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Kapitel V

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Dagmars Tisch im Frühstücksraum blieb am nächsten Morgen frei. Björn war das nicht unrecht, denn er hatte das unbestimmte Gefühl, dass es am Abend zuvor und in der Nacht wohl etwas zu turbulent zugegangen sei. Ein Gefühl, dass durch Anjas frühmorgendliche Bemerkung, das sei ja eine geile Szene im Hafen gewesen, bestätigt wurde. Anja ging zur Rezeption und fragte nach Signora Seibold. Die müsse noch auf ihrem Zimmer sein, erfuhr sie. Björn machte sich doch Sorgen. Anja winkte ab: „Die ist doch alt genug! Wir fahren gleich nach Pompeli, oder wie das heißt. Und heute Abend schauen wir nach Dagmar.“




Pompeji beeindruckte die beiden, wenn auch Björns und Anjas Interessen sehr unterschiedlich waren. Björn war Historiker und Anja ein junges Ding, das über die antiken Steine stolperte und sich vor allem für die erotischen Darstellungen interessierte. „Die hätten auch in jedem Porno auftreten können“, lautete ihr Kommentar. Nach dem Rundgang ließen sie sich in der nahen Bar frisch gepressten Orangensaft servieren, der so teuer war wie ein guter Spumante in der Hotelbar, und beobachteten amerikanische Touristen, die reichlich ausgestattet waren mit Goldschmuck, Kameras und schicken Uhren. Eine Einladung an alle Diebe der Umgebung! Sie kamen erst um zehn wieder ins Hotel und trafen an der Bar Dagmar und einen älteren, aber sportlichen Herrn im dunkelblauen Anzug, einen Schweden. Dagmar war gut gelaunt und stellte Anja und Björn als gute Bekannte aus Düsseldorf vor, die sie auf Capri zufällig getroffen habe. Der ältere Herr war ein Buchhändler aus Stockholm. „Wir Schweden kommen gern nach Capri und besuchen die berühmte weiße Villa des schwedischen Arztes und Schriftstellers Axel Munthe. Und es gibt hier, die Damen mögen es mir verzeihen, so hübsche dunkelhaarige Jungs.“ Björn bestellte Prosecco und dachte: „Arme Dagmar, jetzt hat sie sich auch noch einen schwedischen Altmeister der Pädophilie angelacht.“ Aber Dagmar schien das nicht zu stören. Im Gegenteil: Sie machte dem Schweden so schöne Augen, dass der mit seinen Komplimenten gar nicht mehr nach kam. Björn und Anja ließen das seltsame Paar allein. Anja war beeindruckt: „Die alte Seibold hat ja Charme für zwei. Die polt den Schweden noch um. Du wirst es sehen.“ Björn grinste: „Ja, unsere Direktorin, das leibhaftige Umspannwerk!“ Am nächsten Morgen klingelte das Telefon. Es war Dagmar. In einer halben Stunde sei sie frühstücksbereit. Sie habe eine Menge zu erzählen.“ Anja fühlte sich bestätigt: „Die hat es geschafft. Der denkt jetzt nicht mehr an dunkelhaarige Knaben.“ Björn musste lachen. Aber die dreiste Art Anjas war ihm doch ein bisschen unangenehm! Ein herrlicher, sonniger Herbstmorgen. Der Frühstücksraum wurde von zarten Harfenklängen einer Vollenweider-CD eingehüllt. Dagmar trug einen schicken weißen Hosenanzug: „Olaf ist ein sehr charmanter Mann“, berichtete sie mit einem Kuchenhörnchen in der Hand. „Gut, dass mit den Knaben... Aber er hat mir versichert, dass er nie nach Thailand fahren würde. Hier in Italien und speziell auf Capri gebe es noch gewisse Traditionen, ohne dass man gleich vom Staatsanwalt Post bekäme. Na, und als wir beide etwas betrunken waren, habe ich ihn sogar geküsst. Und er ist ganz verlegen geworden – mit 64 Jahren, wie ein kleiner Junge.“ Björn war froh, dass jetzt nicht auch Anja von ihren erotischen Erlebnissen der vergangenen Nacht berichtete. Das wäre ihn doch ziemlich peinlich gewesen. Dagmar wollte zur berühmten Blauen Grotte. Auf ihrer Hochzeitsreise sei sie ja schon mal dort gewesen. „Ein himmlischer Ort für Verliebte!“ Sie hatten Glück. Die Sonne schien, das Meer bewegte sich nur träge, als wenn es viel zu anstrengend wäre, größere Wellen zu schlagen. Sie fuhren mit dem Boot zum Nordwesten der Insel, zur weltberühmten „Grotta azzurra“. Das Geheimnis dieser touristischen Attraktion besteht darin, dass das Tageslicht mit dem Meerwasser von unten in die Höhle gelangt und so reflektiert wird, das ein ganz besonderer, leuchtender blauer Farbton entsteht. Die Höhle war in der Antike ein Nymphenheiligtum, ein Nymphäum. Sie wurde 1826 von dem deutschen Schriftsteller August Kopisch wiederentdeckt. Sie mussten an der Grotte in ein kleineres Boot umsteigen. Dann glitten sie mit sanftem Schaukeln in ein beispielloses Blau. Björn hätte gern Anja ganz romantisch in den Arm genommen. Aber da war ja auch Dagmar. Und beide...nein!


