fremde und zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Sandra.

Unwillig sagte Major Collins: »Ms Flemming hat keine Zeit. Sie leistet mir Gesellschaft.« Die Enttäuschung, dass er mit seiner Erzählung nicht fortfahren konnte, stand dem Major ins Gesicht geschrieben.

»Ist wichtig, mit Ihnen zu reden, Miss«, sagte der Mann. »Dauert nicht lang, hab’ nur ’ne Frage.«

In diesen zwei Sätzen erkannte Sandra die Stimme des Anrufers vom Vormittag.

»Ich bin gleich wieder für Sie da, Major.« Sandra stand auf und trat vor den Fremden. »Sie haben mich heute angerufen, nicht wahr? Nun, Sie sind mir gegenüber im Vorteil, denn Sie kennen meinen Namen, Mister …?«

Ohne seinen Namen zu nennen, musterte er Sandra abschätzend. Sein Blick war ihr unangenehm, aber Sandra widerstand dem Impuls, ihren knielangen, blauen Rock tiefer zu ziehen, und hoffte, dass alle Knöpfe der cremefarbenen Bluse ordnungsgemäß geschlossen waren.

»Bin gekommen, weil ich wissen will, was meine Frau mit Ihnen zu schaffen hat«, brummte der Glatzkopf.

»Ihre Frau?«, fragte Sandra verständnislos.

Er nickte. »Creeda. Sie kennen sie doch, nich’ wahr? Fand diesen Zettel im Nachlass und wollt’ wissen, wem die Nummer gehört. Ist mein Recht als Ehemann. Muss schließlich wissen, mit wem sich meine Frau getroffen hat.«

Nachlass? Getroffen hat?, hämmerte es in Sandras Kopf. Ihre Kehle wurde trocken, ihre Zunge schwer, als sie fragte: »Geht es Creeda gut?«

»Wie man’s nimmt.« Der Mann, bei dem es sich um Sam Pengelly handeln musste, seufzte. »Letzte Woche ist sie gestorben.«

Sandras Stimme zitterte: »Das tut mir sehr leid, Mr Pengelly.«

»Sie und Creeda kannten sich also? Was hatte meine Frau mit einer wie Ihnen zu schaffen?«

»Was wollen Sie mit einer wie Ihnen andeuten?«

Sam Pengelly merkte wohl, dass er einen Schritt zu weit gegangen war.

»’Tschuldigung, war nicht abwertend gemeint«, presste er zwischen den Zähnen heraus. »Bin nur ein einfacher Farmer und in so einer piekfeinen Bude wie hier noch nie gewesen. Wenn ich mal übernachten muss, nehm’ ich was Günstiges. Travelodge oder so.«

Blitzschnell dachte Sandra nach und hoffte, überzeugend zu klingen, als sie erklärte: »Creeda, Ihre Frau, hat mich gefragt, ob wir von Ihrer Farm Milch und Käse beziehen wollen. Ich sagte ihr, dass wir seit Jahren fest mit einem Anbieter aus der Gegend von Lower Barton zusammenarbeiten. Wir tauschten trotzdem die Telefonnummern aus. Man weiß ja nie, was kommt.«

»Aha.« Sam Pengelly ließ sich nicht anmerken, ob er Sandras Erklärung glaubte. »War nicht Creedas Art, was hinter meinem Rücken zu tun. Hat immer alles mit mir besprochen. Gerade, seit sie krank war. Nach der Operation ging’s ihr nicht gut, wissen Sie?«

»Wann ist die Beerdigung?«, fragte Sandra.

»Die war vorgestern. Creedas Asche hat jetzt ihren Frieden.« Er musterte Sandra fragend. »Nehm’ nicht an, Sie wollen mit mir ein Geschäft machen? Wär’ auch sinnlos, werd’ die Farm nämlich verkaufen. Nichts für ungut, Ms Flemming. Hab’ mich nur gewundert über die unbekannte Nummer. Creeda hatte keine Geheimnisse vor mir.«

Und ob sie die hatte, dachte Sandra.

Ohne Abschiedsgruß drehte sich Pengelly um und stapfte davon.

