Читать книгу 2 Jahre später - Regina Mars - Страница 10
5. Kai
ОглавлениеArthur sah ihn an und Kai war ganz kribbelig vor Freude. Er wusste nicht, wieso. Aber er spürte den dunklen Blick auf sich.
Er würde hierbleiben. Ein paar Tage lang. Ein paar Tage in diesem gigantischen, wunderschönen Haus mit der unendlichen Bibliothek und vor allem: mit Arthur. Es kam ihm wie ein Wunder vor.
Die Villa Blau wirkte verwunschen, wie eine Märchenvilla. Mit all den Schlingpflanzen, dem Efeu, das in den sonnendurchfluteten Innenhof wuchs, mit den verschnörkelten, schmiedeeisernen Gittern, den leise flüsternden Baumwipfeln in der Ferne … Fast unwirklich. Erst das röhrende Keuchen des alten Transporters brachte die Realität zurück. Er seufzte leise.
»Das ist mein Vater«, sagte er und stand schweren Herzens auf. »Ich muss ihm helfen.«
»Oh. Ich kann auch helfen.«
»Das wird er nicht zulassen.« Kai lächelte. »Ich würd mich natürlich freuen. Äh, dass mir jemand Arbeit abnimmt.«
»Junge!«, hörte er seinen Alten rufen. Kai atmete ein. Er hoffte, dass man ihm die letzte Nacht nicht ansah. Hoffte es sehr.
»Ich … fahr mittags mit ihm heim und packe ein paar Sachen«, sagte er zögernd. Nicht, dass Arthur es sich anders überlegt hatte. Aber der lächelte.
»Gut. Ich sage der Haushälterin, dass sie für Zwei kochen soll.«
»Was? Nein!« Meinte er das ernst? »Ich muss doch nicht bekocht werden! Und die Haushälterin ist Frau Montag, die kann mich nicht leiden!«
»Was? Wieso kann sie dich nicht leiden?« Arthur wirkte ernsthaft erstaunt. Tat irgendwie gut.
»Nichts, kein Grund, ich …« Mist, war die Wirklichkeit dabei, ihn wieder einzuholen? Arthur sah ihn von unten her an.
»Weißt du«, sagte der bedächtig. Eine Stimme wie Samt hatte der Kerl. »Ich hab dir gestern fast über die Füße gekotzt und … na ja, du weißt, dass ich noch nie … dass ich überhaupt keine Erfahrung mit nichts hab und dass ich ein langweiliger Bücherwurm bin und nicht mal meine Eltern sich besonders für mich interessieren. Vor mir musst du echt keine Geheimnisse haben. Du hast mich in der Hand.« Ein scheues Lächeln.
»Du mich doch auch.« Auf mehr als eine Art. Kai verzog das Gesicht. »Ist auch keine große Sache. Sowas hält sich auf dem Dorf halt ewig. Hab gehört, woanders wär das nicht so. Gelesen.« Er räusperte sich. »Na, ich bin mit ihrem Sohn in der Grundschule gewesen. Markus. Und irgendwann gab’s ’ne Läuseplage und es gab einen Infoabend für Eltern und Schüler dazu und … Natürlich dachten alle, ich wäre schuld.«
»Du? Warum?«
»Ich bin an allem schuld.« Kai seufzte. »Weiß nicht, ob du das erkennst, so als reicher Adliger, aber ich bin … Sogar für arme Leute sind Paps und ich … arm. Das Shirt hier hab ich von so einem Wohltätigkeitsverein und … Na, wenn irgendwer Läuse hat, ist es natürlich die Zecke, die in einer Bruchbude haust. Ich also. Sie wollten mich isolieren, damit es nicht wieder ausbricht. Ich sollte einen Tisch für mich alleine bekommen. Ganz hinten in der Ecke, damit Frau Montag nicht nochmal das ganze Bettzeug waschen und ihre Familie mit Läuse-Shampoo behandeln muss. Dabei hatte ich gar keine Läuse. Die Ersten, bei denen sie die gefunden haben, waren Markus und Horst. Aber sie hat darauf bestanden, dass ich«, ein bitterer Geschmack kroch in seinen Mund, »isoliert werde, zum Wohle aller. Ich glaub, sie hat schon kapiert, dass ihr eigener Sohn die Quelle war und wollte, dass … Sie wollte wohl, dass das keiner merkt. Sowas hängt einem hier ewig nach.«
»Und deshalb hasst sie dich?«
»Njaa …« Kai kratzte sich am Hals. »Paps hat mir das nachher erklärt. Anscheinend hätte ich das nicht auf der Veranstaltung sagen sollen, vor allen. Dass ich keine Läuse hab und dass Markus der Erste war, der sich gekratzt hat. Und dass sie mir nicht die Schuld in die Schuhe schieben soll, weil wir kein Geld haben. Das war alles, echt. Ich wusste nicht … Manchmal kapiere ich sowas nicht. Was man wo sagt und wie.«
»Nein, das hab ich gemerkt.« Seltsamerweise lächelte Arthur.
