Читать книгу Exel - Regina + Giuseppe De Facendis - Страница 8

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Paul Stjepanovic hatte nur noch wenige Meter vor sich. Gleich war er zuhause. Bei diesem Gedanken verzog sich sein Mund zu einem traurigen Lächeln. Zuhause konnte man das Loch, in dem er seit ein paar Monaten hauste, wirklich nicht nennen, diesen kleinen feuchten Keller in einem verlassenen Gebäude am Stadtrand von Garden City, in dem sich mehr Ratten und Ungeziefer tummelten, als in den Filmen von Indiana Jones. Wie hatte er sich beim Anblick dieser Szenen immer geekelt, nie konnte er verstehen, wie die Darsteller es über sich brachten, zwischen tausenden von krabbelnden Monstern vor der Kamera zu stehen. Aber mittlerweile hatte er sich an seine kleinen Mitbewohner gewöhnt. Seit sie wussten, dass es bei ihrem neuen Zimmergenossen nichts Essbares zu stibitzen gab, ließen sie ihn in Ruhe, und nur ab und zu fand Paul eine krabbelnde Überraschung im Hosenbein oder der Jackentasche, wenn man das, was an seinem Oberkörper herunterhing, noch als Jacke bezeichnen konnte! Ein schmutziges, zerrissenes Stück grauen Stoffes, das ihn das gesamte letzte Jahr auf jedem Weg begleitet hatte, sogar bei den vereinzelten morgendlichen Bädern im nahen See, die nicht nur der Säuberung seines Körpers, sondern gleichzeitig der Reinigung der wenigen, zum Glück hochwertigen Kleidungsstücke dienten.

Nie hätte er geglaubt, dass sich das Leben eines Menschen so schnell verändern konnte, völlig verändern, oder besser gesagt, ins Gegenteil umschlagen. Und alles wegen der Schuld einiger unfähiger Manager in höchsten Positionen. Über dieses Thema hatte er vor nur einer Stunde mit seinem Leidensgefährten George beim Essen im Hospiz gesprochen. Auch dieser hatte vor drei Jahren seine Arbeit aufgrund falscher strategischer Entscheidungen der Geschäftsleitung verloren, Fehlentscheidungen mit verheerenden Folgen, verheerend jedoch nicht für die Autoren des Disasters, sondern für diejenigen, die keinerlei Schuld an den Ursachen traf. Dieses Schicksal war sowohl George als auch Paul Stjepanovic zuteil geworden.

Paul seufzte kurz auf. Eigentlich hatte sein Leben gut begonnen. In Serbien geboren und als Einzelkind aufgewachsen ermöglichten ihm seine mittellosen Eltern durch viel Arbeit und Aufopferung das Studium der Wirtschaftsinformatik. Intelligenz und Beharrlichkeit verschafften ihm schon bald ein Stipendium und somit die Möglichkeit, sein Studium am Stevens Institut for Technology in New Jersey fortzusetzen. Kurz nach dem Abschluss kamen seine Eltern in einem tragischen Unfall ums Leben und so fasste Paul den Entschluss, in Amerika zu bleiben. Aufgrund seines introvertierten Charakters fiel es ihm schwer, Freundschaften zu schließen, aber sein hervorragender Studienabschluss und die außerordentlich speziellen Kenntnisse im Bereich der Informatik verschafften ihm schon bald eine Anstellung im Bankwesen. Nur wenige Monaten später erhielt er das Angebot, für eine der bekanntesten Banken Amerikas tätig zu werden. Wie stolz, wie glücklich war er damals gewesen! Bei diesem Gedanken huschte erneut ein schmerzliches Lächeln über Pauls Gesicht. Wer konnte damals schon ahnen, dass die vor über hundert Jahren gegründete Investmentbank entgegen jeder Voraussicht im September des gleichen Jahres Insolvenz anmelden sollte.