Sandra blieb wie angewurzelt stehen. Erst jetzt merkte sie, dass die Bluse an ihrem schweißnassen Rücken klebte. Creeda Pengelly war tot! Letzte Woche war sie gestorben, hatte er gesagt, also unmittelbar nachdem sie sie um Hilfe gebeten hatte, weil ihr Mann sie umbringen wollte …

»Alles in Ordnung, Sandra?« Eliza Dexter legte eine Hand auf Sandras Arm. »Sie sind kreidebleich. Wer war der Mann? Hatte er schlechte Nachrichten?«

Sandra nickte. Ihr Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt.

»Gehen wir ins Büro, Eliza, dort erkläre ich Ihnen alles.« Sandra wandte sich an Major Collins. »Entschuldigen Sie, Major. Ich fürchte, ich kann Ihnen heute nicht länger Gesellschaft leisten.«

Im Büro sank Sandra auf ihren Stuhl, ihre Hände zitterten.

»Ich fürchte, ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht und bin gerade einem Mörder gegenübergestanden.«

»Schon wieder diese Farmerin? Ich habe dir bereits gesagt, dass ich in dem Fall nichts ausrichten kann.« Christopher klang ungeduldig, und er wich Sandras Blick aus.

Sandra winkte ab. »Ja, und dass die Long-Rock-Farm nicht in deinen Zuständigkeitsbereich fällt.« Ernst sah Sandra ihren Freund an. »Deine Kollegen in Looe haben nichts unternommen, als sich Creeda hilfesuchend an sie gewandt hat.«

»Obwohl ich keinen Moment geglaubt habe, was du mir von Creeda Pengellys Vorwürfen erzählt hast, habe ich im Revier in East Looe nachgefragt«, verteidigte sich Christopher. »Man schilderte mir die Frau als eine nervige Person, unter Halluzinationen und Verfolgungswahn leidend.«

»Dann ist es wohl nur eine Halluzination, dass Creeda jetzt tot ist«, bemerkte Sandra sarkastisch.

»Meine Güte, Sandra! Du hast selbst gesagt, sie sei krank …«

»Nicht im Kopf!«, widersprach Sandra entschieden. »Creeda hatte Probleme nach einer missglückten Hüftoperation. Doch auch ich habe sie nicht ernst genommen und gedacht, sie fantasiert oder deutet etwas falsch. Aber nur einen Tag, nachdem sie mich um Hilfe gebeten hat, ist sie gestorben. Wir wissen beide, dass es solche Zufälle nicht gibt!«

Christopher wandte ein: »Wenn an Creedas Tod etwas seltsam gewesen wäre, hätte es der zuständige Arzt gemeldet.«

»Gift ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen.« So leicht gab sich Sandra nicht geschlagen. »Creeda behauptete, ihr Mann verabreiche ihr kleine Dosen, die sie zunehmend krank machten. Heute habe ich Sam Pengelly kennengelernt. Er ist ein unsympathischer Typ, dem ich durchaus zutraue, dem Tod nachgeholfen zu haben. Pengelly hat gleich zwei schwerwiegende Motive, seine Frau loszuwerden. Er will die Farm verkaufen, und er hat eine wesentlich jüngere Geliebte, mit der er ein neues Leben beginnen will. Einem Verkauf hätte Creeda niemals zugestimmt, und bei einer Scheidung wäre Pengelly leer ausgegangen. Gute Gründe, das Problem anderweitig zu lösen.«

»Wenn jeder, der bei einer Trennung finanziell verliert, seinen Partner ermorden würde, wäre wohl die Hälfte der Weltbevölkerung ausgerottet.« Ernst sah Christopher sie an. »Dein Engagement in allen Ehren, Darling, und ich schätze es, dass du Creeda Pengelly und ihre Angst nicht länger als überspannt ansiehst. Ihr Tod braucht dich aber nicht zu kümmern.«

Zischend stieß Sandra die Luft aus und erwiderte empört: »Creedas Tod geht mich nichts an? Die Frau hat mich um Hilfe gebeten! Sie ahnte, dass ihr Mann bald den letzten, entscheidenden Schritt tun würde. Und ich habe nichts unternommen! Ich habe sie einfach im Stich gelassen! Das werde ich mir nie verzeihen.«

