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Kapitel VI

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Björn wollte sich die schöne Erinnerung an Italien bewahren und startete in der 12b mit Goethes „Italienischer Reise“. Es gab zwar Gegenwind. „Den alten Sack haben wir doch längst abgehakt“, rief Jonas aus der letzten Reihe. Aber Björn schlug schnell den Bogen zur Gegenwart: „Heute ist man mit dem Flieger in gut zwei Stunden in Italien. Goethe brauchte mit Pferd und Wagen mehrere Wochen. Es gab noch keinen Fotoapparat, Goethe griff zum Zeichenblock. Aber die Faszination, die Italien und das Mediterrane auf uns Deutsche ausüben, ist unverändert groß. Wir könnten versuchen, in Goethes Text dafür einen Schlüssel zu finden. Wer von euch war denn schon mal in Italien?“ Mehr als die Hälfte der Klasse. Nicht alle waren begeistert von Italien. „Ich mag diese Macho-Typen nicht “, erklärte Silvia. Daniel war es in Italien einfach zu dreckig. Und Kurt meinte: „In Italien kann man sich auf nichts und niemand verlassen.“ Es wurden zwei interessante Schulstunden mit reichlich Diskussionsstoff. Anja hielt sich allerdings zurück. Ihr einziger Kommentar: „Amore klingt eben viel viel romantischer als Liebe. Und Espresso schmeckt besser als Kaffee!“

Dagmar traf Björn erst in der Pause – im vollen Lehrerzimmer. „Na, Herr Aumann, ich habe gehört, Sie waren in Italien. Haben Sie sich gut erholt?“ Sie mussten beide grinsen. Björn ließ die Frage unbeantwortet. An Abend saß Björn allein in seiner Single-Bude, trank italienischen Rotwein und ließ die letzte Woche noch einmal Revue passieren. Italien, Capri, Anja und Dagmar... Es war eine schöne Woche gewesen. Aber wie würde es weiter gehen? Ja, er war verliebt in Anja. Aber auch für Dagmar empfand er mehr als nur Sympathie. Das könnte schnell kompliziert werden... Die Flasche war inzwischen leer, Björn legte sich ins Bett. Die nächsten Tage waren wenig ereignisreich. Es begann schon, ihn zu irritieren. Am Donnerstag fing ihn Anja im Schulflur ab: „Ich hab eine Einladung für dich. Mama möchte morgen Abend mit dir essen gehen, um sieben beim Spanier in der Wibbelgasse. Ich hab ihr das mit uns erzählt.“ Björn wurde unsicher. Anja lachte: „Keine Angst, sie will dir nicht ins Gewissen reden. Sie will dich nur einfach kennen lernen. Also um sieben. Ich komm dann um acht dazu.“


Björn fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, als er zum Spanier ging. Anjas Mutter würde bestimmt ungehalten sein, ihm Vorwürfe machen. Frau Olsen hatte einen schönen Tisch reservieren lassen und begrüßte Björn mit einem gewinnenden Lächeln. Sie war eine attraktive Frau, Ende 40, kurze blonde Haare, ein schlankes Gesicht mit schmalen Lippen und dunkelbraunen Augen. „Sie sind also der junge Student...Nein, ich weiß natürlich, Sie sind Anjas Lehrer. Ich habe nichts gegen diese Beziehung. Zudem ist Anja volljährig. Und der Altersunterschied.... Ich schätze Sie auf Anfang dreißig. Anja hätte mir auch einen 50-Jährigen präsentieren können. Wäre ich auch nicht überrascht. Aber ich muss Sie warnen: Anja ist sehr sprunghaft. Sie wird irgendwann zu Ihnen kommen und sagen: 'Das wars'. Mach's gut!' Das kann heute sein, morgen, nächste Woche oder in einem Monat. Und dann sollte es nicht tragisch werden. Tragödien sind nicht Anjas Fach. Anja ist Komödiantin, Entertainerin, mag Nonsens und Klamauk. Sie sollten es dann auch nicht tragisch nehmen.“ Sie lachte: „Nicht dass Sie dann zum Frauenmörder werden.“ Björn konnte darüber nicht lachen und versuchte sich auf seine Fischplatte zu konzentrieren. Um acht ließ sich Anja blicken. „Na, hat dir Mama erzählt, dass ich ein kleines egoistisches Luder bin?“ Jetzt konnte auch Björn wieder lachen. Nach dem Date mit Mama wollte Anja unbedingt Björns Wohnung kennenlernen. „Du wohnst doch hier in der Nähe.“ Björn wollte nicht. „Lass uns doch lieber zu dir fahren.“ Anja ließ aber nicht locker: „Was sind das denn für Heimlichkeiten? Liegen bei dir etwa ein paar Frauenleichen herum, oder hast du zu Hause Frau und Kind sitzen?“ Björn gab sich geschlagen, allein schon, um zu zeigen, dass er kein Frauenmörder war.

