Читать книгу Lew Kopelew - Reinhard Meier - Страница 19
„Magnetische Kraft der gedruckten Zeile“
ОглавлениеDas nächste große literarische Idol des jugendlichen Lew Kopelew war Majakowskij. Lew erlebte mehrere Auftritte des flamboyanten, provokativen Revolutionsbarden in Charkow, den letzten im Herbst 1929. Der 17-Jährige hatte die Kühnheit, ihm als Zuhörer eine kritische Frage über seine Veröffentlichungen in der „Komsomolskaja Prawda“ zu stellen, einer Zeitung, die Lew als zu wenig avantgardistisch empfand. Majakowskij antwortete schlagfertig wie immer: „Wieso passt Ihnen die ‚Komsomolskaja Prawda‘ nicht? Gerade Ihnen, einem offenbar noch ziemlich jungen Mann? Aber mir ist die Tageszeitung mit Millionen Lesern weitaus interessanter als eine monatlich erscheinende Zeitschrift mit einigen tausend Beziehern. Können Sie das verstehen?“3 Einige Leute klatschten, schreibt Kopelew weiter – auch er selbst applaudierte. Majakowskij hatte ihn überzeugt. Auch diese literarische Lichtgestalt, eine Zeit lang der sowjetische Vorzeigedichter par excellence, hat sich 1930 wegen privater und politischer Enttäuschungen das Leben genommen, nur ein halbes Jahr nach seinem letzten Auftritt in Charkow.
Schon vor dem Erlebnis mit Majakowskij hatte Lew mit einigen Freunden das Projekt lanciert, eine eigene Literaturvereinigung zu gründen. Im Schriftstellerklub, dem Blakitnij-Haus, benannt nach dem ukrainischen Schriftsteller und Revolutionshelden Wassilij Blakitnij (1895 – 1925) wurde den jungen Leuten beschieden, dass sie dieses Haus nur für ihre Versammlungen nutzen könnten, wenn ihre Organisation mit dem Namen „Jung-Ring“ beim zuständigen Volksbildungskommissariat registriert sei.4 Lew ging zu diesem Zweck eines Tages direkt ins Büro des Volkskommissars Mykola Skrypnik, eines angesehenen Bolschewiken und Literaturförderers, den die jungen Literaten verehrten. Skrypnik war auch ein tatkräftiger Verfechter der ukrainischen Sprache innerhalb der Sowjetunion und deren Institutionalisierung an den Schulen und im Kulturleben der Ukraine. Er hörte sich das Anliegen des jungen Bittstellers kurz an und schrieb dann mit ein paar Worten eine kurze Empfehlung zugunsten des „Jung-Ring“-Vereins.
Fünf Jahre später, im Juli 1933, hat auch Skrypnik sich in Charkow erschossen. Wahrscheinlich, schreibt Kopelew, war diesem aufrechten Kommunisten das Bewusstsein unerträglich, mitverantwortlich zu sein für das tödliche Verhängnis, das in dieser Zeit über die Ukraine hereinbrach – die große Hungerkatastrophe der Jahre 1932/33. Mit ein Grund für diesen Suizid war zweifellos auch Skrypniks Entlassung als ukrainischer Kommissar für das Erziehungswesen und die von Stalin gleichzeitig in Gang gesetzte Verteufelung der sprachlichen und kulturellen Eigenständigkeit der Ukraine.
Der literarische „Jung-Ring“ hielt nicht lange zusammen. Es gab ideologische Streitigkeiten, die mitunter in Schlägereien ausarteten. Dabei ging es vor allem um das Für und Wider der sogenannten NEP, der von Lenin 1921 proklamierten Neuen Ökonomischen Politik, die angesichts der gravierenden Versorgungsmängel nach den ersten Jahren des Kriegskommunismus teilweise wieder privatwirtschaftliche Unternehmungen zuließ. Der 15- oder 16-jährige Lew war ein heftiger Gegner solcher Konzessionen, in denen er eine Verwässerung der marxistischen Glaubenslehre sah. Die NEP erschien ihm als Ursache aller politischen und materiellen Nöte und Übelstände – die Spaltungen und „Säuberungen“ in der Parteiführung, die Verbannung Trotzkis nach Kasachstan (1928) und ein Jahr später dessen Ausweisung aus der Sowjetunion, der Selbstmord Jessenins und eines Freundes seines Vaters. Diese kritische Einstellung zur NEP war aber insofern ambivalent, als er andererseits die Autorität des Revolutionsheiligen Lenin nicht infrage stellen mochte.
Am 18. November 1928 wurde der 16-jährige Lew Kopelew „erstmals gedruckt“.6 Im Literaturteil der Tageszeitung „Der Charkower Proletarier“ erschien neben Gedichten von drei Freunden auch ein Poem von ihm mit dem Titel „Zum Tode Roald Amundsens“. Der norwegische Polarforscher Amundsen hatte als Erster den Südpol erreicht. Er gehörte schon zu Lews Kindheitshelden. Im Sommer 1928 hatte Amundsens früherer Partner, der italienische General Umberto Nobile, in einem Luftschiff zum zweiten Mal den Nordpol überflogen, doch dann stürzte das Luftschiff bei Spitzbergen ab. Amundsen brach mit einem kleinen Wasserflugzeug zu einer Rettungsaktion auf – und blieb verschollen. Nobile und einige seiner Gefährten konnten gerettet werden, an den Rettungsaktionen war auch der sowjetische Eisbrecher „Krassin“ beteiligt.
Lew war glücklich, seine Verse und seinen Namen in der Zeitung zu lesen. „Schon lange hatte ich davon geträumt, lange darauf gewartet, gehofft, wurde enttäuscht, verzweifelte, wartete weiter.“ An anderer Stelle schreibt er in seinen Erinnerungen von der „magnetischen Kraft der gedruckten Zeile“, dem „magischen Gutenberg-Effekt“, der offenbar auf die „anarchische Sehnsucht nach Unsterblichkeit“ zurückgehe, auf das „Bedürfnis, die eigene Spur auf Erden zu hinterlassen“.5 Solche Motive haben die Entstehung von Lew Kopelews umfangreichem schriftlichem und schriftstellerischem Lebenswerk (Erinnerungen, literarische und historisch-politische Monografien, Erzählungen, Tagebücher, Briefe) zweifellos wesentlich mit beeinflusst. Sie zählen wohl mit zu den Triebkräften jeglicher publizistischer Produktion.
Als Kopelew im Alter von 60 Jahren in Moskau bei der Suche nach Unterlagen für seine Schriftsteller-Rente das Amundsen-Gedicht wieder in die Hände geriet, war ihm die Lektüre peinlich, er fand es hochtrabend und sentimental. Nur eine Zeile berührte ihn als gültig, über alle Wandlungen und Brüche hinweg: „Ein Mensch rettet einen Menschen.“7