»Ach, Sandra …«

Erneut wich Christopher ihrem Blick aus, und er machte auch keine Anstalten, sie tröstend in die Arme zu nehmen. »Du willst also Creedas Tod nicht untersuchen?«

»Meinen Kollegen in Looe funke ich nicht dazwischen. Wäre es andersrum, würde ich mir eine Einmischung ebenfalls strikt verbieten. Zudem ist es unmöglich, eine eventuelle Vergiftung jetzt noch festzustellen, da die Leiche eingeäschert wurde.«

»Aus gutem Grund! Pengelly hat keine Zeit verschwendet, alle Spuren zu beseitigen.« Nachdenklich rieb sich Sandra den Nasenrücken und fragte: »Ist es beim heutigen Stand der Wissenschaft nicht möglich, auch in der Asche eines Verstorbenen Reste von Gift nachzuweisen?« Auf Christophers erstaunten Blick fügte sie schnell hinzu: »Das habe ich im Internet gelesen.«

Schmunzelnd schüttelte Christopher den Kopf. »Du darfst nicht alles für bare Münze nehmen, was im Netz verbreitet wird. Sandra, du bist weder für den Tod der Farmerin verantwortlich, noch hast du sie im Stich gelassen. Es gibt keinen Grund, Sam Pengelly zu verdächtigen.«

»Außer Creedas felsenfester Überzeugung, getötet zu werden«, murmelte Sandra. »Du enttäuschst mich. Ich glaubte, dass auch dir die Umstände auffällig erscheinen.«

»Es tut mir leid, deine Erwartungen nicht zu erfüllen«, sagte Christopher mit einem Hauch von Sarkasmus in der Stimme. »Warum kannst du nicht begreifen, dass ich meine Arbeit mache und du deine? Ich mische mich doch auch nicht ständig ein und gebe dir gut gemeinte Ratschläge, wie du das Hotel zu führen hast.« Sein Ton war schärfer geworden.

Sandra schluckte. »Was ist los, Christopher? Seit ein paar Tagen bist du so komisch.«

»Sorry, dass ich lächerlich auf dich wirkte.«

»So habe ich es nicht gemeint!«, brauste Sandra auf. »Du hast dich verändert und scheinst mit den Gedanken ständig woanders zu sein. Hast du einen Fall, der dich derart beschäftigt? Agnes Roberts weiß von keinem Verbrechen in Lower Barton …«

»Ach, du glaubst der geschwätzigen Metzgerin mehr als mir?«, fiel ihr Christopher ins Wort. »So, wie du meinst, das Internet liefere dir umfangreiche Informationen über die Arbeit der Polizei?« Er sprang auf und stieß mit dem Knie gegen die Tischplatte. Sandra konnte gerade noch ihr Saftglas festhalten, sonst wäre es umgekippt. »Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.«

Auch Sandra war aufgestanden. Sie wagte nicht, Christopher zu umarmen, denn seine Miene war verschlossen. Leise fragte sie: »Haben wir gerade unseren ersten Streit, Christopher?«

»Ich bin es nicht, der streitet, und habe mir den Abend wahrlich anders vorgestellt.«

Sandra schluckte ihren Stolz hinunter und sagte versöhnlich: »Lass uns nicht länger von Creeda sprechen, Christopher. Ich mache eine Flasche Rotwein auf, und wir sehen uns eine Musiksendung auf ITV an.«

»Ich möchte jetzt allein sein. Gute Nacht, Sandra.«

Christopher küsste Sandra auf die Stirn und verließ so eilig das Cottage, als könne er gar nicht schnell genug wegkommen.