Anja kam aus dem Staunen nicht heraus. „Du lebst ja in einer Buchhandlung, einer chaotischen Buchhandlung“, stellte sie fest. „Und diese Staubschicht... Ist die gewollt?“ Björn suchte zwei saubere Tassen und warf die Espresso-Maschine an. „Schmeckt zwar nicht wie in Italien, nennt sich aber auch Espresso“, warnte er. Anja sah sich weiter in der Wohnung um, ging ins Schlafzimmer. „Das Bett macht aber keinen stabilen Eindruck“, meinte sie. „Ich glaube, wir fahren nachher lieber zu mir.“ Aber erst mal gab's den Espresso und Björn legte eine Blues-CD auf. Anja griff sich ein Buch, dass neben dem Sessel auf dem Boden lag: „Oh, das ist ja Hitlers 'Mein Kampf'. Bist du ein Fascho?“ Björn winkte ab: „Ich bin Historiker!“ Anja war beeindruckt: „Was man da so alles lesen muss!“ Björn nahm ihr das Buch aus der Hand: „Komm, wir fahren zu dir!“


In der Pause rief Direktorin Seibold Björn in ihr Büro. „Was machen wir am Wochenende?“ Björn hatte noch nicht darüber nachgedacht. Anja hatte von Disco gesprochen, aber es war noch alles offen. „Sag mal: Was glaubst du, wie lange kannst du dein Verhältnis mit Anja Geheim halten? Ich hab gesehen, wie du sie vorhin auf dem Parkplatz abgesetzt hast. Sicher ein Zufall. Aber solche Zufälle gibt es viele. Und dann? Gut, sie ist volljährig, die Eltern können nichts wollen. Aber so eine Affäre ist nicht gut für den Ruf der Schule. Wir sind hier in der Landeshauptstadt eine der ersten Adressen.“ Björn fühlte sich provoziert: „Und ein Verhältnis zwischen Lehrer und Direktorin?“ Dagmar lächelte: „Das muss nicht rufschädigend sein, wenn man sich offen dazu bekennt.“ Björn erinnerte sich an ihre Äußerung auf Capri, zu Hause würden die Karten neu gemischt. Und er entschied spontan, dass er das Wochenende allein, ohne Anja und ohne Dagmar verbringen werde. Er fuhr nicht nach Hause, sondern in seine Buchhandlung, wo man ganz ungestört in den Neuerscheinungen stöbern konnte. Sein Handy hatte er ausgeschaltet. Er war nicht zu erreichen. Danach ging er beim Griechen essen, kam erst um zehn nach Hause. Auf dem Anrufbeantworter hörte er Anja: „Ich kann dich nicht erreichen. Ich geh jetzt allein in die Disco. Irgendjemand wird sich da schon um mich kümmern. Ruf mich morgen bitte nicht an. Entweder bin ich beschäftigt oder müde – oder beides. Ciao!“ Björn machte sich Vorwürfe. Anja würde sich jetzt irgendeinem Typen anlachen für einen One-Night-Stand, und das war seine Schuld. Da half nur Alkohol. Im Kühlschrank lag noch eine Flasche Wodka.


Björn wachte erst um zehn auf, schlief wieder ein... Am Nachmittag um fünf stand er endlich auf – das Telefon klingelte. Anja!. „Was ist los mit dir. Warst du bei Dagmar oder bist du anderswo versackt? Wenn du willst, kannst du ja um sieben mal vorbei kommen.“ Björn freute sich, Anja zu hören. Anja berichtete, dass sie in der Disco ein paar alte Bekannte getroffen habe. „Auch den Axel Weber aus Baumberg. Mit dem war ich zwei Monate zusammen, mit 16. Dann hat er ein 1,0-Abi gemacht. Seitdem ist er nur noch ein arroganter Affe. Heute Morgen um vier bin ich nach Hause gekommen. Und was hast du gemacht?“ Björn erzählte: Buchhandlung, Essen beim Griechen, Wodka, Bett. „Hoffentlich hat es dir Spaß gemacht“, reagierte Anja ironisch.


