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Erinnerung an das Verbrechen von Babij Jar
ОглавлениеOnkel Mischka hatte demnach im Bürgerkrieg sowohl auf der Seite der Weißen als auch der Roten gekämpft. Er hatte die Tochter eines früheren zaristischen Offiziers entführt, desertierte und wurde zum Kriminellen. Später gestand er seine Verfehlungen und diente dann offenbar weiter in der sowjetischen Armee. Seine Mutter, also Lews tief religiöse Großmutter väterlicherseits, soll nach diesem Bericht Mischas Frau zum Judentum bekehrt und in die Synagoge geführt haben. Als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 Kiew eroberten, lag Mischa schwer verwundet im Lazarett. Dieses wurde evakuiert und der Verwundete starb unterwegs.
Tante Ronja hatte in Kiew schon 1919 als Gymnasiastin Kontakte mit dem örtlichen bolschewistischen Revolutionskomitee gehabt. Sie wurde von gegnerischen Kräften verhaftet, geschlagen, vergewaltigt und offenbar mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt.15 Schwer krank verbrachte sie fast ein Jahr in einer Nervenheilanstalt. Anfang der 20er-Jahre heiratete sie Mark Klubmann, der ebenfalls mit dem Kiewer Revolutionskomitee liiert war. Klubmann studierte Jura und wurde später Prorektor des juristischen Instituts in Saratow an der Wolga.
Ronja, die – offenbar wegen ihrer schweren Misshandlungen – keine Kinder bekommen konnte, kam mit ihrem Mann jeden Sommer nach Kiew und nach Charkow, um dort Lews Großeltern und die Familie zu besuchen. Ronjas Mann Mark machte Karriere in der ukrainischen KP, wurde aber 1937 auf dem Höhepunkt der großen Stalinschen Terrorwelle, verhaftet und zu zehn Jahren Lager verurteilt. Seine Frau Ronja setzte sich mit aller Kraft für seine Freilassung ein. Sie schrieb Briefe an Stalin und seine obersten Schergen wie Jeschow und Wyschinskij. Dann wurde auch sie verhaftet, kam aber 1938 wieder frei, als Jeschow durch Berija abgelöst wurde.16
Ronja zog zu ihren Eltern nach Kiew. Als die Deutschen Ende September 1941 dort einmarschierten, glaubten sie, dass die Stadt durch eine sowjetische Gegenoffensive schnell wieder befreit würde. Außerdem lag in Kiew Ronjas Bruder Mischa im Lazarett, den die Schwester und die Eltern nicht im Stich lassen wollten.
Am 29. und 30. September wurden die in Kiew verbliebenen Juden zur Schlucht Babij Jar (ukrainisch Babin Jar) an der Stadtgrenze getrieben und dort erschossen.17 Mehr als 33.000 jüdische Einwohner Kiews wurden in diesen zwei Tagen ermordet, organisiert unter dem Oberkommando der deutschen Heeresleitung.
Lew Kopelew berichtet weiter, wie er im April 1944 als Offizier der Roten Armee auf der Durchreise von einem Frontabschnitt zum anderen in Kiew vorbeikam. Der Hausmeister im Wohnhaus, in dem die Großeltern gewohnt hatten, erzählte ihm, wie diese am zweiten Tag des Massenmordes, also am 30. September 1941, die Wohnung verlassen hätten. „Viele wussten schon, dass man sie dort umbringen würde. Der Großvater war sehr krank, konnte nicht mehr gehen. Die Großmutter und Ronja fuhren ihn in einem Wägelchen.“ Die Großmutter sei die Stärkste gewesen, über 80 und hätte immerzu gehustet, aber aufrecht sei sie gegangen „wie ein Stock“. Auch Ronja war grau geworden, mager und schon ohne Zähne. Zum Hausmeister sagte sie: „Ich weiß, man wird uns dort umbringen, aber wir werden trotzdem siegen. Und wenn die Unsrigen zurückkommen, sagt ihnen, dass sie uns rächen sollen.“18