Читать книгу Lew Kopelew - Reinhard Meier - Страница 16
Russe jüdischer Abstammung
ОглавлениеNur für das Hebräische, das Lew in Kiew nach dem Willen der Eltern und Großeltern erlernen sollten, konnte er kein Interesse aufbringen. Im Winter 1920/21 kam eigens ein älterer Professor namens Ilja Wladimirowitsch Galant ins Haus, um den beiden Kopelew-Brüdern im Privatunterricht die alte jüdische Sprache beizubringen. Dieser begann mit der hebräischen Grammatik, die Lew als langweilig empfand wie die Tonleiterübungen auf dem Klavier. Er schweifte dann aber bald ab zu den historischen Erzählungen über Babylon, die Assyrer, das alte Ägypten, Griechenland und Rom, die den Schüler ebenso interessierten wie des Lehrers allgemeine Bemerkungen über die Religionen, die eigentlich alle ein und denselben Gott verehrten.39
Im nächsten Winter sollte ein neuer Hauslehrer dem zehnjährigen Lew Hebräisch beibringen. Er war Student und ein feuriger Zionist, der die Schüler davon zu überzeugen suchte, dass alle Juden nach Palästina auswandern und dort ihren eigenen Staat gründen sollten. Dafür konnte sich Lew überhaupt nicht begeistern, ihn interessierten fremde Länder wie Deutschland oder Reisen nach Afrika, Indien, Südamerika. Weil er auch die Hebräisch-Aufgaben nicht erledigte, wurde der Lehrer wütend und traktierte den Schüler mit Kopfnüssen und zerrte ihn an den Ohren. Das empörte wiederum Lews Mutter und der junge Hebräischlehrer wurde fortgejagt.
Im April 1925 wurde Lew 13 Jahre alt und damit „Bar Mizwa“, das heißt im religiösen Sinne volljährig, was nach jüdischer Tradition mit einem feierlichen Ritual begangen wird. Vor allem die gläubige Großmutter war verzweifelt, schreibt Kopelew in seinen Erinnerungen, weil der Enkel immer noch kein einziges hebräisches Gebet kannte „und noch nie in einer Synagoge gewesen war – Mutter hatte mich aus Angst vor ansteckenden Krankheiten nicht gehen lassen, und mir selbst war es uninteressant“.40 Dem Großvater war der religiöse Glaube weniger wichtig, aber er betonte gegenüber dem 13-Jährigen, dass man nicht von seinem Volk abtrünnig werden dürfe, deshalb müsse man auch dessen alte Bräuche respektieren. Er versuchte den Enkel davon zu überzeugen, wenigstens ein Gebet und den kurzen hebräischen Text zu lernen, der an der Bar Mizwa-Feier vorzulesen war.
Zu diesem Zweck schrieb er für Lew die Texte in großen russischen Buchstaben auf liniertes Papier, wobei er auch Zeichen zur richtigen Intonation hinzusetzte. Um den Enkel vollends von der Sache zu überzeugen, schlug er ihm ein Geschäft vor: Das Gebet brauchte er nicht zu lernen, nur der in russischer Schrift transkribierte Text sollte an der Feier vorgelesen werden. Dafür versprach ihm der Großvater als Geschenk ein neues Erwachsenen-Fahrrad.