Paul kannte niemanden, den er damals um Unterstützung bitten konnte, keinen Verwandten, keinen Freund, keinen Kollegen. Die letzteren hatten wie er selbst innerhalb weniger Stunden jegliche Existenzbasis verloren und sich mit einem Anzug, einer Aktentasche und ein paar Banknoten in der Brieftasche auf der Straße wiedergefunden. Während die meisten seiner Leidensgefährten auf eine Familie zählen konnten, besaß Paul niemanden, den er um Unterstützung bitten konnte. Er hatte jeden Cent zusammengekratzt, um den für sein Studium notwendigen Kredit zurückzuzahlen und keinerlei Geldrücklagen geschaffen. Nach dem Bankrott der Bank war ihm nur eins geblieben: seine Arbeitskraft. Aber aufgrund des schlechten Nachrufs seines vorherigen Arbeitgebers gelang es ihm nicht, eine neue Anstellung im Bankwesen zu finden. Irgendwann versuchte er es mit Aushilfsjobs, aber als Ausländer ohne die gewünschte robuste Körperstatur fand er nicht einmal als Handlanger eine kurzzeitige Anstellung. Schnell waren die wenigen finanziellen Rücklagen verbraucht. Er verlor zunächst seine Wohnung, dann die wenigen Wertgegenstände, die ihm geblieben waren, und zuletzt das, was er am wenigsten ertragen konnte, seine Würde. Er war auf Almosen angewiesen, ging tagsüber bettelnd durch die Stadt, wühlte in Mülltonnen nach essbaren Überresten und nahm abends im Treff der Obdachlosen seine einzige spärliche warme Mahlzeit ein. Dies hatte er auch heute Abend getan und wollte nun mit einigermaßen gefülltem Magen sein Lager auf dem Boden der feuchten Unterkunft aufzusuchen, um eine weitere Nacht seines Lebens hinter sich zu bringen.

„ Hallo Alter, hast du vielleicht 'ne Kippe für mich?“ unterbrach eine Stimme aus nächster Nähe seine trüben Gedanken.

Er hob den Kopf und sah in das unsympathische Gesicht eines jungen Mannes, der ihn spöttisch angrinste.

„ Sehe ich wirklich so aus, als ob ich dir etwas schenken könnte?“ antwortete Paul mit einem traurigen Lächeln.

Was sollte er schon zu verschenken haben? Aber dann spürte er einen dumpfen, harten Schlag auf seinem Hinterkopf und sein letzter Gedanke war: mein Leben!

„ Los, macht schon! Auch wenn die Polizisten ihr Schmiergeld bekommen haben, irgendjemand könnte uns dennoch sehen! Nun beeilt euch! Vorsicht! Jetzt passt doch auf! Ihr wisst doch, dass wir ihn unverletzt abliefern sollen“, rief der Fahrer, der den Wagen neben seinen beiden Komplizen zum Stehen gebracht hatte.

„ Oh Mann, was für ein langweiliger Job! Nicht mal ein bisschen Blut! So macht das echt keinen Spaß!“ murmelte derjenige, der von hinten mit dem Knüppel zugeschlagen hatte.

Dann hoben sie Pauls leblosen Körper in den Kofferraum des Wagens und stiegen ein.

„ Denny, halt einfach die Klappe!“ unterbrach ihn sein Kumpel. „ Die zahlen wirklich gut! Den Spaß heben wir uns für morgen auf. Dann ist wieder so eine Demonstration gegen … ach, ich weiß nicht mehr gegen was. Ist ja auch egal, Hauptsache wir können uns austoben. Und am Sonntag beim Fußballderby werden wir auch unsere Freude haben!“ Dann wandte er sich an den Fahrer. „ Nun fahr schon los, damit wir das hier zu Ende bringen!“


