Читать книгу Die Angst der alten Dame - Rebecca Michéle - Страница 5
DREI
ОглавлениеGegen halb eins kehrte Sandra nach Higher Barton zurück. Eliza Dexter sah ihr fragend entgegen. Sie brannte darauf, zu erfahren, was Sandra an der heiligen Quelle erlebt hatte.
»Die Nachricht war kein Scherz, allerdings musste ich versprechen, außer Christopher Bourke niemanden ins Vertrauen zu ziehen.«
Eliza riss die Augen auf. »Das hört sich ja geheimnisvoll an!«
Sandra winkte ab. »Wohl eher nicht.«
»Sandra, Mr Shaw möchte Sie sprechen«, sagte Eliza zusammenhangslos. »Seit einer Stunde wartet er im Büro.«
»Shaw?«, fragte Sandra verwundert. »John Shaw vom Three Feathers?«
Eliza nickte und raunte: »Er ist sehr aufgeregt und meint, es sei ungemein wichtig, dass er mit Ihnen spricht.«
Sandra konnte sich nicht vorstellen, was der Inhaber des Hotels Three Feathers in Lower Barton mit ihr zu besprechen hatte. Nachdem Sandra das Higher Barton Romantic Hotel übernommen hatte, war John Shaw über die Konkurrenz wenig erfreut gewesen, da das Three Feathers das einzige Hotel in einem Umkreis von zehn Meilen gewesen war. Shaw hatte aber schnell erkannt, dass er und Sandra unterschiedliche Klientel beherbergten. In Shaws Hotel stiegen vorrangig Geschäftsreisende ab oder Leute auf der Durchreise, die nur für eine Nacht blieben. Higher Barton hingegen lag drei Meilen außerhalb des Ortes, hierher kamen Gäste auf der Suche nach Ruhe und Erholung. Aus für Sandra unverständlichen Gründen hatte Shaw dann versucht, mit ihr zu flirten. Seitdem er eingesehen hatte, dass er bei Sandra nicht landen konnte, zumal ihre und Christophers Beziehung in Lower Barton bekannt geworden war, verband Sandra und Shaw zwar keine Freundschaft, aber ein kollegiales Miteinander.
Mit dem Rücken zur Tür stand der Hotelinhaber am Fenster und blickte in den Park.
»Mr Shaw?«
Er drehte sich um. Seine Lippen verzogen sich zu einem verkrampften Lächeln.
»So förmlich?«, fragte er. »Wir wollten uns doch beim Vornamen nennen, Sandra. Unter Kollegen ist das üblich.«
»Okay, John. Ms Dexter sagt, Sie möchten mich sprechen?«
John Shaw war ein großer Mann mit einer kräftigen Statur, ohne dick zu sein. Sein graues Haar lichtete sich bereits deutlich, und sein sorgfältig gepflegter Henriquatre Bart verlieh ihm ein seriöses Aussehen.
»Ich bin gekommen, um Sie zu warnen, Sandra.«
»Mich zu warnen?«, wiederholte Sandra verständnislos. »Ich wüsste nicht …«
»Vergangenen Samstag hatte ich Gäste, die ein fünfgängiges Dinner gebucht hatten. Hummer, Krabben, Jakobsmuscheln frisch aus dem Meer als Vorspeise, bestes Roastbeef aus Devon zum Hauptgericht, zur Nachspeise Eiscreme und Käse aus Cornwall. Alles beste Qualität und selbstverständlich rein ökologisch. Dazu tranken die Damen Champagner, Sherry und Wein. Natürlich nur die teuersten Marken.«
Sandra begann, zu verstehen. »Lassen Sie mich raten, John: Die Gäste haben die Zeche geprellt.«
Shaw nickte und stieß wutschnaubend heraus: »Es waren sechs Frauen, alle nicht mehr in ihren besten Jahren. Die, die das Dinner bestellt hatte, machte den Eindruck einer richtigen Dame, wie man sie heute nur noch selten sieht. Rosa gefärbte Kringellöckchen, eine weiße, zarte Haut und sehr elegant gekleidet. Sie sagte, sie wolle ihren siebzigsten Geburtstag mit ihren Freundinnen gebührend begehen. Gefeiert haben die Damen dann auch. Und wie!« Shaw ballte seine Hände zu Fäusten, eine steile Falte über der Nasenwurzel. »Als ich die Rechnung vorlegte, funktionierte ihre goldene Kreditkarte nicht. Sie vermittelte mir den Eindruck, es sei ihr außerordentlich peinlich. Ja, sie besaß sogar die Kaltblütigkeit, vor Verlegenheit zu erröten. Von ihren Freundinnen hatte keine eine Kreditkarte und natürlich auch nicht so viel Bargeld dabei. Ich schwöre Ihnen, Sandra, die Frau hatte Tränen in den Augen. Sie schrieb mir ihre Adresse auf und versprach, das Geld am nächsten Tag zu bringen. Als ich zögerte – Anschreiben ist in meinem Haus nicht üblich – streifte sie sich einen goldenen Ring vom Finger. Es sei ihr Verlobungsring, sagte sie. Ein Schmuckstück aus dem 19. Jahrhundert mit einem Rubin und viel mehr wert als die ausstehende Rechnung. Sie gab mir den Ring als Pfand.« Er brach ab und schnappte nach Luft.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte Sandra und schenkte ihm aus der bereitstehenden Karaffe ein.