»Paps meint, das hätten wir mit ihr alleine besprechen sollen. Stimmt das?«
»Ja, wahrscheinlich.« Arthurs Lächeln wurde noch breiter. »Außerdem pullert man normalerweise nicht in Blumenkübel und nennt Leute Fettsäcke.«
»Oh, ich meinte nicht, dass du schlecht aussiehst …«, stotterte Kai. Du siehst total gut aus, dachte er, aber selbst er wusste, dass man sowas nicht zu einem anderen Jungen sagte. »Und Mann, diese Kübel stehen doch eh draußen, die … Was meinst du, woraus Dünger ist?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Echt?« Aber bevor Kai das weiter erläutern konnte, hörte er seinen Vater erneut rufen. »Ich bin im Wald aufgewachsen«, erklärte er deshalb noch schnell und wandte sich um.
»Was? Bist du von Wölfen großgezogen worden?«
Er drehte sich wieder um. Ja, Arthur war ernst. Er schaute ihn an, fast … bewundernd.
»Natürlich nicht! Was für Wölfe?«
»Ich hab gehört, es gibt sie wieder. Hast du schon welche gesehen?«
»Nein, und sie haben mich nicht großgezogen.« Kai verschränkte die Arme. »Ich hab … Ich erklär das später.«
»Junge!«, rief sein Vater und inzwischen klang er etwas gereizt.
»Komme!«, brüllte Kai und verließ schweren Herzens den Raum. Ob Arthur überhaupt irgendwas von dem kapiert hatte, was er erzählte? Der war aus einer anderen Welt, eindeutig.
Während er den Rasen neben der Einfahrt mähte, schaute er immer wieder zur Villa hoch. Einmal glaubte er, eine Bewegung hinter einem der schnörkeligen Fenster zu sehen. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
Der Schweiß tropfte ihm runter und durchnässte sein Shirt. Alle heulten rum, dass der Sommer nicht richtig in Fahrt kam, aber wenn man arbeitete, war es warm genug. Viel zu warm. Er stank. Gestern schon waren seine Sachen nicht frisch gewesen und jetzt roch er wie eine Sickergrube. Ob Arthur das gemerkt hatte? Heute Morgen, als er … halb auf ihm gelegen hatte. Kai schluckte. Es hatte sich gut angefühlt. Viel zu gut, dafür, dass er so wenig davon mitbekommen hatte. Ob er das nochmal … Aber dazu hätten sie sich nochmal besaufen müssen und das würde er nie wieder tun. Nie wieder.
Sein eigener Gestank mischte sich mit den Abgasen des Rasenmähers. Grüne Halme klebten ihm an den Hosenbeinen, und als er sich durch das Gesicht wischte, merkte er, dass sie bis zur feuchten Stirn hochgeflogen waren.
»Du müffelst, Junge«, sagte Paps, als er endlich mit dem Mähen fertig war. »Sobald wir zuhause sind, springst du unter die Dusche, ist das klar?«
»Klar.« Er nickte. »Hab ich noch frische Klamotten?«
»Was fragst du mich? Du hast die letzte Wäsche gemacht.«
Richtig. Mit Arthurs feinen Hemden konnte er nicht mithalten, aber zumindest wollte er nicht mehr stinken.
»Ich bleib ein paar Tage hier bei Arthur«, sagte er und rollte das Kabel auf, um seinem Vater nicht in die Augen blicken zu müssen.
»Tust du das?« Sein Alter wirkte erstaunt. Klar, sonst übernachtete er höchstens mal bei Manolja. Und deren Eltern fanden das gar nicht gut. »Hat Arthur dich eingeladen?«
Kai nickte. Er versuchte, nicht stolz zu grinsen.
»Na dann …« Paps kratzte sich an der faltigen Wange. »Aber du kommst heim, sobald seine Eltern sich ankündigen, klar?«
»Klar.«
»Gut. Na, und arbeiten kannst du ja trotzdem hier. Wenn wir fertig sind, könntest du sogar ein paar Tage Urlaub haben, was?«
»Das wäre mal ’ne Abwechslung.« Kai sah auf den Rasenmäher vor sich. »Kommst du klar?«
»Ob ich klarkomme?« Sein Vater prustete entrüstet. »Natürlich komme ich klar. Als ob ich einen Hänfling wie dich bräuchte, um mir die Arbeit abzunehmen.«
Sie wussten beide, dass das eine Lüge war.
