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Mastering umgesetzt
ОглавлениеGefühle von Beherrschung und Erfolg prägen uns schon sehr früh. Arnold verweist auf eine Studie von Brinck (2007) zur elterlichen Kommunikation und zu deren schichtspezifischer Abhängigkeit, die die Anzahl Ermunterungen bzw. Entmutigungen, die Kinder bis zu einem bestimmten Alter erfahren haben, erfasst: «Bis zum dritten Lebensjahr hatten die Mittel- und Oberschichtkinder 500 000 Ermunterungen und 80 000 Entmutigungen gehört. Die Kinder von Sozialhilfeempfängern erlebten es umgekehrt: Sie hörten von ihren Eltern 75 000 Ermunterungen und 200 000 Entmutigungen.»77 Wenn zusätzlich zu den Ermutigungen zu Hause Wissen zur Verfügung steht und vorgelernt wird, erfährt man nachher in der Schule, dass man einiges schon weiss: Es entstehen Erfolgsgefühle und das Erleben: «Das ist ja gar nicht schwer.» Dieser Vorsprung der bildungsnahen Schichten vergrössert sich in der Schule immer weiter. Lernen wird dann als einfach, erfolgsbringend und angenehm vom Gehirn erlebt und verarbeitet. Bei Kindern aus bildungsnahen Schichten führt ein Vorsprung im Wissen so zu Mastering. Tatsächlich haben Kinder, die mit deutlichen Vorkenntnissen die Schule beginnen, nachweislich den grössten Schulerfolg in den betreffenden Fächern.78 Inhaltliches Vorwissen als Lernvoraussetzung spielt ganz generell für den weiteren Wissenserwerb eine herausragende Rolle.79 Diese positive Lerngeschichte führt zu einer steten Aufwärtsspirale bezüglich des Schulerfolgs, aber auch bezüglich der positiven Beziehung zu Lehrpersonen und Klassenkameraden. «Deshalb kann dem Aufbau einer möglichst positiven Lerngeschichte besonders in den ersten Schuljahren gar nicht genug Bedeutung beigemessen werden.»80
In internationalen Vergleichstests in Mathematik sind Kinder aus China, Japan und Korea westlichen Kindern regelmässig überlegen.81 Da chinesische Zahlwörter, z. B. «si» für 4 und «qi» für 7, sehr viel kürzer sind als «vier» und «sieben» im Deutschen (oder «four» und «seven» im Englischen), können Kinder, die chinesischer, japanischer oder koreanischer Muttersprache sind, sich Ziffern einfacher und schneller merken und sie leichter aneinanderreihen. Chinesische Kinder können sich z. B. Zahlenfolgen von sieben Ziffern merken, was nur die Hälfte der westlichen Kinder schafft. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, «dass wir die Zahlen zwischen 13 und 99 nicht in der Reihenfolge aussprechen, in der wir sie schreiben: Wir schreiben 14, 15, 18, aber wir sprechen vier-zehn, fünf-zehn, acht-zehn. Im Deutschen ist das Zahlensystem also äusserst unregelmässig. Anders im Chinesischen, Japanischen und im Koreanischen, die ein vollkommen logisches Zahlensystem besitzen: 11 ist zehneins, 12 ist zehn-zwei, 24 ist zwei-zehner-vier und so weiter.»82 Wenn ein deutschsprachiges Kind dann siebenunddreissig und zweiundzwanzig addieren soll, muss es diese Zahlen zuerst im Kopf in die richtigen Ziffern verwandeln, also in 37 + 22. Erst dann ist es möglich, die entsprechende Rechenoperation durchzuführen. Ein asiatisches Kind muss hingegen nur drei-zehner-sieben und zwei-zehner-zwei addieren, das heisst, die Rechenaufgabe ist in der sprachlichen Formulierung bereits enthalten. Während wir weiter beim Bruchrechnen von drei Fünfteln sprechen, heisst es im Chinesischen bildlich «von fünf Teilen nimm drei», was eine Erklärung des Bruchs ergibt und die eindeutige Unterscheidung zwischen Zähler und Nenner ermöglicht. Fuson meint, dass das asiatische Zahlensystem transparent sei und sich dadurch die gesamte Einstellung zur Mathematik positiv verändere zu: «Ich erwarte, dass ich das kann und dass es einfach ist.»83
Choon Tan «hält Mathematik für ein Grundbedürfnis, das vor dem Lesen komme, da unsere Weltordnung mathematischen Gesetzmässigkeiten unterliege».84 So kann Wissen das Zurechtfinden und Sicherheit in der Welt ermöglichen und dieses uns eigentlich mitgegebene Lernbedürfnis erklären.
Dilts beschreibt die schöne Art, wie einem Kind mit einer Lernbehinderung mit der bisherigen Strategie des Abzählens mit den Fingern beigebracht wurde, grössere Zahlen zusammenzuzählen: «‹Ich habe eine Idee! Egal, um was für zwei Zahlen es geht, in jedem Fall bist du die grössere Zahl, und die kleinere Zahl zählst du an den Fingern ab. Wenn es um die Dreizehn und die Vier geht, dann bist du die Dreizehn. Halte jetzt einmal vier Finger hoch und zähle.› […] ‹Gut. Was ist hundertfünfundzwanzig und sieben?› Zuerst zögerte das Kind. Die Zahlen erschienen ihm so ‹gross›. Der Psychologe erinnerte den Jungen. ‹Du bist die Hundertfünfundzwanzig. Halte jetzt sieben Finger in die Höhe und zähle.› ‹Hundertzweiunddreissig›, kam die erfreute Antwort […]. Als Nächstes wurde dem Jungen klar, dass man selbst beim Addieren vielstelliger Zahlen nie mehr als zwei Zahlen auf einmal zu addieren braucht, vorausgesetzt, man lernt, überzählige Zehner auf die nächste Stelle (links) zu übertragen. Plötzlich konnte dieses Kind, das nie zuvor Zahlen hatte addieren können, deren Summe höher als zehn gewesen war, mehrstellige Zahlen addieren […]. Ich glaube, da war noch etwas anderes, sehr Subtiles, das sehr wichtig war: dass der Lehrer das Kind aufforderte, sich mit den grossen Zahlen zu identifizieren. ‹Ich bin die grosse Zahl.›»85
Ein Beispiel für den Rückgriff auf eine sichere Lernerfahrung ist folgende Geschichte: Der Hypnosetherapeut Milton Erickson brachte einer Patientin und Bäuerin im Ruhestand das Schreiben und Lesen bei, indem er ihr zeigte, dass sie alles dazu notwendige Wissen schon zur Verfügung hatte und nur Buchstaben wie ihr bereits bekannte Dinge zusammenzubauen hatte. «Nun machen Sie zwei schräggestellte Zeichen, wie die eine Seite des Dachgiebels des Heuschobers und wie die andere Seite.»86 So erreichte er erfolgreiches Lernen, aufbauend auf dem Gefühl von Beherrschung.