Shaw trank durstig und erzählte weiter: »Am nächsten Tag kam niemand, auch nicht am folgenden und in den Tagen darauf. Die von der Frau genannte Adresse in Wadebridge war ebenso falsch wie ihr Name Daisy Smith.«
»Und der Ring?«, warf Sandra ein und ahnte die Antwort.
Zerknirscht gestand Shaw: »Modeschmuck, keine zehn Pfund wert. Sandra, ich bin Gastwirt, kein Juwelier, und der Ring machte optisch wirklich was her.«
»Das tut mir sehr leid für Sie.« Sandra meinte es aufrichtig. Vor Zechprellern waren Gastronomen niemals gefeit. »Waren Sie bei der Polizei?«
»Heute Vormittag. Sergeant Greenbow nahm meine Anzeige auf, machte mir aber wenig Hoffnung, die Betrügerinnen zu finden und mein Geld zu bekommen.«
»Das fürchte ich auch«, murmelte Sandra und lauter: »Danke, dass Sie mich gewarnt haben.«
»Da behauptet man immer, die jungen Leute hätten keinen Respekt mehr, würden lügen und betrügen! Den alten Frauen habe ich es wahrlich nicht zugetraut.« Shaw sah Sandra eindringlich an. »Halten Sie Ihre Augen und Ohren offen, Sandra, nicht dass Sie zum nächsten Opfer der Bande alter Ladies werden.«
»Das werde ich, John, obwohl ich glaube, dass die Frauen Cornwall längst verlassen haben und die Masche anderswo durchziehen, doch ich spreche mit DCI Bourke. Sobald er etwas in Erfahrung bringt, lassen wir es Sie wissen. Wir Gastronomen müssen schließlich zusammenhalten, John.« Sandra dachte, so langsam sollte sie eine Liste mit all den Themen erstellen, die sie mit Christopher besprechen wollte. Zum zweiten Mal wurde sie heute um Hilfe gebeten, und auch diesmal sah Sandra keinerlei Möglichkeit, etwas auszurichten.
John Shaw seufzte. »Nur noch Lug und Betrug. Manchmal frage ich mich, ob ich das Three Feathers nicht besser verkaufen und mich auf die Scilly-Inseln zurückziehen soll. Seit Jahren habe ich auf St Mary’s ein Cottage, in dem ich meinen Urlaub verbringe. In absoluter Ruhe, lange Spaziergänge und Sonnenuntergänge am Meer.«
Das war neu für Sandra. Über das Privatleben von John Shaw hatte sie sich nie Gedanken gemacht. Sie wusste nur, dass er vor Jahren von seiner Frau wegen eines anderen Mannes verlassen worden war und keine Kinder hatte.
»Sie wollen nicht ernsthaft verkaufen, John! Was wäre Lower Barton ohne das Three Feathers?«
»Wenn ich es ernsthaft in Erwägung ziehe, erhalten Sie, Sandra, das Vorkaufsrecht.« John Shaw lächelte gezwungen.