Am Montagmorgen begann der Unterricht ohne Dagmar Seibold. Sie ließ nichts von sich hören. Am frühen Mittag tauchten aber zwei Kripo-Beamte in der Schule auf: Oberkommissar Müller und sein Kollege Koch. Sie meldeten sich im Sekretariat und machten der Sekretärin die schockierende Mitteilung, Frau Seibold sei an frühen Morgen auf einem Parkplatz im Grafenberger Wald tot aufgefunden worden. Ermordet! Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Frau Seibolds Stellvertreter Gregor Kamann ließ die Schüler nach Hause schicken und bat alle Kollegen ins Lehrerzimmer. Alle wurden von der Kripo verhört. „Wissen Sie etwas über das Privatleben von Frau Seibold?“, wollte der Oberkommissar wissen. Björn blieb ruhig: „Nein!“ Kommissar Koch zog zwei Fotos aus der Tasche: „Schauen Sie mal, Herr Aumann. Das sind Fotos von einer CD, die wir in der Wohnung von Frau Seibold gefunden haben. 'Italien 2009' stand auf der Hülle. Wer ist dieser ältere Herr neben Frau Seibold? Und wer ist der Mann auf dem anderen Foto?“ Daran hatte Björn gar nicht mehr gedacht. Sie hatten ja mit Dagmars Kamera ein paar Fotos geschossen. „Der ältere Herr ist ein Buchhändler aus Stockholm. Und der andere... Das bin wohl ich!“ Der Oberkommissar grinste: „Sie haben eine gute Beobachtungsgabe. Aber jetzt erzählen Sie mal...“ Björn berichtete, er habe mit einer Bekannten in den Herbstferien auf Capri Urlaub gemacht und dort zufällig Frau Seibold getroffen. „Der schwedische Buchhändler war eine Urlaubsbekanntschaft von Frau Seibold.“ Der Kommissar präsentierte noch ein Foto. „Diese junge Frau hier, ist das Ihre Bekannte?“ Björn nickte. Der Oberkommissar schmunzelte: „Ziemlich jung, Ihre Bekannte. Ich hoffe sie ist schon volljährig. Noch eine Frage: Wo haben Sie sich letzte Nacht aufgehalten?“ Björn antwortete ohne zu zögern. „Bis halb zwei war ich bei meiner Bekannten. Dann bin ich nach Hause gefahren und hab mich ins Bett gelegt.“ Die Kommissare ließen sich Anjas Adresse geben und Björn konnte das Direktionsbüro wieder verlassen. Im Lehrerzimmer herrschte Aufregung. Frau Seibold ermordet... Das konnte keiner so recht fassen. „Das war sicher ein Lustmord“, meinte Lateinlehrerin Hansen. Sportlehrer Cramer verstieg sich zu der Annahme, Frau Seibold habe bestimmt einen Geliebten gehabt. „Und was meinst du, Björn?“ wollte er wissen. Björn wurde verlegen: „Weiß nicht. Vielleicht war es ja auch ein Raubmord.“ Die Sekretärin hatte einen anderen Verdacht: „Da ist bestimmt so ein perverser Frauenmörder unterwegs!“ Björn meldete sich sofort bei Anja, die immer noch geschockt war. „Ich komme zu dir. Du wirst aber auch von der Kripo Besuch bekommen. Sie kennen die Capri- Geschichte. Ich musste sie erzählen, weil sie mir die Fotos gezeigt haben. Sie wissen aber nicht, dass ich engeren Kontakt zu Dagmar hatte.“


Als Björn bei Anja eintraf, hatte sich die Kripo noch nicht gemeldet. Anja hatte verweinte Augen und fiel Björn um den Hals: „Wer tut nur so was Schreckliches? Ich habe Angst. Mir könnte so was doch auch passieren.“ Björn setzte sich. „Ich bin auch sprachlos. Ich finde keine Erklärung.“ Anja hatte sich in die Couchecke gekauert: „Der Capri-Urlaub war so schön. Aber wenn ich jetzt daran denke, kommen mir die Tränen.“ Es klingelte, die beiden Kommissare standen vor der Tür. Anja bat sie rein. „Ach, da treffen wir ja auch unseren Herrn Aumann. Wir haben ein paar Fragen an Sie. Herr Aumann geht mit dem Kollegen Koch ins Nebenzimmer. Dann können wir uns ganz ungestört miteinander unterhalten.“Kommissar Koch und Björn gingen in die Küche. „Frau Olsen, Sie waren mit Herrn Aumann auf Capri und haben dort Frau Seibold getroffen. Nun sind Sie ja nicht nur, wie wir erfahren haben, Herrn Aumanns Schülerin, sondern auch seine Freundin. Und Frau Seibold war die Schulleiterin. Eine, sagen wir, außergewöhnliche Konstellation. Gab es da keine Probleme?“ Anja hatte sich wieder gefangen: „Ich weiß nicht, was Sie wollen. Ich bin volljährig und Björn ist mein Freund. Frau Seibold war auf Capri ganz locker. Über die Schule hat sie nicht gesprochen. War kein Thema.“ Der Oberkommissar zeigte sich schon etwas beeindruckt von der prompten Antwort. „Und dieser Schwede?“ Anja stand auf: „Eine Urlaubsbekanntschaft. Ein schwedischer Buchhändler. Aber die beiden hatten nichts miteinander. Der war schwul!“ Oberkommissar Müller sah sich um: „Sie haben eine schicke Wohnung. Wer bezahlt die?“ Anja konnte jetzt sogar wieder lachen: „Mein Papa!“ Und jetzt wollte der Oberkommissar natürlich auch wissen, was sie in der vergangenen Nacht gemach habe. „Björn war hier bis etwa halb zwei. Dann hab ich geschlafen“, antwortete Anja, hatte nun aber auch eine Frage. „Was ist denn genau passiert mit Frau Seibold?“ Müller steckte seinen Notizblock in die Tasche: „Wir ermitteln.“ Koch und Björn kamen wieder zurück ins Wohnzimmer. „Frau Seibold ist heute Morgen kurz nach sechs von einem Jogger gefunden worden, auf dem Parkplatz an der Rennbahn in Grafenberg. Erste Ermittlungen haben ergeben, dass sie erdrosselt wurde, wohl mit einem Schal. Nicht auf dem Parkplatz. Die Leiche ist dort nur abgelegt worden. Wir unterrichten jetzt die Verwandten in Wolfsburg, untersuchen die Wohnung, das Auto, warten auf den Bericht des Gerichtsmediziners. Nach einem Sexualverbrechen sieht es nicht aus. Auch nicht nach Raubmord. Wir stehen noch am Anfang der Ermittlungen.“ Müllers Blick fiel auf ein Buch, dass auf der Couch lag. „Interessant: 'Der Frauenmörder', sicher ein spannendes Buch.“ Anja erklärte: „Dagmars Reiselektüre.“ Müller war überrascht: „Sie duzten sich, die Schulleiterin und die Schülerin?“ Anja fand: eine blöde Frage. „Ich hab doch schon gesagt, es ging ganz locker zu.“ Koch schaltete sich ein: „In der Schule wusste aber niemand etwas von diesen Beziehungen. Da ging alles förmlich zu.“ Anja verstand diesen Einwand nicht: „Na und?“ Die beiden Kommissare verabschiedeten sich. Anja holte den Limoncello aus der Küche. „Ich finde diese Kripo-Typen zum Kotzen. Die blöde Fragerei. Als wenn ich was mit dem Mord an der Seibold zu tun haben könnte – nur, weil ich Frau Direktor geduzt habe.“ Björn dachte an etwas anderes. „Wenn die Kripo auch den Kollegen die Fotos gezeigt hat, bekomme ich Schwierigkeiten.“ Anja winkte ab: „Und wenn... Was soll schon passieren? Gerede, Gerede, Gerede! Der Ruf der Schule ist jetzt durch den Mord ohnehin ramponiert. Das tolle Gymnasium hat eben ein paar Kratzer bekommen. Eine Schulleiterin, die sich umbringen lässt. Was sind das nur für Zustände in dieser Stadt von Albert Heine?“ Björn zuckte zusammen: „Heinrich...Heinrich Heine!“