Lew war damals bereits stellvertretender Gruppenleiter bei den kommunistischen Pionieren. Mit den Freunden diskutierte er das Angebot des Großvaters. Einige Jungen fanden die Aussicht auf ein neues Fahrrad verlockend, davon könnten alle in der Pioniergruppe profitieren und dies sei einen Gang in die Synagoge wert, für moralische Skrupel bestehe kein Anlass. Die meisten Mädchen waren jedoch anderer Meinung. Sie argumentierten gegen betrügerische Arrangements, das sei erniedrigend und gemein. Für Lew war es ein Dilemma. Auch die Mutter sah ein, dass ein überzeugender Kompromiss nicht möglich sei. Lew wurde für krank erklärt, ins Bett gesteckt und der 13. Geburtstag überhaupt nicht gefeiert. Der Großvater gratulierte zwar zum Geburtstag, war aber unfreundlich und traurig. So blieb Lew ohne Fahrrad. Als tapferer Kämpfer für den Atheismus konnte er sich aber auch nicht fühlen, schließlich hatte er ja nicht offen dafür gekämpft, „sondern sich einfach hinter Mutters List versteckt“.41
Trotz seines Desinteresses am Judentum und an der jüdischen Religion hat Lew Kopelew sich nach einigem Schwanken stets offen zu seiner jüdischen Abstammung bekannt – obwohl das für ihn in Russland öfter mit Nachteilen und Diskriminierungen verbunden war und er als junger Kommunist die Nationalität „Ukrainer“ oder „Russe“ unschwer in seinen ersten sowjetischen Pass hätte eintragen lassen können. Dieser Pass wurde 1932 ausgestellt, als die Kopelew-Familie längst von Kiew nach Charkow umgezogen war. Lew Kopelew berichtet, dass er als 20-Jähriger beim Eintrag seiner Nationalität für dieses Dokument nur einen Moment lang gezögert und dann entschlossen „Jude“ hingeschrieben habe.42 (Dass in der angeblich klassenlosen und internationalistisch orientierten sowjetischen Gesellschaft die eigenen Bürger im Pass nach unterschiedlichen Nationalitäten registriert wurden – und damit tendenziell auch privilegiert oder diskriminiert werden konnten –, gehörte mit zu den vielen Widersprüchen dieses Gesellschaftssystems.)
Der Komsomol-Sekretär in Charkow äußerte sich verblüfft über diesen Eintrag und hielt seinem Parteifreund vor: „Bist Du denn verrückt? Du kannst nicht mal Jiddisch. Du musst ‚Ukrainer‘ schreiben: Hast die ukrainische Schule besucht. Ich zum Beispiel habe mich als Russe eingetragen, obwohl meine Vorfahren Ukrainer sind. Aber ich war auf der russischen Schule und kann Russisch besser sprechen als Ukrainisch. Du hättest wenigstens ‚Russe‘ hinschreiben können, das beherrschst Du ja ebenso gut.“ Kopelew entgegnete dem Funktionär, er werde sich so lange als Jude bezeichnen, wie er mit dem Vorwurf rechnen müsste: aha, es sei ihm wohl peinlich, sich offen zu seinen jüdischen Wurzeln zu bekennen.43 Tatsächlich aber war es in den Anfängen der Sowjetunion gerade unter Bolschewisten jüdischer Herkunft durchaus üblich, ihre Nationalität als russisch anzugeben – Beispiele sind die bekannten Führungsfiguren Sinowjew, Kamenew und Swerdlow.44
In den Erörterungen und Auseinandersetzungen über seine jüdischen Wurzeln und sein eigenes komplexes Identitätsverständnis, die in manchen seiner Werke und Briefe zu finden sind, hat Lew Kopelew auch den tiefsten Grund seines Bekenntnisses als russischer Jude genannt: die Bindung und die Loyalität zu den Familien seiner Eltern und Verwandten. In der Autobiografie über seine Jugend hat er diesen Zusammenhang eindringlich formuliert: „Eine Stimme des Blutes habe ich nie gehört. Aber die Stimme der Erinnerung ist in mir laut. Und in der Erinnerung meines Herzens leben Großvater, Großmutter und Tante, die am 29. September 1941 in Kiew in der Schlucht von Babij Jar erschossen wurden, weil sie Juden waren. In der Erinnerung meines Herzens leben meine Mutter, mein Vater, die Verwandten, die sich bis zur letzten Minute ihres Lebens als Juden empfanden. Mich von ihnen loszusagen, hieße ihre Gräber zu schänden.“45