Sandra wusste nicht, ob er sein Angebot ernst meinte. Sicherheitshalber wehrte sie ab: »Seien Sie versichert, John, dass ich kein Interesse an einem zweiten Hotel habe. Mit Higher Barton bin ich vollkommen ausgelastet.«
»Man wird sehen, was die Zukunft bringt«, murmelte Shaw gedankenverloren. »Einen schönen Tag noch, Sandra, und passen Sie bei Ihren Gästen auf.«
Nachdem er fort war, kam Eliza ins Büro. Durch die angelehnte Tür hatte sie alles mitangehört.
»Dumme Sache«, sagte Eliza. »Glücklicherweise blieb Higher Barton bisher vor Zechprellern verschont. Warum schmunzeln Sie, Sandra? Sie freuen sich doch nicht darüber, was John Shaw passiert ist?«
»Natürlich nicht!«, versicherte Sandra hastig. »Ich amüsiere mich nicht über den Betrug, sondern darüber, dass ich heute zweimal gebeten wurde, mich um die Aufklärung einer Straftat zu kümmern.«
»Die geheimnisvolle Person, die Sie am St Gwinnodock Well trafen?« Eliza sah sie erwartungsvoll an. »Sie sagten, Sie dürfen nicht darüber sprechen, aber eine kleine Andeutung oder so?«
»Ich glaube, ich kann Sie ins Vertrauen ziehen, Eliza, da ich weiß, dass es unter uns bleibt. Die Sache klingt sehr seltsam, und ich weiß nicht, ob ich sie glauben soll.«
Zusammengefasst erzählte Sandra von Creeda Pengelly und ihrer Behauptung, ihr Mann wolle sie töten.
»Obwohl ich viele Leute in Cornwall kenne, ist mir diese Frau unbekannt. Die Long-Rock-Farm liegt aber auch ein gutes Stück von Lower Barton entfernt. Was werden Sie unternehmen, Sandra?«
Sandra zuckte mit den Schultern. »Wie ich es Creeda versprochen habe, werde ich Christopher von den Anschuldigungen erzählen. Der arme Mann!« Sandra schmunzelte. »Wenn er mich heute Abend besucht, erwartet er bestimmt nicht, mit einem Betrugsfall und einem geplanten Mord empfangen zu werden. Wobei ich glaube, dass sich Creeda Pengelly irrt oder etwas durcheinanderbringt. Es mag sein, dass sie sich nach dem Essen, das ihr Mann zubereitet, krank fühlt, das kann aber viele Ursachen haben. Zum Beispiel Lebensmittelallergien, ich tippe eher auf eine psychische Anspannung. Vielleicht hat Sam Pengelly eine Affäre mit der Angestellten und will die Farm verkaufen – das drückt Creeda aufs Gemüt. Das sind allerdings private Angelegenheiten, in die ich mich nicht einmischen werde. Was könnte ich auch ausrichten?«
»Eine gute Einstellung, Sandra«, erwiderte Eliza zufrieden. »Es reicht, wenn Sie sich auf die Suche nach Tätern begeben, die einen richtigen Mord auf dem Kerbholz haben.«
»Das sehe ich ebenso. Gehen wir also wieder an die Arbeit.«
Sie und Eliza verließen das Büro genau in dem Moment, als Major Collins von seinem vormittäglichen Spaziergang zurückkehrte. Der Achtzigjährige, ehemaliger Jagdflieger der Royal Air Force, lebte seit Jahren in der Queen-Mary-Suite. Im Higher Barton Romantic Hotel waren alle Räume nach historischen Persönlichkeiten der Tudorzeit benannt – dem Jahrhundert, in dem das Haus erbaut worden war.
»Meine Damen.« Der Major deutete eine Verbeugung an. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Es gibt nicht zufällig wieder einen Mord?«
»Gott behüte!«, riefen Sandra und Eliza unisono, und Sandra fügte hinzu: »Ich bin heilfroh, wenn Higher Barton nicht wieder in was Schreckliches verwickelt wird.«
»Nun ja, unser kleines Abenteuer im vergangenen Jahr war das Aufregendste, das ich seit langer Zeit erlebt habe.« Die wasserhellen Augen des Majors bekamen einen versonnenen Ausdruck. »Wenn ich wieder behilflich sein kann – Sie wissen, wo Sie mich finden.«
»Wir werden daran denken, Major«, erwiderte Sandra und salutierte.