Am nächsten Morgen stand es in allen Zeitungen: „Schulleiterin ermordet“. Als Björn ins Lehrerzimmer kam, lag ein Stapel Zeitungen auf dem Tisch. Kamann rief Björn ins Direktionsbüro: „Du weißt, dass ich dich als Kollege und Pädagoge sehr schätze. Aber diese Geschichte mit der Anja Olsen, dass muss doch nicht sein. Sicher, sie ist volljährig. Aber ein solches Verhältnis wirft kein gutes Licht auf die Schule.“ Björn fühlte sich angegriffen: „Richtig: Sie ist volljährig und ich noch nicht im Seniorenalter. Und dass sie meine Schülerin ist... Es muss doch nicht jeder von dem Verhältnis wissen.“ Kamann nickte: „Eben! Durch diese Mordgeschichte bleibt die Sache aber nicht unter der Decke. Nachdem die Kripo hier überall die Fotos herum gezeigt hat, wissen zumindest alle Kollegen Bescheid. Und morgen steht es vielleicht schon in der Zeitung. Überleg dir das mal. Du wirst ja nicht in sie verliebt sein!“ Björn log: „Natürlich nicht!“ Die Schüler waren immer noch schockiert. Kamann hatte Björn vorgeschlagen, im Deutschunterricht die verschiedenen Zeitungsartikel über den Mord zu analysieren. Eine bestialische Idee, fand Björn. Aber er machte es. Und die Schüler waren echt bei der Sache. Sogar Anja interessierte sich. In der Pause tauchte ein etwas heruntergekommen wirkender Typ in der Schule auf, im Schlepptau ein Fotograf, Journalisten einer Boulevardzeitung. Sie sprachen Schüler an, wollten wissen, wie die Schulleiterin so gewesen sei und was sie über den Mord dächten. Kamann schritt sofort ein: „So geht das nicht, meine Herren. Sie können nicht einfach hier die Schüler interviewen. Kommen Sie mit ins Büro, wenn Sie Fragen haben. Aber keine Fotos!“ Martin Reinbacher war ein bekannter Boulevard-Reporter. Spezialität: Kriminalfälle. Er war 28 Jahre alt und hatte sein Jurastudium abgebrochen, war bei der Zeitung gelandet. Zuerst beim Sport, dann in der Lokalredaktion. Er galt als skrupellos. „Diese Frau Seibold, war die eigentlich mit jemand hier aus der Schule befreundet, hatte die einen Lover?“ ging Reinbacher gleich in die Vollen. Kamann war empört: „Ich habe nicht vor, solche Fragen zu beantworten!“ Reinbacher grinste frech: „War sie denn bei den Schülern beliebt? Oder ist diese Frage auch zu intim?“ Kamann wurde ungehalten. „Mir gefällt dieses Gespräch nicht, muss ich Ihnen sagen. Ja, sie war beliebt bei den Schülern und bei den Kollegen. Reicht das?“ Reinbacher liebte solche verbalen Rangeleien. „Nicht ganz. Ich habe ein Foto gesehen: Diese Seibold war doch eine attraktive Frau, Single... Hat sie hier nicht doch jemand gehabt, der …....?“ Kamann stand auf: „Nein?“ Reinbacher ließ sich nicht von seinem Weg abbringen: „Auf einem Foto war so eine dralle Blondine, ein junges Ding. Kennen Sie die?“ Kamann ging zur Tür: „Ich weiß nicht, von welchen Fotos Sie sprechen. Aber ich habe jetzt keine Zeit mehr...“ Reinbacher fragte draußen ein paar Schüler nach der Blondine und erfuhr schnell, dass es Anja Olsen aus der 12b sein musste. Inzwischen setzte sich die Düsseldorfer Kripo mit den Stockholmer Kollegen in Verbindung. Die hatten den Buchhändler schnell ausfindig gemacht und verhörten ihn. Er hatte ein einwandfreies Alibi. Er berichtete aber, dass Dagmar ihm erzählt habe, mit diesem Lehrer, diesem Björn sei etwas gelaufen, der sei jetzt aber mit Anja, einer Schülerin, zusammen. „Der Berichts aus Stockholm ist wirklich interessant“, stellte Oberkommissar Müller bei der Lektüre fest. „Da müssen wir uns diesen Lehrer mal was genauer anschauen.“