Sie saßen in einem kleinen Restaurant am Hafen und bestellten frittierten Fisch. „Wann fliegt Ihr zurück?“ fragte Dagmar. Samstag um 14.10 Uhr startete der Flieger nach Düsseldorf. Dagmar flog erst Sonntag zurück. Nach dem Essen tranken sie noch Limoncello, den wunderbar-aromatischen Zitronenlikör von der Insel. „Ich habe überhaupt keine Lust, nach Düsseldorf in die Normalität zurückzukehren“, gestand Dagmar. „Jeden Tag diese Schule, dieser pädagogische Anspruch, das Werben ums Interesse bei den Schülern, die gar keinen Bock auf's Lernen haben... Das ist doch Horror! Und wenn ich an den Winter in Düsseldorf denke. Ich werde wohl oft ins Schauspielhaus gehen. Kultur gibt es ja genug in Düsseldorf. Aber so richtig heimisch geworden bin ich dort nicht.“ Diese Einschätzung hätte Björn ihr gar nicht zugetraut. „Ich hätte im Grunde auch lieber einen anderen Job“, erklärte er. „Vielleicht sollte ich Schriftsteller werden. Ich wäre aber auch gern Regisseur oder Dramaturg, zur Not auch am Düsseldorfer Schauspielhaus oder gleich in der Provinz. Aber wahrscheinlich stehen mir noch fast 30 Lehrerjahre bevor.“ Anja fand dieses Gespräch uncool: „Wenn man euch so hört... Das hört sich ja an wie in der Gruft. Wir bestellen jetzt noch eine Flasche Prosecco. Was macht eigentlich dein pädophiler Schwede?“ Dagmar musste lachen: „Das ist doch ein Netter. Ich geh heute Abend mit ihm essen!“ Am nächsten Tag fuhren sie noch einmal nach Neapel und dann mit dem Wagen zur amalfitanischen Küste. Die enge Küstenstraße zählt zu den schönsten Straßen in Europa, den Traumstraßen. Sie fuhren rauf nach Ravello zur Villa Cimbrone, von deren berühmter Parkanlage man einen überwältigenden Blick auf den Golf von Amalfi hat. Björn und Anja setzten sich auf eine Steinbank. „Das mit der Normalität in Düsseldorf, wovon Dagmar gestern sprach, macht mir Angst“, gestand Anja. „Du bist dann wieder ein blöder Pauker, Dagmar die 'alte Seibold' und ich das geile Flittchen aus gutem Hause. Wie soll das weiter gehen?“ Björn stand auf und beugte sich über die Balustrade der Aussichtsplattform. „Wir müssen zurück. Weißt du: Das Leben besteht letztlich nur aus Zufällen, aus positiven und negativen Zufällen. Das kann einen in die Depression treiben, aber auch frei machen von dieser leidigen Sinnfrage. Und das tut gut!“ Anja stand auf, lehnte sich an ihn: “Ich weiß ja nicht, was in Düsseldorf passiert. Ich möchte aber, dass wir immer gute Freunde bleiben.“ Björn lächelte: „Versprochen!“ Die Zeit verging wie im Fluge. Es war schon sieben. „Wir schaffen es heute nicht mehr nach Capri“, stellte Anja fest. Und Björn musste ihr zustimmen. Sie riefen Dagmar an und teilten mit, über Nacht in Positano zu bleiben. Dagmar war nicht traurig: „Ich hab ja meinen Schweden!“