»Ich gehe jetzt zum Lunch. Was gibt es denn Gutes?«
Eliza erklärte: »Monsieur Peintré hat eine neue Füllung aus Krabben, Steckrüben und Spinat für Ofenkartoffeln kreiert. Er freut sich, wenn Sie es probieren und Ihre ehrliche Meinung äußern, Major.«
»Die Kombination hört sich zwar seltsam an, ich bin jedoch überzeugt, es wird mir vorzüglich munden. Wie alles, was Monsieur auf die Teller zaubert.«
Auf seinen Spazierstock mit dem vergoldeten Griff gestützt, ging Major Collins zum Restaurant. Mit Eliza allein, sagte Sandra: »Der alte Haudegen ist mir richtig ans Herz gewachsen.«
»Mir ebenfalls, Sandra. Wollen Sie jetzt auch zu Mittag essen? Ich halte derweil die Stellung, denn ich habe ausgiebig gefrühstückt und im Moment keinen Hunger.«
»Ich gehe auf einen Sprung zu Emma rüber«, sagte Sandra und zwinkerte ihrer Mitarbeiterin zu. »Vielleicht hat sie gerade einen Apfelkuchen im Ofen.«
Sandras Hoffnung auf ein Stück von Emma Penroses überaus köstlichem gedeckten Apfelkuchen wurde heute enttäuscht. Eine roséfarbene Schürze umgebunden und die Arme bis zu den Ellenbogen in roten Gummihandschuhen, war sie damit beschäftigt, die Sprossenfenster des weißen Cottages auf Hochglanz zu polieren. Emma war Ende fünfzig, und ihre mollige Figur verriet, dass sie gern und gut kochte und buk. Heute hatte sie ihre nahezu ergrauten Haare zu einem lockeren Dutt aufgesteckt.
»Ach, Sandra, schön, Sie zu sehen!«
»Ich möchte Sie nicht bei der Hausarbeit stören, Emma.«
Emma lachte und streifte sich die Handschuhe ab. »Ein Großputz muss hin und wieder sein.« Sie zwinkerte Sandra schelmisch zu. »George ist vor meiner übergroßen Aktivität, wie er es nennt, an die Küste geflüchtet. Da ich seit dem frühen Morgen das Haus auf den Kopf stelle, habe ich mir jetzt eine Pause verdient. Trinken Sie einen Kaffee mit mir? Ich kann Ihnen allerdings nur ein paar gekaufte Kekse anbieten, Backen steht heute nicht auf meinem Plan.«
»Ein Kaffee wäre wunderbar.«
Sandra musste sich ducken, um durch die niedrige Tür in das dreihundert Jahre alte Cottage mit den schrägen Wänden und den verwinkelten Räumen zu treten. Seit Jahrzehnten lebten Emma und George Penrose in dem Haus am Rande des Parks von Higher Barton. Der früheren Besitzerin Lady Abigail Tremaine hatten sie als Hausmeisterpaar gedient und nach der Umgestaltung zu einem Hotel ein lebenslanges Wohnrecht auf dem Grund und Boden von Higher Barton erhalten. Wenn Not am Mann war, sprang Emma auch im Service ein, und Georges handwerkliches Geschick nahm Sandra gern in Anspruch.
In der gemütlichen Wohnküche schob Emma die auf dem Tisch stehenden Putzmittel beiseite, dann brühte sie den Kaffee per Handfilter auf, nach ihrer Ansicht die einzige Art, ein vollmundiges Aroma zu erhalten.
»Wie läuft es im Hotel?«, fragte sie.
