Читать книгу Inselgötter - Reinhard Pelte - Страница 10

Tomas Jung

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Er stand am Fenster, als das Telefon klingelte.

»Endlich erreiche ich dich«, sagte eine fremde Stimme. »Warum ist immer nur dein blöder Chef am Apparat? Warum lässt du dich verleugnen? Langsam bin ich …«

»Wer ist da eigentlich?«, fragte er scharf.

»Tiny. Tiny aus Carvoeiro. Jetzt sag bloß, du weißt nicht, wer ich bin.«

Jung stutzte einen Moment und atmete hörbar aus.

»Tiny! Sag das doch gleich. Ich …«

»Red dich nicht raus, Tomi. Meine Stimme müsstest du eigentlich im Schlaf erkennen.«

»Ich bin im Dienst. Wenn du mich unbedingt anrufen musst, dann melde dich mit Namen. Ich habe einen Job, der mich empfindlich macht. Das solltest du eigentlich kapiert haben. Ich muss vorsichtig sein.«

»Eben, eben. Wie recht du hast. Aber ich stecke in der Scheiße. In der totalen Scheiße, mein Lieber. Ich muss viel vorsichtiger sein als du. Gerade jetzt. Das ist dir doch wohl klar, oder? Sooft ich versuche, dich …«

»Gerade jetzt? Was meinst du damit, Tiny?«, unterbrach ihn Jung irritiert.

»Sag bloß, du liest keine Zeitungen. Das Fernsehen hat darüber berichtet. Sogar das Radio. Wenn wir …«

»Wovon redest du eigentlich?«, stoppte Jung seinen Redefluss. In seinem Kopf schrillten die Alarmglocken.

»Du wolltest etwas dagegen tun. Aber …«

»Was wollte ich tun?«

»Du weißt genau, wovon ich rede. Du wolltest dafür sorgen, dass die Täter in den Knast kommen.«

»Falsch, Tiny. Ich habe überlegt, ob ich den portugiesischen Kollegen nicht einen Tipp geben soll.«

»Und? Hast du?«

»Nein. Ich habe es mir anders überlegt. Außerdem war ich beschäftigt.«

»Schöne Scheiße. Die Staatsanwaltschaft in Lissabon hat das Verfahren wieder aufgenommen.«

»Und? Was ist jetzt anders als vorher? Was beunruhigt dich?«

»Scotland Yard hat sich ebenfalls eingeschaltet. Sie ermitteln in der Sache.«

»Was willst du mir eigentlich sagen, Tiny? Du scheinst die Hosen voll zu haben. So kenne ich dich gar nicht.«

»Die Briten sind von anderem Kaliber, mein Bester. Ich kenne sie alle. Die verpennten Portugiesen genauso wie diese beschissenen Limies. Das sind Pitbulls. Wenn die sich mal festgebissen haben, dann lassen die nicht mehr los. Ich kann ein Lied davon singen. Das kannst du mir glauben.«

»Meinetwegen. Aber beantworte mir bitte meine Frage«, sagte Jung unwirsch.

»Ich mache mir Gedanken. Wenn …«

»Was hast du vor?«, fragte Jung, aufs Höchste alarmiert.

»Wenn du das nicht auf die Reihe kriegst, dann muss ich das eben tun.«

Jung atmete tief durch. Er überlegte fieberhaft.

»Wo bist du jetzt?«, fragte er.

»Im Flugzeug.«

»Doch nicht etwa in einem Jet deiner Militärkumpels?«

»Nein, in einem Airbus der TAP.«

»Wohin fliegst du?«

»Ich lande in ein paar Minuten in Lissabon.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dein Handy. Es kann die Flugzeugelektronik durcheinanderbringen. Das müsstest du eigentlich besser wissen als ich.«

»Bullshit. Im Notfall bringe ich die lahme Ente mit meinem kleinen Finger auf die Piste. So ’n Gerät ist vielleicht für Rentner ein Problem, aber nicht für einen Topgun.«

»Du bist Rentner, Tiny. Wie viele Jahre eigentlich schon?«

»Ich will dir mal was sagen, wenn …«

»Vergiss es. Nimm das nächste Flugzeug nach Hamburg. Bevor du etwas unternimmst, müssen wir reden.«

»Willst du mir etwa Vorschriften machen?«

»Wir sollten uns vorher abstimmen. Das ist ein wohlgemeinter Ratschlag.«

»Okay«, sagte Tiny besänftigt. »Ich melde mich, sobald ich kann.«

»Aber privat. Hast du meine Nummer?«

»Nein.«

Jung diktierte ihm seine Handynummer.

»Hast du auch einen Festnetzanschluss?«, fragte Tiny.