Björn und Anja hatten eine Flasche Rotwein mit aufs Zimmer genommen und genossen den Blick auf den malerischen Ort Positano. „Morgen Abend feiern wir mit Dagmar auf Capri Abschied“, erklärte Anja. „Und dann nehmen wir Samstag das erste Schnellboot nach Neapel. Um halb fünf landen wir in Düsseldorf. Finito! Montag beginnt wieder die Schule. Acht Uhr, Deutsch mit Björn Aumann!“ Björn musste grinsen: „Da freut sich doch schon die ganze 12b drauf!“ Anja hatte eine Idee: „Du kannst ja wie in der achten Klasse einen Aufsatz schreiben lassen, 'Das schönste Ferienerlebnis' oder so. Und ich lese dann meinen Aufsatz vor...Björn, Dagmar, Amore und ein pädophiler Schwede. Was meinst du, wie gut das ankommt? Das wäre der Renner – und wir würden alle von der Schule fliegen. Herrlich!“ Aber Anja wusste, dass das nur Träumereien waren und dass von den miteinander verwobenen Beziehungen der Drei niemand in der Schule etwas wissen durfte. Björn dachte auch mit Grausen an den tristen Schulalltag. Die Schüler hatten den wenigstens nach dem Abi hinter sich. Für ihn als Lehrer ging es immer weiter. Dabei hatte er zurzeit Glück. Unter seinen Schülern waren keine Schläger, Dealer oder Faschos. Das konnte sich aber schnell ändern. Und vielleicht war ja unter den ruhigen Schülern eine tickende Zeitbombe, ein Amokläufer, der plötzlich wild um sich schießen würde. Oder unter den Lehrern ein Frauenmörder! Aber wen sollte er umbringen? Mit Frau Seibold hatte er doch längst Frieden geschlossen und das Bett geteilt. Anja hatte plötzlich Lust, ihren Vater in Kopenhagen anzurufen. Sie erzählte ihm, dass sie mit einem Freund in Italien sei und das Geld langsam knapp werde. Papa versprach eine stattliche Überweisung und machte den Vorschlag, sie solle doch mal mit ihrem Freund für ein Wochenende nach Kopenhagen kommen. „Eine super Idee“, fand Anja.

Am späten Mittag waren sie wieder auf Capri. Sie trafen Dagmar in der Hotelhalle. Sie trank Espresso und blätterte in einer deutschen Zeitung. „Schön, dass Ihr wieder da seid: Heute Abend treffen wir uns in der Bar zum großen Schlussakkord. Olaf kommt auch“, erklärte Dagmar. Es wurde noch einmal feucht-fröhlich. Olaf war spezialisiert auf Brandy, den er wie Wasser schluckte. Anja, Björn und Dagmar hielten sich eher an Prosecco. Das Ergebnis war das gleiche: Um zwei in der Früh waren sie alle knülle. Um acht mussten Anja und Björn schon im Hafen sein, gepackt hatten sie auch noch nicht. Es wurde stressig. Als sie kurz nach sieben in den Frühstücksraum kamen, wurden sie schon von Dagmar empfangen. „Ich habe zwar kaum geschlafen, aber ich habe mir vorgenommen, euch zum Hafen zu bringen.“ Björn dachte: „Sie ist doch eine tolle Frau, die Dagmar Seibold. Hoffentlich gilt das auch für die Direktorin Seibold.“ Das Wetter machte den Abschied von der Insel leicht. Der Himmel zeigte sich wolkenverhangen, es begann zu regnen, es war kalt, nur acht oder neun Grad. „Wir sehen uns ja alle am Montag in der Schule“, verabschiedete sich Dagmar und bekam von Anja und Björn einen Abschiedskuss.