»Wie immer um diese Jahreszeit ist es ruhig, was uns allen etwas Zeit zum Durchatmen beschert, bevor zu Weihnachten das Haus wieder voll wird. Sie wissen, dass im November Renovierungsarbeiten anstehen.«
»Freuen Sie sich auf die Zeit danach, wenn alles wieder fast wie neu sein wird.« Emma lächelte versonnen. »In drei Wochen fliegen George und ich nach Teneriffa. Wir können es kaum erwarten.« Schnell fügte sie hinzu: »Das soll nicht heißen, dass wir von Ihnen und Higher Barton genug haben, Sandra, im Gegenteil! Sie werden mir fehlen, aber das wechselhafte, feucht-kühle Herbstwetter setzt Georges Arthrose von Jahr zu Jahr mehr zu.«
»Es tut mir leid und gut, dass es Ihrem Mann auf Teneriffa besser geht«, erwiderte Sandra. »Wobei ich es sehr bedaure, drei oder vier Monate auf Ihren köstlichen Apfelkuchen verzichten zu müssen.«
»Ich gebe Ihnen gern das Rezept.«
Lachend hob Sandra die Hände. »Das hätte keinen Zweck. Ich mag einige Talente haben, als diese jedoch beim Kochen und Backen verteilt worden sind, war ich gerade abwesend.«
»Deswegen führen Sie ein Hotel und beschäftigen einen Spitzenkoch. Wie geht es Monsieur?«
»Ausgezeichnet, zumindest vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht etwas zu meckern hat. Wobei …« Sandra seufzte.
Emma sagte verstehend: »Der Brexit, nicht wahr?«
»Bereits vor Monaten hat Monsieur Peintré den Antrag gestellt, in Großbritannien bleiben zu können. Ich habe eine Unmenge an Dokumenten ausfüllen und bestätigen müssen, dass die Arbeit meines Kochs absolut systemrelevant ist und ich auf keinen Fall auf ihn verzichten kann, ohne erhebliche finanzielle Einbußen zu erwarten. Die Mühlen der Regierung mahlen jedoch langsam.«
»Und Rosa?«, fragte Emma, denn auch die Küchenhilfe hatte keine britische Staatsangehörigkeit. Sie stammte aus Polen.
»Rosa wartet ebenfalls auf ihren Bescheid«, antwortete Sandra. »Sie kennen sie, Emma. Rosa sorgt sich nicht um die Zukunft. Probleme lacht sie mit ihrer herzlichen Art einfach weg.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass es wirklich so weit kommt«, sagte Emma leise und auch ein wenig traurig. Sie und George machten ebenso wie Sandra keinen Hehl aus ihrer Meinung, dass der Brexit der größte Fehler war, den das Land seit Hunderten von Jahren begangen hat.
Der Kaffee war durchgelaufen, und Sandra goss einen reichlichen Schuss frische Milch hinein. Gedankenverloren rührte sie in der Tasse und fragte: »Emma, kennen Sie Creeda und Sam Pengelly von der Long-Rock-Farm in der Nähe von Looe? Der Hof verkauft Milch und Käse aus eigener Herstellung.«
Emma dachte kurz nach, schüttelte dann den Kopf.
»Ich glaube nicht.« Sie sah Sandra aufmerksam an. »Warum fragen Sie? Haben Sie Ärger mit den Leuten?«
»Ihnen gegenüber kann ich nichts verbergen.« Sandra schmunzelte. »Ärger würde ich es nicht nennen. Heute Vormittag bin ich Creeda Pengelly begegnet. Sie hat mir eine irre Geschichte erzählt, und ich weiß nicht, wie ich die Frau einschätzen soll. Auf mich machte sie keinen verwirrten Eindruck, für das, was sie behauptet, gibt es aber keinen einzigen Beweis.« Sandra winkte ab. »Da ich Creeda versprochen habe, über ihr Anliegen nicht zu sprechen, wechseln wir am besten das Thema.«
Mit gerunzelter Stirn fragte Emma: »Sie glauben nicht an irgendeine Geschichte, Sandra, und wollen trotzdem nicht darüber sprechen?«
»Ich weiß, das klingt seltsam.« Sandra trank ihren Kaffee aus. »Versprochen ist versprochen. Da Sie ihr ganzes Leben in Cornwall verbracht haben, dachte ich, Sie kennen vielleicht auch die Pengellys. Creeda muss ein paar Jahre älter als Sie sein, Emma.«
»Tut mir leid, Sandra. Creeda ist ein ungewöhnlicher Name, selbst hier in Cornwall. Pengelly hingegen heißen viele. Sie wissen doch, Sandra: An Tre-, Pol- und Pen- erkennen Sie die Cornishmen überall auf der Welt. George und ich sind stolz, Penrose zu heißen.«
Sandra nickte. »Es hätte ja sein können. Ich überlasse Sie jetzt wieder Ihrem Hausputz.«