Als es am späten Nachmittag an der Wohnungstür klingelte, ahnte Björn nichts Schlimmes, und er war überrascht, dass die Kripo noch Fragen hatte. „Herr Aumann, wie war Ihr Verhältnis zu Frau Seibold? War das rein beruflich?“ wollte der Oberkommissar wissen. Björn antwortete arglos: „Ja, natürlich!“ Schon schnappte die Falle zu. „Wir haben da ganz andere Informationen. Sie hatten eine Affäre mit ihr!“ Björn regte sich auf:„Wer behauptet das?“ Kommissar Koch ließ sich nicht darauf ein: „Das tut nichts zur Sache. Warum leugnen Sie es?“ Björn sah sich in die Ecke gedrängt. „Also: ja oder nein?“ blieb der Oberkommissar hartnäckig. Björn stand gestresst auf: „Gut, ich hatte eine Affäre mit ihr. Und was bedeutet das jetzt? Stehe ich jetzt unter Mordverdacht?“ Kommissar Koch versuchte Björn zu beruhigen: „Verdächtig ist für uns erst mal jeder. Wir werden natürlich immer stutzig, wenn man uns anlügt. Von wann bis wann ging denn diese Affäre?“ Eine schwierige Frage: „ Zwei oder drei Wochen. Bis zu den Herbstferien.“ Müller überlegte: „Bis zu den Herbstferien... Und die Geschichte mit Anja Olsen?“ Björns Puls begann zu rasen: „Ja, das fing irgendwann vor den Ferien an.“ Müller hatte jetzt eine Spur gefunden: „Sie hatten also zumindest eine gewisse Zeit lang etwas mit beiden. Und das soll ohne Probleme abgegangen sein? Frau Seibold ist zwischen zwei und fünf Uhr umgebracht worden, wie der Rechtsmediziner festgestellt hat. Sie haben für diese Zeit kein Alibi. Ich denke, wir zeigen ihnen gleich mal unseren Erkennungsdienst im Polizeipräsidium, nehmen ein paar Fingerabdrücke und eine Speichelprobe - und dann können Sie erst mal wieder nach Hause fahren. Wir bringen Sie auch gern. Kein Problem!“ So wurde Björn im Polizeipräsidium erkennungsdienstlich behandelt.


Björn rief Anja an, sie solle sofort kommen. Anja war überrascht, dass Björn sie in seine Chaoten-Bude einlud. „Fingerabdrücke, Speichelprobe, das hört sich ja spannend an“, meinte sie, als sie mit Björn am Tisch saß. Aber Björn empfand das Ganze nur als unangenehm. „Und jetzt bin ich auch noch tatverdächtig.“ Anja blieb ruhig: „Solange so was nicht in der Zeitung steht!“ Aber am nächsten Morgen stand etwas in der Zeitung. Reinbacher hatte wieder mal zugeschlagen. Es handle sich wohl um eine Beziehungstat nach einer Italienreise. Die Polizei ermittle verstärkt im persönlichen Umfeld von Dagmar S. „Hatte Sie einen Liebhaber? Zu den Tatverdächtigen zähle auch ein Lehrerkollege, der mit einer Schülerin liiert sei. Diese Berichterstattung regte natürlich die Phantasie der Schüler und auch der Kollegen an. Die Italienreise, Frau Seibold, Björn und Anja, das verdichtete sich. Die Schüler der 12b hatten ohnehin längst mitbekommen, dass zwischen Anja und Björn was lief. Anja war befreundet mit Gudrun List. Sie hatte ihr gegenüber Andeutungen gemacht. Und wie es dann so ist... Journalist Reinbacher fing Anja vor der Schule ab. „Was war das denn für eine seltsame Italienreise? Hat es da Zoff gegeben?“ Anja reagierte cool: „Verpiss dich! Lass mich in Ruhe!“ Reinbacher fand das klasse: „Alle Achtung! Hier ist meine Karte. Ruf mich mal an!“ Im Polizeipräsidium sprach Oberkommissar Müller mit dem Kollegen Koch den Fall durch. „Nehmen wir das Umfeld. Diese Anja Olsen wird es nicht gewesen sein. Jemanden offensichtlich mit einem Zugreifen zu töten, erfordert schon einiges an Kraft. Zudem hat sie kein Auto. Der Schwede hat ein lupenreines Alibi. Bleibt dieser Lehrer. Ein seltsamer Typ. Er hat kein Alibi, aber ein Auto. Das werden wir uns mal genauer ansehen.“ Der Kollege hatte aber noch eine Variante: „Vielleicht waren es Lehrer und Schülerin gemeinsam.“


Anja und Björn saßen beim Italiener. „Komisch, nein gespenstisch... Unser Andenken an Dagmar ist das Buch 'Der Frauenmörder'“, stellte Anja fest. Auch Björn fand das unheimlich.