Von hoch oben, versteckt auf dem Dach eines anliegenden Hauses hatte Exel die gesamte Szene beobachtet. Endlich hatte er sie auf frischer Tat ertappt, endlich konnte er einer Spur nachgehen! Nun hieß es, den Wagen nicht aus den Augen zu verlieren und ihn bis zum Abgabeort zu verfolgen. Vielleicht konnte er dort neue Hinweise finden, die ihn bei der Suche seines Erzfeindes weiterbrachten. Leichtfüßig flog Exel in weiten Sprüngen über die Dächer der Stadt. Phantastisch! Welch angenehmes Gefühl, das er dank der Menschen, oder besser gesagt, dank dieses Tanzes, den sie erfunden hatten, wahrnehmen durfte. Er sprang in voller Hingabe und mit etlichen Pirouetten von einem Dach zum anderen. Welch ein Genuss! Die Faszination, die das klassische Ballett auf Exel ausübte, hatte ihn dazu gebracht, eine Anzahl von Schrittfolgen und Sprüngen zu erlernen, die sich in Situationen wie der momentanen als nützlich erwiesen und ihm zugleich große Freude bereiteten. Diese tänzerischen Einlagen waren viel unterhaltsamer als die altbekannten, langweiligen Fortbewegungsarten und eigneten sich darüber hinaus für eine schlagfertige, effiziente Verteidigung, was er gestern Abend im Park ein weiteres Mal erproben durfte. Darüber hinaus standen sie im Einklang mit seinem ruhigen Wesen, welches geschmeidige Eleganz und Harmonie stets roher Kraft und brachialer Gewalt vorgezogen hatte. Und daher stellte diese Art der Verteidigung, die sich der Außerirdische während seiner Reise zur Erde angeeignet hatte, für Exel ein perfektes Zusammenspiel von Körper und Seele dar.

Der Wagen, den Exel verfolgte, blieb neben einem großen Bürogebäude stehen, so dass er vor dem nächsten Sprung unvermittelt abbremsen musste. Schluss jetzt mit den angenehmen Empfindungen und zurück zur Arbeit!

Der Fahrer, scheinbar der Anführer der Gruppe, gab seinen beiden Kumpanen weitere Befehle, während sie damit beschäftigt waren, Pauls leblosen Körper aus dem Kofferraum zu heben.

„ Schnell schnell, sonst werden wir noch entdeckt! Und lasst ihn ja nicht fallen! Ihr wisst doch: unversehrt, habe ich gesagt!“

Welch fürsorgliche Menschen! Sobald die drei Männer ihm den Rücken zugewandt hatten, ließ Exel sich von dem gegenüberliegenden Dach in die Tiefe gleiten. Sie trugen ihr Opfer ins Innere des Gebäudes, wo sich die Praxis eines Tierarztes befand. Dr. Martin Bertram, Arzt für Veterinärmedizin stand in großen Buchstaben auf einem Schild neben dem Haupteingang geschrieben. Der Anführer der Dreiergruppe schritt voran und öffnete seinen beiden Komplizen, die den Toten mühsam an Händen und Füßen schleppten, die Tür. Exel huschte ungesehen als letzter durch den offenen Eingang in die Praxisräume, wo die Kriminellen bereits von einem Mann in weißem Arztmantel erwartet wurden.

„ Neue Ware!“, sagte der Anführer. „ Aber es wird immer schwieriger, gutes Material zu finden“, fuhr er fort, während die beiden anderen den Toten ins Behandlungszimmer trugen.

„ Das ist nicht mein Problem“, sagte der Tierarzt unbeeindruckt. „Wenn ihr Geld verdienen wollt, lasst euch etwas einfallen!“

Welch unangenehmer Menschenschlag! Jedes Mal, wenn sie ihm einen neuen Körper brachten, empfand er tiefe Abscheu für seine Helfer. Aber sie machten ihre Arbeit gut und würden bis zum Ende des Projektes noch sehr nützlich für ihn sein! Jedoch nur bis zum Ende des Projektes … und dieses stand kurz bevor! Der Gedanke tröstete ihn ein wenig. Danach würden auch sie auf seinem Operationstisch landen … als letzte der Probanden.

„ Das Geld liegt in der Schublade, wie immer!“ sagte der Tierarzt. „Bis zum nächsten Mal!“

Dann wandte er sich, die Anwesenden völlig ignorierend, dem toten Landstreicher zu.