»Wahrscheinlich wird es heute, spätestens morgen regnen«, erwiderte Emma. »Das ist immer so, wenn ich die Fenster frisch geputzt habe. Dann kann ich wieder von vorn anfangen.«
Sandra stimmte in Emmas Lachen ein und verließ das Cottage. Noch standen keine Regenwolken am Himmel. Das Licht der Nachmittagssonne spiegelte sich in den zahlreichen Fensterscheiben von Higher Barton. Dunkel ragten ein Dutzend Kamine in den wolkenlosen Himmel empor. Auch nach über zwei Jahren empfand Sandra Stolz und Dankbarkeit, wenn sie ihr Hotel betrachtete. Das alles hier, jede Fensterscheibe, jede einzelne Platte des Schieferdaches, jedes Möbelstück und jeder Teller gehörte ihr ganz allein! Sandras Leben war nicht immer geradlinig verlaufen. Wie alle Menschen hatte sie Höhen und Tiefen durchlebt, die meiste Zeit hindurch war sie aber auf der Sonnenseite gestanden. Sie wusste, dass sie sehr viel Glück gehabt hatte. Glück und Menschen, die sie liebten. An erster Stelle ihre Eltern, wenngleich ihre Mutter etwas gluckenhaft war und hin und wieder vergaß, dass Sandra inzwischen Mitte dreißig war. Im Gegensatz zu seiner Frau war Douglas Flemming nüchtern und praktisch veranlagt. Ein anpackender Geschäftsmann, der noch im fortgeschrittenen Alter täglich in seinem Laden stand, in dem man von Schrauben über Lebensmittel bis zu Waschbecken fast alles kaufen konnte. Und dann war da noch Christopher Bourke …
Sandras Handy piepte. Sie nahm es aus der Hosentasche, sah auf das Display und schmunzelte. Als hätte sie mit ihren Gedanken Christopher heraufbeschworen, hatte er ihr eine Textnachricht geschickt.
Sorry, Darling, heute Abend klappt es nicht. Auch nicht in den nächsten Tagen. Hab eine Menge zu tun. XXX C.
Sandras Lächeln schwand. Sie hatte sich auf einen gemütlichen Abend mit Christopher gefreut. So war es aber, wenn man mit einem Vertreter des Gesetzes liiert war: Es konnte immer etwas dazwischenkommen. Der Dienst stand für Christopher an erster Stelle.
Sandra antwortete: Das ist schade, aber verständlich. Hast Du einen neuen Fall? Hoffentlich keinen Mord … Love S.
Vergeblich wartete Sandra auf eine Antwort. Das graue Häkchen sagte ihr, dass Christopher die Nachricht nicht gelesen hatte. Über ihren Rücken lief ein Kribbeln. Sie war nicht neugierig, aber gespannt, ob es in der Gegend wieder ein Verbrechen gegeben hatte. Nicht, dass sie sich das wünschte, im Gegenteil! Am vorigen Abend hatte er noch gemeint, dass es in und um Lower Barton ruhig war. Nun ja, jetzt die Zechprellerei im Three Feathers, aber dieser Fall würde Christopher bestimmt nicht bis spät in die Nacht hinein beschäftigen.
Sandra zögerte einen Moment, dann wählte sie die Nummer eines Anschlusses in Lower Barton.
»Hallo?«
»Hi, Agnes, ich bin es, Sandra.«
»Oh, Sandra, was gibt es? Ich habe leider keine Zeit, der Laden ist gerammelt voll«, sagte die Metzgerin hastig. Im Hintergrund hörte Sandra vielstimmiges Gemurmel.
»Nichts Besonderes«, antwortete Sandra. »Ist in Lower Barton alles okay?«
»Sicherlich.«
»Nur noch eine Frage, Agnes: Haben Sie Creeda Pengelly zu mir geschickt?«
»Ja, das habe ich mir erlaubt. Hat sie mit Ihnen gesprochen? Was wollte sie denn?«
Sandra hatte erwartet, dass Creeda der Metzgerin nichts von ihrem Verdacht, ihr Ehemann wolle sie töten, erzählt hatte, und antwortete ausweichend: »Creeda fragte, ob Higher Barton Milchprodukte von ihrer Farm beziehen wolle.«
»Nur das wollte sie mit Ihnen besprechen?« Die Enttäuschung war Ms Roberts Stimme anzuhören. »Nun ja, weil Creeda gemeint hat, Sie, Sandra, würden immer wieder Verbrechen aufklären, dachte ich …« Sandra hörte eine lautere Stimme, konnte die Worte aber nicht verstehen. Dann sagte Ms Roberts: »Einen Moment, Ms Lovelock, ich bin sofort für Sie da. Sandra, ich muss jetzt auflegen. Wenn Sie im Ort sind, kommen Sie doch mal wieder bei mir vorbei.«
Ohne einen Abschiedsgruß beendete Agnes Roberts das Telefonat.
