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Frühe Vertrautheit mit der deutschen Sprache

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Lew Kopelews frühe und tief eingewurzelte Vertrautheit mit der deutschen Sprache und Kultur hat seine Biografie entscheidend beeinflusst. Ohne diesen Einfluss und Hintergrund hätte er später an der Universität wohl auch nicht deutsche Literatur studiert und in Moskau eine Dissertation über Schiller geschrieben. Mit Sicherheit wäre er ohne diese hervorragenden Deutschkenntnisse im Zweiten Weltkrieg nicht als Propaganda-Offizier zur Beeinflussung der deutschen Truppen und als Dolmetscher eingesetzt worden. Möglicherweise wäre er dann beim Einmarsch der Roten Armee in Ostpreußen auch nicht in Konflikt mit seinen Vorgesetzten gekommen und „wegen Mitleids mit dem Feind“ verhaftet worden – und hätte nicht fast zehn Jahre in Lagerhaft verbringen müssen.

Ohne diese Häftlingsjahre aber hätte er in der Scharaschka auch nicht Alexander Solschenizyn kennengelernt. Nie wäre diese enge Freundschaftsbeziehung entstanden, die viele Jahre später zur gegenseitigen Entfremdung führte und während der Exiljahre schließlich ganz in die Brüche ging.

Ohne Kopelews überragende Deutschkenntnisse und damit verbunden seinem unerschöpflichen Interesse an der deutschen Literatur und Kultur wäre es später nie zu den bewegenden Freundschaften mit wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Westdeutschland und der damaligen DDR gekommen – an erster Stelle sei hier Heinrich Böll genannt, dann die „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, weiter Max Frisch und später Willy Brandt sowie in der früheren DDR die Schriftsteller Christa Wolf, Hermann Strittmatter und Anna Seghers.

Weshalb die russisch-jüdischen Eltern Kopelew sich entschlossen, deutschsprachige Njanjas für ihre beiden Söhne einzustellen, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Aus Lews Erinnerungen geht nicht hervor, dass die Eltern auch gewisse Deutschkenntnisse hatten. Im Falle seines Vaters, der noch zur Zarenzeit in Kiew Agronomie studiert hatte, sind solche Kenntnisse nicht ausgeschlossen. Aber dass die Eltern überhaupt fremdsprachige Kinderfrauen engagieren konnten, zeigt, dass sie über einen gewissen finanziellen Spielraum verfügten. Und dass sie für diese Aufgabe einige Jahre lang deutsche „Fräuleins“ anstellten, lässt weiter darauf schließen, dass sie sich – in der Tradition des jüdischen Bürgertums – der Bedeutung einer guten Bildung und namentlich solider Deutschkenntnisse durchaus bewusst waren.

Darauf deutet auch der Hinweis in Kopelews Erinnerungen, dass sein Vater in seinem Schrank „82 Bände der Enzyklopädie von Brockhaus-Efron stehen hatte – dunkelgrün mit Goldschnitt“.25 Deutsch war in jener Zeit in weiten Teilen Osteuropas – damals bestand ja noch das habsburgische Vielvölkerreich, das mit seinen östlichen Ausläufern in Galizien direkt an die Ukraine grenzte – so etwas wie eine Lingua franca, eine Art überregionale Verkehrssprache. Übertragen auf heutige Sprachpräferenzen hätten die Eltern Kopelew wohl englischsprachige Kindermädchen für ihre beiden Söhne angestellt. Auch der Umstand, dass Lew in seinen Kiewer Jugendjahren Klavierunterricht erhielt – der ihn allerdings gar nicht begeisterte26 und aus dem sich auch später nichts Brauchbares entwickelte –, spricht für ein bildungsbürgerliches Bewusstsein in der Kopelew-Familie.

Als Lew und sein Bruder Alexander ins Schulalter kamen, wollte die Mutter sie unter keinen Umständen in die „sowjetische Armeleuteschule“ schicken, wie sie das nannte. Private Schulen ließ das neue Sowjetregime offenbar nicht mehr zu. Deshalb wurden die beiden Jungen zuerst zu Hause unterrichtet. Erst im Herbst 1923 willigten die Eltern ein, Lew als mittlerweile Elfjährigen nun doch die staatliche Grundschule besuchen zu lassen. Er kommt in die 3. Klasse. Zur Vorbereitung auf den Eintritt in die Schule und noch während der ersten Zeit im neuen Klassenverband stellen die Eltern die russische Lehrerin Lidija Lasarewna an. Es stellte sich heraus, dass Lew beim Schreiben russischer Texte immer noch das alte, vorrevolutionäre Alphabet benutzte und kaum Kenntnisse in Arithmetik und Geografie hatte.

Diese ältere Dame, die stets in langen dunklen Kleidern daherkam, war eine großherzige Idealistin und glühende Liebhaberin der russischen Literatur. Den großen russisch-ukrainischen Schriftsteller und Humanisten Wladimir Korolenko (1853 – 1921) „liebte sie mehr als Tolstoi und Tschechow, obwohl sie sagte, dass diese beiden die größten Schriftsteller seien, die je auf Erden gelebt hätten“. Lew war begeistert von ihren Russischstunden und beeindruckt von ihrem Enthusiasmus für die Schönheit des Guten und Wahren. „Wir weinten über die Erzählungen von Korolenko wie ‚Makars Traum‘, ‚Die Wundersame‘, ‚In schlechter Gesellschaft‘ … und über ‚Onkel Toms Hütte‘.“27 Die Mutter indessen reagierte eifersüchtig auf die Verehrung ihres Sohnes für die idealistische Russischlehrerin und machte feindselig-spöttische Bemerkungen über sie. „In solchen Momenten“, schreibt Kopelew in seinen Erinnerungen, „hasste ich meine Mutter und schrie wütend: ‚Lidija Lasarewna ist der beste Mensch auf der Welt, der klügste und beste!‘“28

Lew kam zu Beginn seiner Schulzeit auch mit revolutionär-bolschewistischem Gedankengut näher in Berührung. Im Frühjahr 1922, also noch vor Eintritt in die Grundschule, tritt er als Wolf in die jüngste Gruppe einer Kiewer Pfadfinderabteilung ein, wo die Führerin Anja von Baden-Powell, dem britischen Gründer der Pfadfinder-Bewegung, erzählt. Die Pfadfinder wurden jedoch vom bolschewistischen Regime schon im Jahr darauf aufgelöst und 1924 endgültig verboten. Lew wechselte in die neue Jugendorganisation JUK – Junge Kommunisten. Der JUK-Führer richtete im Keller seines Elternhauses ein Zimmer für die von ihm geführte Gruppe ein und erklärte diesen Raum zum „Klub der Jungen Kommunisten“. Die Wände zierten Bilder aus Zeitungen und Zeitschriften von Marx, Lenin, Trotzki, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Lunatscharskij und anderen kommunistischen Größen.29

Lew Kopelew

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