Dagmar Seibold sollte in Wolfsburg beigesetzt werden. Dort lebte ihre Familie. Kamann fuhr zur Beerdigung. Björns Auto wurde von der Spurensicherung auseinander genommen – ohne Erfolg. Oberkommissar Müller schwenkte auf eine andere Linie um: „Ich glaube nicht mehr, dass der Täter aus dem direkten Umfeld kommt. Wenn mir auch dieser Lehrer mit seiner Schülerin nicht geheuer ist. Vielleicht war es ein Psychopath. Vielleicht ja ein ehemaliger Schüler. Solche Racheakte hat es schon oft gegeben.“ Der Oberkommissar fuhr zu Kamann in die Schule. Kamann überlegte: „Wer könnte da in Frage kommen? Wir hatten hier bislang wenig Stress mit Schülern, glücklicherweise. Mir fallen nur zwei Schüler ein. Ingo...den Nachnamen habe ich vergessen. Es war vor vier Jahren. Er hat auf dem Schulhof Pillen verkauft. Sein Vater war Kommunalpolitiker, saß hier im Rathaus. Er hat den Jungen sofort von der Schule genommen und wir haben auf eine Anzeige verzichtet. Und dann der Fall Auerbach, vor etwa sechs Jahren. Hajo Auerbach, ein intelligenter, aber etwas verschlossener Junge. Der war plötzlich verliebt in eine schon etwas ältere Lehrerin, Lisa Fischer. Er hat ihr nachgestellt, heute würde man sagen: ein Stalker. Frau Fischer, die ist seit zwei Jahren nicht mehr im Dienst, hat sich an Frau Seibold gewandt, die gerade ein paar Wochen Direktorin war. Und Frau Seibold hat schnell reagiert und den Hajo rausgeworfen. Seine Eltern haben dagegen bei der Aufsichtsbehörde erfolglos protestiert.“ Dieser Hajo Auerbach... Oberkommissar Müller ließ sich die Adresse der Eltern geben. Hajo Auerbach, inzwischen 24 Jahre alt und verheiratet, hatte zwei Kinder, Zwillinge. Beruf: Bankkaufmann in Krefeld, er wohnte aber in Düsseldorf-Gerresheim. Der Oberkommissar hatte mit dem Vater gesprochen, der sehr ungehalten reagierte: „Das war damals eine Jugendsünde, Spinnerei. Heute hat mein Sohn einen guten Job, Familie. Es ist alles im Lot. Und jetzt wollen Sie das mit einem Mordfall in Verbindung bringen. Wissen Sie: Sie müssten mich verdächtigen. Ich hab dieser arroganten Direktorin nur das Schlechteste gewünscht. Sie wollte sich profilieren, Stärke zeigen... Sie hätte versuchen sollen, Hajo zu helfen, anstatt ihn rauszuwerfen.“


Am Abend fuhren Müller und Koch nach Gerresheim. Die Auerbachs wohnten in einer schicken Eigentumswohnung. Hajo Auerbach war überrascht: „Was wollen Sie? Ich hab keine Bank überfallen, ich arbeite dort. Aber Sie sagten, Sie seien von der Mordkommission...“ Die beiden Kommissare setzten sich. „Meine Frau ist mit unseren Jungs noch unterwegs“, erklärte Auerbach. „Herr Auerbach, in der Nacht von Sonntag auf Montag ist eine Dagmar Seibold umgebracht worden. Sie haben diese Frau Seibold gekannt.“ Auerbach schüttelte den Kopf: „Gekannt... Das ist doch die arrogante Schulleiterin....“ Kommissar Koch erläuterte: „Wir haben von dieser für Sie unschönen Geschichte erfahren, die sich vor Jahren abgespielt hat.“ Auerbach stand auf und musste sich beherrschen: „Soll ich diese unfähige Pädagogin umgebracht haben? Sicher, sie hätte mein Leben ruinieren können. Aber sie hat es nicht geschafft. Ich hab ein erstklassiges Abitur gebaut, eine Banklehre gemacht und lebe in soliden Verhältnissen. Also: Warum sollte ich sie umbringen?“ Müller blieb unbeeindruckt: „Wo waren Sie denn in der Nacht zu Montag?“ Auerbach setzte sich wieder: „Ich war am Wochenende bei Bekannten in Brüssel, allein. Ich bin erst um vier oder fünf am Morgen hier gewesen. Ich hab diese Woche Urlaub, Resturlaub.“ Koch wollte wissen, ob er mit dem Wagen unterwegs gewesen sei. „Ja, mit dem großen, dem BMW. Der ist jetzt aber in der Inspektion, in der Werkstatt. So was kann ich nur im Urlaub machen.“ Müller ließ sich die Adresse der Werkstatt geben. „Wann haben Sie eigentlich Frau Seibold das letzte Mal gesehen?“ Auerbach grinste: „Vor zwei Jahren etwa – auf dem Weihnachtsmarkt in der Altstadt. Da war Weihnachten für mich gelaufen! Sie hat mich aber nicht gesehen, war in Begleitung.“ Müller stand auf: „Wissen Sie, ich habe den Eindruck, dass Sie diese Geschichte immer noch belastet. Wir werden uns jetzt Ihren Wagen ansehen. Und dann wäre es schön, wenn Sie uns morgen Vormittag im Präsidium besuchten. Wir hätten nämlich noch gern Ihre Fingerabdrücke und eine Speichelprobe. Sie haben ja Urlaub!“ Auf der Rückfahrt zum Präsidium zeigte sich Müller zufrieden: „Das wär doch ein schöner Mörder. Die Spurensicherung soll sich morgen früh um sieben gleich um den Wagen kümmern. Und wenn der Auerbach morgen kommt, kratzen wir noch was an ihm. Ich bin davon überzeugt, dass der immer noch Probleme hat mit der alten Geschichte.“