Sandra seufzte und steckte das Telefon ein. Sie stellte fest, dass sie sich an manchen Tagen etwas mehr Aufregung wünschte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie je zuvor ähnlich empfunden hatte. Nicht während der Schulzeit, in ihrer Ausbildung und ihren Tätigkeiten in Hotels in Frankreich, der Schweiz und in Schottland. Nach der Übernahme des Higher Barton Romantic Hotels waren ihre Tage lang und bis an die Grenzen ausgefüllt gewesen. Die unermüdliche Arbeit hatte Sandra nie gestört. Sie liebte es, zu planen, zu organisieren, und sie probierte gern Neues aus. Stillstand bedeutete für Sandra Rückschritt. Beim Umgang mit den vielfältigen Charakteren der Gäste blühte Sandra auf. Manche waren nicht einfach zu händeln, oft kapriziös, manche dermaßen arrogant und von sich eingenommen, dass Sandra sich zwingen musste, ihr freundliches Lächeln beizubehalten. Der Gast war schließlich König. Die meisten waren höflich und nett, und Sandra freute sich, wenn sie Tipps für besonders schöne Wanderwege und zu den Sehenswürdigkeiten Cornwalls geben konnte.
Nach über drei Jahren hatte sich auf Higher Barton alles eingespielt. Sandra stand ein hervorragendes und treues Team zur Seite. Manchmal schien es, als würden sich die Mitarbeiter auch ohne Worte verstehen. Eliza Dexter hatte die Buchungen und Finanzen fest im Griff, der Zimmerservice lief ebenso reibungslos wie das Restaurant, und in den letzten Wochen hatte es nicht einmal einen Disput mit Monsieur Peintré gegeben. Der hervorragende, extrem exzentrische belgische Koch war strikt gegen Veränderungen, die – seiner Ansicht nach – seine Kreativität negativ beeinflussten. Peintré ließ sich von niemandem über die Schulter schauen, selbst seine Hilfe Rosa kannte nur die Ansätze der Rezepte. Edouard Peintrés ungeklärter Aufenthaltsstatus hatte ihn wohl etwas zahmer gemacht, wie Eliza es ausdrückte.
Sandra war weit davon entfernt, sich überflüssig zu fühlen, dachte aber manchmal, dass der Hotelbetrieb auch ohne sie wie am Schnürchen lief.
»Sei doch froh«, hatte ihre Freundin Ann-Kathrin gesagt, nachdem Sandra angedeutet hatte, dass ihr manchmal langweilig war. »Du hast dir Freizeit mehr als verdient, und du hast einen wundervollen Mann an deiner Seite, mit dem du jeden Augenblick genießen solltest.« Sie hatte geseufzt. »Ich wünschte, Alan hätte etwas weniger zu tun und könnte mehr zu Hause sein. Wenn Demi drei Jahre alt ist und in die Vorschule gehen kann, werde ich wieder als Lehrerin arbeiten.«
Sandras Freundin, die Frau des erfolgreichsten Anwalts in Cornwall, war zwar leidenschaftlich gern Mutter, aber ebenso wie Sandra nicht der Typ, der die Hände untätig in den Schoß legte.
Dies alles führte dazu, dass Sandra den Gedanken an Creeda Pengelly und die angebliche Bedrohung ihres Lebens nicht aus dem Kopf bekam. Sie konnte sich ja mal diskret in Looe nach ihr erkundigen, dort war die Long-Rock-Farm bestimmt bekannt. Sie glaubte nicht, dass Creedas Leben ernsthaft in Gefahr war, vielleicht fand sie aber einen Weg, um der Farmerin die Angst zu nehmen.