Später, gegen Mittag, als sie über den Baumarktparkplatz gingen, schob Kai den schweren Einkaufswagen. Schon jetzt hatte er mehr Kraft als sein Vater. Zumindest schmerzte sein Rücken nicht bei jedem Handschlag.
Er hatte ein schlechtes Gewissen. Ein verdammt schlechtes, aber ein paar Tage in der Villa waren mehr, als er sich je erträumt hatte … Irgendwie. Er kapierte nicht ganz, was los war. Aber er wollte bei Arthur sein. Eine Erinnerung blitzte in seinem Kopf auf, zu kurz, um sie richtig fassen zu können. Außerdem konnte sie nicht stimmen. Er hatte doch nicht … Hatte er echt gedacht, dass er Arthur küssen wollte? Nein. Bestimmt nicht.
Sie luden Säcke voll Gartenerde und Dünger in den Transporter. Kai achtete darauf, immer die schwereren zu übernehmen. Der Himmel war trüb und bedeckt, doch die Luft war schwülwarm. Paps’ wettergegerbter Nacken glänzte vor Schweiß. Er knallte die Tür des Transporters zu. Scheppernd fiel sie ins Schloss.
»Bring du den Wagen weg.« Paps streckte sich ächzend. »Du brauchst die Bewegung, Moppel.«
Kai, laut der Schulärztin an der Grenze zum Untergewicht, schnaubte.
»Ich mach das, aber nur, weil du zu fett bist, um dich zu bewegen.«
Sein Vater war ebenso mager. Lag wohl in der Familie. Aber »Junge, bring bitte den Wagen zurück, weil mein Rücken saumäßig wehtut und ich vor Schmerzen kaum laufen kann« wäre zu traurig gewesen.
Kai ließ sich Zeit, als er den leeren Wagen über den fleckigen Asphalt schob. Einmal hätte ihn fast ein Auto erwischt, das ausparkte. Was konnte er anziehen, das Arthur beeindruckte? Die Antwort war: Nichts. Konnte er ihm irgendetwas mitbringen? Was tat Arthur gerade? Ganz alleine in der Villa liegen und lesen? Mit Freunden telefonieren? So reichen Adelssprösslingen, die bestimmt viel cooler waren als Kai?
»Alter, was stinkt hier so?«
Kai schrak zusammen. Von einer Sekunde auf die andere waren all seine Sinne geschärft. Er hörte das nervende Sirren der Strommasten, das Rauschen der Umgehungsstraße, die schrillen Schreie der Vögel, überdeutlich. Sein Blick flitzte über die Reihen der parkenden Autos. Kein Mensch zu sehen. Mist. Nur neben ihm, da waren sie.
Markus und Horst. Sie saßen auf Betonpollern, direkt neben dem Unterstand für die Einkaufswagen. Warum zur Hölle hatte er sie nicht bemerkt? Warum hatte er geträumt?
»Ich glaube, das ist er. Der stinkt doch immer«, sagte Horst, Markus’ bester Freund. Beide hatten es bereits mit fünfzehn geschafft, Männerkörper zu entwickeln, während Kai immer noch ein Lauch war. »Weißt ja, er hat sich noch nie gewaschen.«
Markus lachte. Etwas Kaltes kroch Kais Nacken hoch.
»Wenn der sich auszieht, rieselt’s bestimmt.« Ein Grinsen, das Kais ganzes Blickfeld ausfüllte. Markus stand auf. Kai wich zurück. Er stieß gegen den Einkaufswagen und hätte ihn fast umgeworfen. Höhnisches Lachen schallte über den Parkplatz.
»Meinst du?«
»Klar. Soll ich es dir beweisen?«, fragte Markus und Kai wusste endgültig, dass er in Schwierigkeiten war. Hektisch sah er sich um. Niemand. Nur Autos und Asphalt. Hinter dem Transporter stieg eine Rauchwolke auf. Paps konnte ihn nicht sehen.
Gut. Immerhin.
»He, Stinker …« Markus kam näher. Schnupperte irritiert. »Alter, das ist ja noch schlimmer, als ich dachte. Du riechst wie ein Mülleimer.«
»Ich arbeite halt.« Kai ballte die Fäuste. Mit einem von beiden konnte er fertig werden. Eventuell. Schade, dass sie zu zweit waren. »Würd dir auch mal guttun, dann müsstest du nicht auf dem Parkplatz rumlungern …«
Markus’ Hand schoss vor und packte seine Schulter.
»Vorsicht, Stinker.« Kai hörte Horsts Lachen. Aber er sah nur die Mitesser auf Markus’ Nase. Furcht krallte sich in seinen Bauch. Wenn das länger ging, würde Paps etwas mitkriegen und …
»Was wollt ihr? Macht schnell, ich hab nicht ewig Zeit.« Er hob das Kinn.