Björn fühlte sich zunehmend unwohl in der Beziehung mit Anja. Die Dreierbeziehung hatte etwas Offenes gehabt. Jetzt, zu zweit, war er irgendwie an Anja gekettet. Angst? Ihn störte auch, dass inzwischen alle Schüler von dem Verhältnis wussten. Vor allem, dass es Max Umbach aus der 13a wusste. Der junge Mann war unsterblich in Anja verliebt. Sie hatte ihn aber immer wieder abblitzen lassen. Und jetzt musste er erfahren, dass sie mit diesem Pauker ins Bett ging. Max Umbach wollte sich rächen. Und er kam auf eine perfide Idee: Er behauptete überall, Björn Aumann habe auch ein Verhältnis mit der Schulleiterin gehabt. Und Anja schrieb er: „Verlass doch diesen schwanzgesteuerten Möchtegernpädagogen.“ Anja zeigte Björn den Brief. Björn war bestürzt, nicht wegen der Diffamierung, sondern weil dieser Max in Sachen Direktorin ja Recht hatte. „Wenn das weiter die Runde macht, kann ich mich doch in der Schule nicht mehr sehen lassen“, prophezeite er. Vorher stand es aber noch in der Zeitung. Denn irgendjemand hatte es Reinbacher gesteckt. Und der sprach dann davon, dass der Fall kurz vor der Aufklärung stehe, nachdem sich herausgestellt habe, das Dagmar S. ein Verhältnis mit dem tatverdächtigen Kollegen gehabt habe.


„Sieh dir das an“, war Oberkommissar Müller überrascht. „Dieser Reinbacher ist ein Arschloch. Aber er hat es rausgekriegt. Das muss ihm jemand gesagt haben. Aber wer? Hier aus dem Haus? Oder spielt noch jemand mit, den wir nicht auf der Rechnung haben?“ Auch Hajo Auerbach hatte Reinbachers Artikel gelesen. „Da sehen Sie doch, was die Seibold für eine Person war. Ein Verhältnis mit einem Lehrer-Kollegen. Der hat sie umgebracht. Die sind da doch alle pervers, diese Lehrer!“ Kommissar Koch bot Auerbach einen Kaffee an. „Wir ermitteln in alle Richtungen. Von dem Lehrer haben wir schon die Fingerabdrücke und eine Speichelprobe. Jetzt sind Sie dran. Tut nicht weh! Ihr Wagen steht übrigens inzwischen hier auf dem Hof und wird untersucht. Wir rufen Sie an, wenn er wieder frei gegeben wird.“ Auerbach war sauer: „Sie verschwenden nur Ihre Zeit. Kümmern Sie sich lieber um den Lehrer.“


Kamann bestellte Björn erneut ins Direktionszimmer. „So langsam gerät unsere Schule ziemlich in Verruf. Du hattest ein Verhältnis mit der Seibold?“ Björn nickte kurz. „Wusste Anja das?“ Björn nickte nochmal. „Du bist also unser heimlich stiller Casanova, aber heimlich ist ja vorbei. Jetzt wissen es hier alle.“ Björn fand die Sprache wieder und berichtete von dem Brief an Anja. „Ich weiß nicht, ob Umbach wirklich was mitbekommen hat. Vielleicht ist es nur ein Glückstreffer. Aber eben ein Treffer“. Kamann war genervt: „Das Klima an der Schule hat sich durch diese ganzen Geschichten extrem verschlechtert. Wir können nur hoffen, dass endlich der Mörder gefasst wird, und der nicht aus unserem Hause kommt. Die Polizei wird sich um Hajo Auerbach kümmern. Der ist ja von Seibold rausgeworfen worden. Da war Seibold gerade ein paar Wochen im Amt. Vielleicht hat er sich ja gerächt. Er war schon ein seltsamer Vogel. Aber noch mal zu deiner Freundin. Wie soll das denn jetzt weiter gehen. Sei mir nicht böse: Am besten wäre es, wenn du dich versetzen ließest. Hier bist du jetzt der unscheinbar wirkende Frauenheld, der alle platt macht. Und wenn jetzt auch noch solche Eifersuchtsgeschichten kommen wie mit dem Umbach, ist der Schulfrieden stark beeinträchtigt. Oder mach Schluss mit Anja. Aber wer weiß, was die dann anrichtet. Und die Kollegen? Die Lindner meinte vorhin im Lehrerzimmer: „Der Björn war mir noch nie geheuer. Wenn der einen anguckt, fühlt man sich wie ausgezogen'. Noch was anderes: Ich werde die Schulleiter-Position übernehmen. Und am Montag kommt eine neue Französischlehrerin. Sie hat erst zwei Jahre Berufspraxis, war in Koblenz am Gymnasium, hat in Hamburg und Toulouse studiert und ist in Köln aufgewachsen. Sie war gestern hier, eine attraktive junge Frau. Single. Aber tu mit einen Gefallen: Lass sie in Ruhe!“ Björn verstand die Welt nicht mehr. Er galt jetzt als Casanova, Finger weg von der neuen Kollegin... Das war er doch gar nicht! Und sich versetzen lassen... Warum?