In der Abflughalle herrschte reger Betrieb. An einem Imbiss-Stand kauften sie sich Pizza und tranken italienisches Bier. Björn meinte grinsend: „Die machen uns den Abschied wirklich leicht: Das miese Wetter, die pappige Pizza und diese dürftige Bier-Imitation.“ Der Flieger landete pünktlich um halb fünf in Düsseldorf. Das Wetter war hier nicht besser: Wolken, Regen, Kälte. Sie fuhren mit dem Taxi zu Anjas Wohnung. Anja packte eine Flasche Limoncello aus und legte eine CD mit napoletanischer Musik auf, die sie in Amalfi gekauft hatte. „Für die Disco bin ich heute zu müde. Ich leg mich gleich ins Bett. Aber wir könnten morgen Dagmar vom Flughafen abholen und essen gehen. Sie freut sich bestimmt!“ Björn fand das eine gute Idee. Aber vorher wollte er auch nur eins: schlafen! Er fuhr nach Hause, zog sich gar nicht erst aus, sondern legte sich, wie er war, aufs Bett und schlief sofort ein. Er träumte von Capri und der Blauen Grotte. Aber er war immer allein. Dagmar und Anja gab es nicht in diesem Traum. Damit hatte Dagmar nicht gerechnet, von Anja und Björn abgeholt zu werden. Eine echte Überraschung. Sie brachten Dagmar nach Hause. Anja staunte über die vielen Bücher in Regalen, auf dem Schreibtisch... „Apropos Bücher...“ Dagmar zog ein Buch aus ihrer Reisetasche. „Das hier war meine Reiselektüre: 'Der Frauenmorder' von Hugo Bettauer. Ein spannendes Buch. Ich leih es euch gern.“ Sie gab es Björn, der leicht zusammenzuckte. Das gezeichnete Cover zeigte ein grässliches Monster. Da hatte der Frauenmörder, der ihnen in Gaeta begegnet war, ganz anders ausgesehen. Und er selbst.... Anja erzählte die Geschichte aus Gaeta. „Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.“ Sie gingen ins Restaurant „Vecchia Roma“. Dagmar war gut gelaunt: „Es war eine schöne Reise. Ich habe mich wirklich erholt. Und dann wart Ihr da und nicht zuletzt mein Schwede. Der hat mich übrigens nach Stockholm eingeladen.“ Sie bestellten Pizza. „Jetzt war ich auf Capri und in Neapel und hab nicht einmal Pizza gegessen“, gestand Dagmar und bestellte eine „Napoli“. Beim Espresso wurde Dagmar nachdenklich: „Morgen beginnt wieder der Ernst des Lebens. Dann bin ich wieder die Frau Seibold, die Direktorin, die natürlich nichts von dem Verhältnis des Herrn Aumann mit seiner Schülerin Anja Olsen weiß. Aber ich denke, wir sind Freunde geworden und bewältigen die Probleme.“


Als Björn Anja zu Hause absetzte, nahm sie seine Hand und küsste sie. Ich werde meiner Mama berichten, wie toll Capri war und dass ich den Studenten, mit dem ich dort war, sehr mag!“ Sie stieg aus, und Björn musste sich eingestehen, dass er verliebt war in Anja!


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