»Wir brauchen Geld. Hast du welches?«, fragte Markus und Horst wieherte wieder los.
»Der? Der hat doch nie was. Guck ihn dir an. Ich wette, sie haben nicht mal ’ne Dusche daheim. Alles, was du von dem kriegst, ist die Krätze.«
»Hm. Ist da ein Euro drin?« Markus zeigte auf den Einkaufswagen.
»Parkchip«, brachte Kai hervor. Markus’ Hand auf seiner Schulter wog tausend Kilo. Und Paps konnte jeden Moment hinter dem Transporter hervorkommen …
»Nehm ich.« Markus zuckte mit den Achseln.
»Was?« Kai starrte ihn an. »Meinst du das ernst – ah!«
Markus’ Daumen hatte sich in die weiche Stelle unter dem Schlüsselbein gegraben. Mit Mühe hielt er sich davon ab, laut zu schreien. Stattdessen stierte er geradeaus, mit zusammengebissenen Zähnen.
»Und, Stinker? Kriegen wir den Parkchip?«
Markus lächelte. Horst kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen. Und Kai nickte. Je schneller das hier beendet war, desto besser.
Markus atmete in seinen Nacken, als er den Wagen in die Reihe schob. Kai pulte den Parkchip aus dem Schlitz und reichte ihn Markus. Der schnappte ihn sich. Er hielt das silberne Ding hoch und betrachtete es nachdenklich. Etwas Fieses kroch in seine Augenwinkel.
»So billig ist der? Ne, dann will ich den nicht«, sagte er und schleuderte ihn Kai ins Gesicht. Markus war stark. Ein heller Schmerz durchzuckte Kais Wange. Aber nicht so schlimm, Hauptsache, Paps bekam nichts mit …
»Was macht ihr da?«
Nein. Kai fuhr herum. Paps kam mit geballten Fäusten auf sie zugeschlurft. Er sah zerbrechlich aus, mit dem krummen Rücken und der knittrigen Haut. Als könnte er jeden Moment zu Staub zerbröseln.
Markus und Horst lachten laut auf. Kai konnte ihre schnellen Schritte hinter sich hören, als sie davonliefen. So ein Scheiß. Er sah den blöden Parkchip in den Gully kullern, wie in Zeitlupe. Seine Wange brannte.
»Was war da los, Junge?«, fragte Paps mit seiner kraftlosen Altmännerstimme. »Ärgern die beiden dich immer noch? Nach all der …«
»Halt die Klappe!«, rief Kai und hätte sich gleich darauf am liebsten selbst getreten. Aber er wollte das nicht mehr. Nicht mehr von den beiden genervt werden und nicht die Sorge in Paps’ Augen sehen, der eh schon zu viel am Hals hatte und … er wollte nicht mehr schwach sein. Nie mehr.
Paps sah ihn an, lange. Bleierne Müdigkeit lag in den hellen Augen.
»Das wird schon wieder«, sagte er leise. »Mach dir keinen Kopf, Junge. Irgendwann haben sie keine Lust mehr und geben auf.«
Kai nickte. Dabei wusste er genau, dass sie das nicht würden. Seit der dummen Läusegeschichte hatte Markus einen Hass auf ihn. Na, kein Wunder. Nach der Infoveranstaltung damals hatten alle Kinder Markus Läusequelle genannt. Weil Kai ihn so genannt hatte und das blöde Wort war irgendwie hängengeblieben.
Sie hatten ihm das nachgerufen, bis Markus auf dem Schulhof angefangen hatte zu heulen. Kai hatte ihn danach nie wieder weinen gesehen und davor nur einmal, im Kindergarten. Es hatte ihm entsetzlich leidgetan. Aber davon war Markus’ Blamage auch nicht besser geworden.
Um allen zu zeigen, was passierte, wenn man ihn lächerlich machte, hatte Markus begonnen, ihn zu piesacken. Sieben Jahre lang büßte Kai nun schon für die Läusegeschichte, für die eigentlich niemand etwas gekonnt hatte. Na ja. Was sollte er machen? Seit er ins Gymnasium ging und Markus auf die Realschule, hatte er meistens seine Ruhe. Nur abends im Dorf war er nie ganz sicher, ob Markus nicht aus irgendeiner Ecke springen würde, um ihn weiter zu nerven. Richtig verprügelt hatte er ihn nie. Nur verhöhnt und mit Kleinigkeiten beworfen. Steine. Erdnüsse. Parkchips.
»Können wir heimfahren?«, fragte er müde. »Ich muss duschen.«
Paps nickte. Er schien erleichtert, dass Kai nicht darüber reden wollte.