Diese familiäre Bindung an die Herkunft seiner Eltern und Großeltern hinderten Kopelew aber nicht, gleichzeitig seine Distanz zur jüdischen Religion und vor allem zum kämpferischen Zionismus zu betonen. „Niemals fand ich etwas in mir, das mich mit dem Judentum, seinen religiösen Überlieferungen oder mit seinen nationalen Ideen verbunden hätte“, schreibt er in seinen Memoiren.46
In späteren Jahren, als er sich von seinem kommunistischen Glauben definitiv gelöst hatte und in Moskau als Literat und Regimekritiker ohne Publikationsmöglichkeit im eigenen Lande lebte, hat sich Kopelew 1971 in einem langen Brief an den linken Dissidenten Roy Medwedew ausführlich zu seiner Position zur Judenfrage in der Sowjetunion geäußert.47 Diese Stellungnahme zur Klärung seines Verhältnisses zum Judentum als Staatsbürger stand damals im Zusammenhang mit der von Amerika und Israel aus geführten Kampagne um das Auswanderungsrecht für Juden aus der Sowjetunion, die in der Breschnew-Ära hohe Wellen warf. Die Klärung war für Kopelew so wichtig, dass er einen Auszug davon in seinen Erinnerungsband „Und schuf mir einen Götzen“ aufnahm.48
In der Sowjetunion sei zwar der Antisemitismus gesetzlich verboten, heißt es in diesem Text. Dennoch werde er in diesem Land tagtäglich praktiziert, und zwar als wirksame Beeinflussung auf die „Weltanschauung von Millionen von Philistern“ durch staatliche Medien und Funktionäre. Gleichzeitig betonte Kopelew aber dezidiert seine Distanz zu jenen zionistischen Agitatoren, die behaupten, es sei gewissermaßen die moralische Pflicht aller sowjetischen Juden, nach Israel auszuwandern. „Ich muss feststellen“, schreibt er in dem Brief an Medwedew, „dass mir die subjektiven Zionisten nicht nur einfach fremd sind, sondern dass sie sich objektiv den Antisemiten annähern, indem die einen wie die andern mir das Recht auf Heimat abstreiten, auf Heimatsprache, auf die Zugehörigkeit zu der Nation, zu der ich wirklich gehöre. Die Antisemiten sehen in mir und mir ähnlichen Menschen gefährliche ‚Fremde‘, die Zionisten beschimpfen uns als ‚Verräter‘ und die Fanatiker – diese wie jene – hassen uns.“
Außerdem, argumentiert Kopelew in dem Brief an Roy Medwedew weiter, beunruhige ihn der Umstand, dass die Kämpfer für die jüdische Auswanderung fast „alle nur von der jüdischen Frage sprechen, nur von der Diskriminierung der Juden.“ Eine derartige Absonderung passe „den Zionisten ins Konzept, unterstützt dabei im Grunde aber die Antisemiten“. Selbstverständlich sei die Forderung zur Ausreise nach Israel für alle, die dies wünschten, berechtigt. Doch die Forderung nach freier Ausreise müsse für alle Völker in der Sowjetunion gelten. „Wer die Rechte der jüdischen Nationalität in der UdSSR durchsetzen will, darf darüber die ungelösten Probleme anderer Völker der Sowjetunion nicht vergessen.“49
Noch einige Jahre nach dieser Erklärung, im März 1977, hat Lew Kopelew in einem Brief an seinen Freund Max Frisch in der Schweiz sein Identitätsverständnis prägnant auf folgenden Nenner gebracht: „In einem Monat werde ich 65, meine Gesundheit ist nicht die beste … Aber wir wollen hier bleiben, hier leben, hier sterben … Was Antisemiten und Zionisten dazu sagen mögen, ist mir gleich, denn ich bin und bleibe Russe; und wegen meiner jüdischen Abstammung ein solcher, der das Russentum besonders klar, bewusst und tragisch – himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – empfindet und bekennt.“50