„ Auf Wiedersehen, Herr Doktor!“ verabschiedete sich der Anführer und rief zu seinen Kollegen. „Los, verschwinden wir!“

Und weg waren sie! Endlich konnte er sich seiner Arbeit zuwenden. Zunächst musste er die Leiche entkleiden. Die Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass die einfachste Methode das Auftrennen der Kleidungsstücke mit einem Skalpell war. Sauber und mühelos. Er beugte sich über den Toten, nahm die abgetragene Jacke in die Hand und setzte zum ersten Schnitt an. Nach einer halben Stunde hatte der den gesamten Körper entkleidet und gesäubert. Morgen früh würde er seine Auftraggeber informieren, dass er eine neue Leiche liefern konnte, und diesmal handelte es sich um ein wahres Prachtexemplar. Nicht um den gewohnten schmutzigen, aus der Gosse gezogenen Körper eines Landstreichers, sondern um jemanden, dessen feine Hände und zarte nicht von der Sonne gegerbte Haut davon zeugten, dass der Tote in seinem Leben niemals einer körperlichen Arbeit nachgegangen war. Zwar hatten die Monate auf der Straße erste äußere Zeichen auf Gesicht und Körper hinterlassen, aber dieser Mann entsprach nicht dem Standard der Obdachlosen, die er in den letzten Wochen weitergeleitet hatte. Vielleicht konnte er diesmal ein höheres Honorar verlangen, überlegte Dr. Bertram mit zufriedenem Lächeln. Aber das hatte Zeit bis morgen! Er sah auf die Uhr. Es war spät am Abend und er wollte nachhause, um nach dem langen Arbeitstag wenigstens einige Stunden Schlaf zu finden. Er bedeckte den nackten Körper mit einem weißen Tuch und verließ die Praxis.

Exel hatte, verborgen hinter dem Medikamentenschrank, zunächst die Übergabe der Leiche und dann deren gründliche Reinigung mitverfolgt. Als die Tür hinter dem Arzt zuschlug, verließ er sein Versteck und blickte suchend um sich. Irgendein Hinweis über den Auftraggeber des Tierarztes musste doch hier zu finden sein! Einen Computer konnte er nicht entdecken. Vor ihm stand ein Regal mit verschiedenen Aktenordnern. Er blätterte einen nach dem anderen durch, stieß auf Behandlungsberichte, Bestellungen von Medikamenten und Belege für die Steuererklärungen. Nichts! Sein Blick wanderte erneut forschend durchs Zimmer. Was hatte der Arzt vorhin zu den Killern gesagt? Das Geld liegt in der Schublade! Er ging auf einen Schreibtisch mit zwei Schubladen zu. In der ersten fand er Büromaterial jeglicher Art und ein paar Zettel mit Notizen, in der zweiten eine gebündelte Akte. Exel nahm sie heraus und begann zu blättern. Endlich!

„ Interessant! Rechnungen ausgestellt an die Klinik Salus“, murmelte er, „zunächst für die Weiterleitung einiger Tierorgane ...“, und blätterte weiter, „ … und dann … für die Lieferung mehrerer Tierkadaver für medizinische Tests!“

Trotz der vielen tausend Jahre, die seit dem letzten Zusammentreffen verstrichen waren, hatte Exels Gegner seine schlechten Gewohnheiten nicht abgelegt! Leider!


Aber welches Ziel verfolgte der Bewohner seines Nachbarplaneten? Zu welchem Zweck wurden Landstreicher getötet und ihre Leichen an die Klinik Salus verkauft? Traurig betrachtete Exel den Leichnam von Paul Stjepanovic. Heute war er bei seiner Suche zwar einen Schritt weitergekommen, aber bedauerlicherweise unter Verlust eines weiteren Menschenlebens.

„ Tut mir leid, mein Freund! Ich hätte dich retten können, aber du warst die einzige Möglichkeit, mich schnell an diesen Ort zu führen. Nun habe ich endlich eine sichere Spur gefunden! Dein Tod wird viele andere Menschenleben retten! Vielleicht kannst du mich noch hören, wer weiß?“

Dann war er verschwunden.

Exel

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