Auerbachs Auto, das ergaben die Ermittlungen, war zwar am Tattag in die Werkstatt gegeben worden. Der Auftrag für die Inspektion war aber zehn Tage zuvor erteilt worden. Und die Untersuchung der Spurensicherung ergab auch nichts Verwertbares. „Der Auerbach scheidet als Täter wohl aus“, resümierte der Oberkommissar enttäuscht.


„Lass uns am Wochenende irgendwo hin fahren“, schlug Anja vor. „Ich muss weg. Die Woche mit all den Turbulenzen war einfach zu viel.“ Samstagmorgen fuhren sie nach Vlissingen ans Meer. Das Wetter war wieder mal schlecht, es goss in Strömen. Das störte die beiden aber nicht. Sie wollten nur einfach raus aus Düsseldorf. Am Abend saßen sie beim Chinesen. „In Holland soll es ja die besten chinesischen Restaurants von ganz Europa geben“, erklärte Anja. Selbst im Londoner Chinesenviertel würde man nicht besser essen. Aber dann wurde doch wieder über den Mordfall gesprochen. „Vielleicht hat Dagmar ein Doppelleben geführt, hatte Kontakt zu irgendwelchen zwielichtigen Gestalten“, meinte Anja. Björn glaubte das nicht. „Ich denke, es war irgendein Perverser, eben ein echter Frauenmörder.“ Björn berichtete, dass am Montag eine neue Französischlehrerin komme, eine junge Kollegin aus Koblenz. Anja lachte. „Jung und französisch. Das ist doch was für unseren Schulcasanova.“ Björn fand das überhaupt nicht komisch.


Oberkommissar Müller entschloss sich, noch einmal die Spurensicherung einzusetzen. Noch einmal wurde Dagmar Seibolds Wohnung, die noch nicht aufgelöst worden war, unter die Lupe genommen. Mit Erfolg. Denn beim ersten Mal war offensichtlich etwas übersehen worden. Im Papierkorb lag zerknülltes Papier, Einwickelpapier eines Blumenladens im Düsseldorfer Flughafen, wie der Aufdruck verriet. Und auf dem Couchtisch stand noch die Vase mit den Überresten von zehn roten Rosen. „Dann sagen wir mal, Frau Seibold hatte Besuch von jemand, der mit dem Flugzeug gekommen ist. Wir fahren am besten direkt zu dem Blumengeschäft und nehmen die Capri-Fotos mit. Ich hab da einen speziellen Verdacht,“ erklärte Müller. Die beiden Verkäuferinnen sahen sich die Fotos an – und eine erkannte jemand wieder: „Der ältere Herr, der war schon mal hier. Er war mir aufgefallen: groß, blond, äußerst charmant. Ein Ausländer, er sprach aber gut Deutsch. Irgendwas Nordisches, würde ich sagen.“ Müller grinste. „Ein Schwede!“ Sofort wurden die schwedischen Kollegen informiert, die den Buchhändler Olaf Nyström vorläufig festnahmen. Nyström wurde verhört und gab zu, Dagmar Seibold an jenem Sonntag besucht zu haben. „An sich wollte ich von Napoli über Hamburg nach Stockholm fliegen. Ich hab dann aber umbuchen können und in Düsseldorf Zwischenstation gemacht. Ich wollte Dagmar überraschen. Wissen Sie, an sich steh ich nicht auf Frauen, aber Dagmar... Sie hat mir gefallen und wir waren schnell gute Freunde. Die Nachricht von dem Mord hat mich schockiert. Ich wollte da nicht hineingezogen werden.“ Nystöm kam in Untersuchungshaft. Und Müller machte eine Dienstreise nach Stockholm.


Nyström wirkte niedergeschlagen. „Ich habe mit dem Mord nichts zu tun. Ich bin am frühen Nachmittag in Düsseldorf gelandet, habe Dagmar angerufen und bin zu ihr gefahren. Ich war dort bis neun und habe mir dann ein Hotelzimmer gesucht, weil ich nicht bei ihr übernachten wollte. Am nächsten Morgen habe ich vergeblich versucht, sie telefonisch zu erreichen. Um vier bin ich dann abgeflogen.“ Müller hatte aufmerksam zugehört und hatte das Gefühl, Dagmar Seibolds Mörder gegenüber zu sitzen. „Wo waren Sie zwischen zwei und fünf Uhr in der Nacht?“ wollte er wissen. Nyström reagierte unwirsch. „Wo schon? Im Hotelbett.“ Der schwedische Kommissar schaltete sich ein: „Wie ist das denn mit Ihrem Alibi hier. Ihr Geschäftsführer und Ihre Verkäuferin haben doch ausgesagt, dass Sie bereits am Montagmorgen um neun im Geschäft gewesen seien.“ Nyström antwortete nervös: „Herr Borg ist ein guter Freund. Und Frau Sören war an diesem Montag gar nicht im Geschäft. Gunnar hat ihr dann gesagt, dass ich Montagmorgen darüber sehr ungehalten gewesen sei. Sie ging davon aus, dass ich im Geschäft war und wollte diese Sache nicht noch einmal aufrollen.“ Müller dachte: „Wenn das nicht der Mörder ist, fress ich einen Besen!“ Wieder zurück in Düsseldorf, beantragte er gleich einen internationalen Haftbefehl für Nyström.


Frauenmörder

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