»Ja. Verrate ich aber nicht.«

»Warum? Hast du Angst vor deiner Alten? Sie ist misstrauisch und zickig. Ich erinnere mich sehr gut an sie.«

»Du redest Blech, mein Guter. Ich will nicht, dass du mit ihr redest. Hast du verstanden? Es genügt, wenn ich da drinhänge. Ist das klar?«

»Ja, ja. Alles klar, Herr Oberkriminaler. Aber mit Versteckspielen fängt die Scheiße erst richtig an. Lass dir das …«

»Ich mach jetzt Schluss, Tiny«, würgte Jung ihn ab. »Tschüss. Pass auf dich auf.«

»Na gut. Ebenfalls Arschloch. Ate logo. Bis bald.«

Jung legte verärgert den Hörer auf und wandte sich wieder dem Fenster zu. Der Ausblick auf den Hafen und das dahinterliegende Ostufer besänftigte ihn nur kurz. Er spürte deutlich, wie schlechte Laune ihn erfasste und sein Gemüt verdüsterte. Nichts kam ihm ungelegener als dieser unterbelichtete Expilot. Das Jahr ist ohnehin schon schrecklich genug, stöhnte er. Und jetzt auch noch der!

*

Mit dem Wetter hatte der Schlamassel begonnen. Schon seit Monaten war es deprimierend. April, April, der macht, was er will. Dieses Jahr hatte er gewollt, dass die Sonne wochenlang vom Himmel schien und die Menschen morgens kurzärmelig zur Arbeit gingen. Von da ab hatten Wolken, Regen und Wind das Wetter in Schleswig-Holstein bestimmt. Und es war kalt geworden. Sogar für Nordfriesen, die an schlechtes Wetter gewöhnt waren. Für sie gehörten Regenjacke und Pullover zum Sommer wie Touristen und Autoschlangen.

Jetzt war Ende September. Die Sonne stand tief, aber sie war zu sehen, obwohl eine dünne Wolkenschicht ihre Strahlen in einen fahlen Lichtschleier verwandelte. Die Temperaturen sanken nachts auf einstellige Werte, bei Sonnenaufgang bildete sich Bodennebel. Ein annehmbarer Frühherbsttag.

Drüben am Ostufer lagen die Segelboote an ihren Leinen wie gezähmte Wildtiere. Still, apathisch, leblos. Das Saisonende nahte. Bald würden die ersten von ihnen aus dem Wasser gehoben und ins Winterlager geschafft werden. Er hatte sich an den Jahresrhythmus in der Marina gewöhnt. Er liebte die Beständigkeit. Würde sie ewig dauern? Man konnte nie wissen, was als Nächstes kam. Zum Beispiel eine Versetzung. Damit musste er als Beamter immer rechnen. Unter normalen Umständen war es nicht zu verhindern, dass er in eine andere Stadt oder sogar aufs platte Land versetzt werden konnte. Heute, nächsten Monat oder nächstes Jahr. Vor ihm war das schon vielen Kollegen passiert. Nicht, dass ihn das übermäßig beunruhigt hätte. Aber den Blick über seine Stadt, den würde er vermissen. Das wusste er schon jetzt.

*

Überhaupt bereitete ihm sein Beruf in letzter Zeit Schwierigkeiten. Er fühlte sich leer und orientierungslos. Das hatte dazu geführt, dass sein Privatleben langsam, aber sicher aus den Fugen geriet. Er war zu Hause ausgezogen. Der Entschluss war über ihn gekommen wie ein Unfall. Svenja hatte während seiner Abwesenheit die bodentiefen Fenster im Wohnzimmer umarbeiten lassen. Sie brauche Fensterbänke für ihre Blumen, für den indischen Glückselefanten und den Buddha, den ihr Maike zum Geburtstag geschenkt hatte. Auf seinen Vorwurf, warum sie vorher nicht mit ihm darüber geredet habe, hatte sie beleidigt erwidert, dass er ja nie zuhöre. Vor dem Zubettgehen bemerkte sie über die Schulter: »Du riechst, Tomi.« Es klang so, als hätte sie ihm »Du stinkst« an den Kopf geworfen.

Ihre Bemerkungen hatten ihn tief getroffen. In erster Linie, weil sie nicht stimmten. Svenja musste andere Beweggründe haben. Hatte sie einen heimlichen Liebhaber, der ihr größere Aufmerksamkeit schenkte und besser roch? Er hatte sich gefragt, wonach Svenja eigentlich selbst roch, und festgestellt, dass sie, solange er sie kannte, immer nach ihren Parfüms, ihren Salben und Lotionen gerochen hatte. Auch an diesem Abend. Svenja natur, im Biozustand sozusagen, hatte er noch nie zu riechen bekommen. Wenn es nicht schon längst zu spät ist, dann wird es höchste Zeit, hatte er gedacht.