Perplex starrte Sandra auf die hinter ihm zugefallene Tür. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Seit sie Christopher von dem Treffen mit Creeda Pengelly erzählt hatte, verhielt er sich ihr gegenüber so reserviert. Sandra überlegte, ob sie etwas gesagt oder getan hatte, was ihn verärgert haben könnte. Außer dass sie ihn gebeten hatte, ein paar Erkundigungen einzuziehen – die er ohnehin abgelehnt hatte –, war sich Sandra jedoch keiner Schuld bewusst. Seit sie sich vor fünf Jahren kennengelernt hatten, war es immer wieder dazu gekommen, dass sich Sandra in die Arbeit des DCI’s eingemischt hatte. Nicht weil sie Christopher für inkompetent hielt, im Gegenteil! Meistens waren es Kleinigkeiten gewesen, denen er nicht hatte nachgehen können oder dürfen, Sandra als Privatperson hingegen schon. Christopher hatte sie deswegen zwar immer getadelt, aber mit einem Augenzwinkern. Seit Monaten war in Lower Barton kein Kapitalverbrechen mehr geschehen, und noch in der letzten Woche waren sie und Christopher ein Herz und eine Seele gewesen. Seine heutige Reaktion verletzte Sandra mehr, als sie zugeben wollte. Sie sah ein, dass Christopher im Todesfall Creeda Pengellys nicht offiziell ermitteln konnte. Ein paar vorsichtige Nachforschungen wären aber sicher möglich. Zum Beispiel über die finanzielle Situation der Farm, über die Ehe der Pengellys, über die Frau, die angeblich Sams Geliebte war, und natürlich über Creedas Testament und das Angebot eines Investors, den Grund und Boden kaufen zu wollen.

Ihre Behauptung Christopher gegenüber, sie fühle sich schuldig, weil sie Creeda im Stich gelassen habe, entsprach der Wahrheit. Sandra kam sich vor, als habe sie versagt, wenngleich sie nicht wusste, was sie hätte unternehmen können. Sie konnte wohl kaum zu Sam Pengelly gehen und ihm auf den Kopf zusagen, er habe seine Frau ermordet.

Sie erinnerte sich, wie Creeda über ihre Ärztin gesprochen hatte. Diese hatte Essensreste untersucht, aber nichts gefunden. Creeda hatte gesagt, die Ärztin und sie seien seit ihrer Jugend miteinander befreundet. Sandra schaltete den Laptop ein und suchte nach der Old Bridge Surgery in East Looe, dem Fischerort, welcher der Long-Rock-Farm am nächsten lag. Nach einem Klick hatte Sandra die Webseite gefunden. Im Ärztezentrum waren fünf Ärzte angestellt, drei Frauen und zwei Männer. In Creedas Alter praktizierte nur eine Frau dort: Dr Jane Odgers. Auf dem Foto wirkte sie herb, das dunkle Haar trug sie geschnitten wie ein Mann, und die Brille schmeichelte ihrem eckigen Gesicht kein bisschen.

Sandra schloss nicht aus, dass Creeda eventuell keine Betreuung über den Nationalen Gesundheitsdienst in Anspruch genommen, sondern sich privat hatte behandeln lassen. Sie öffnete die Flasche Wein, die sie eigentlich mit Christopher zusammen hatte genießen wollen, und trank einen Schluck, bevor sie nach Ärztinnen suchte, die ihre Patienten ausschließlich auf Honorarbasis behandelten. In Looe und der näheren Umgebung fand sie insgesamt drei, eine schied aufgrund ihrer jungen Jahre aus.

»Es bleibt mir nichts anderes übrig, als bei allen nachzufragen«, sagte Sandra laut und trank erneut von dem trockenen Chianti. Nach einem Glas verkorkte sie die Flasche wieder und stellte sie in den Kühlschrank. Christophers Verhalten würde sie nicht dazu bringen, aus Kummer zu viel zu trinken, und morgen früh brauchte sie einen klaren Kopf.

Sandra beschloss, zuerst Jane Odgers aufzusuchen. Wenn es sich bei ihr um Creedas Freundin handelte, war die Ärztin sicher bereit, über die Tote zu sprechen. Sandra musste hundertprozentig wissen, dass nichts und niemand, auch nicht sie, Creedas Tod hätte verhindern können. Erst dann würde sie den Gedanken, versagt zu haben, vergessen können.

Die Angst der alten Dame

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