Am nächsten Morgen war er früh aufgestanden, hatte seinen Koffer gepackt und war gegangen. Ohne Lärm, ohne Streit, einfach so, als geschähe, was schon lange in der Luft gehangen hatte, und gegen das anzugehen, völlig sinnlos gewesen wäre. Seine Kinder wussten nichts davon. Sie waren weit weg und studierten in Städten im Süden und Osten der Republik. Für sein Empfinden lebten sie in einer Welt, die sich von seiner unterschied wie Grönland von den kleinen Antillen. Er würde es ihnen irgendwann erklären müssen. Er fürchtete sich davor.

Tomas Jung war in einer Studenten-WG am Willy-Brandt-Platz untergekommen, gut 100 Schritte von der Kriminalinspektion entfernt. Er hatte zufällig erfahren, dass in dem alten, roten Backsteinhaus ein Zimmer frei war. Die Bereitschaftspolizei hatte einen Tipp bekommen und in dem Haus eine Drogenrazzia durchgeführt. Die Studenten waren auf die Wache gebracht und verhört worden. Ihnen war nichts anzulasten gewesen.

Die jungen Leute hatten ihn überrascht. Dass er Polizist war, schien sie nicht zu stören. Sein Alter auch nicht. Beides wurde niemals erwähnt. Jung war ihnen willkommen als neuer Mitbewohner mit ausreichend Geld, ohne Marotten, ruhig und unauffällig.

Sie waren zu viert. Ein Pärchen, ein Computerfreak und er. Das Pärchen, Inka und Sven, waren in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Sie studierten Pädagogik und Medienwissenschaft. Es gab oft Streit, mitunter auch regelrechten Krieg. Ihrer Zuneigung schien das aber keinen Abbruch zu tun.

Der Älteste von den dreien war ein Nerd. Er hieß Nils. Ein munteres, quirliges Kerlchen, der mit einem Hochleistungs-Laptop verheiratet war. Die Ehe war glücklich, das sah man dem Typen an. Seine Angeheiratete war unterhaltsam, geduldig, amüsant, gefügig, spannend, belesen, oft überraschend, immer genügsam und nur manchmal lästig. Aber damit konnte er offensichtlich sehr gut leben. Viel wichtiger war, dass sie ihn nie ermahnte, zum Friseur gehen zu müssen, dass sein Hemd in die Wäsche gehörte und er dringend eine Dusche brauchte. Von ihr kamen keine überflüssigen Kommentare, keine Sticheleien, dass es in seinem Zimmer muffelte, dass dringend sauber gemacht werden musste oder dass die Müllabfuhr dran war. Wen störte das überhaupt? Die absolute Krönung war, dass seine Braut wenig Kosten verursachte. Ein Teil der anfallenden Verpflichtungen waren im Mietpreis inbegriffen.

Tomas Jung mochte seine Mitbewohner. Sie ließen ihn in Ruhe. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart nie gedrängt, Konversation machen, nett sein oder Hilfe leisten zu müssen. Sie lebten ihr Leben und er das seine.

Wenn Tomas Jung überhaupt etwas an ihnen auszusetzen hatte, dann waren es die Zustände in Bad und Küche. Er goss sich hin und wieder einen Tee auf, brühte sich einen Kaffee oder stellte Joghurt und Obst in den Kühlschrank. Darüber hinaus beanspruchte er die Küche nicht. Deswegen war es ihm egal, wie es da aussah. Sein Ordnungssinn litt zwar, aber es fiel ihm nicht schwer, über das Chaos hinwegzusehen.

Anders im Bad. Seine Toilettenartikel verwahrte er in seinem Zimmer und trug sie jedes Mal ins Bad und wieder zurück. Er hatte sofort einen Toilettenreiniger, einen Abzieher für die Dusche und ein Mikrofasertuch angeschafft. Auch reinigte er die Abflüsse regelmäßig. Anfangs hatten ihn dabei Ekelgefühle befallen. Inzwischen fand er das ganz in Ordnung, sozusagen wie einen nützlichen Beitrag zum Gedeihen einer blühenden Wohngemeinschaft. Seine Mitbewohner verloren kein Wort darüber, sabotierten seine Neuerungen aber auch nicht. Eines Tages registrierte er, dass sich noch jemand nützlich gemacht hatte. Er empfand einen stillen Triumph. Für ihn war es ein wichtiger Sieg, den er ein paar Schritte weiter, im Restaurant im alten Speicher, allein mit sich selbst gefeiert hatte. Hier gab es die besten Steaks in Flensburg und einen Rotwein aus Apulien, der ihn jedes Mal ins Schwärmen brachte. Er verströmte die Glut und die Kraft des tiefen Südens. Wenn er Wein über seine Zunge gleiten ließ, verlor er sich gerne in Fantasien über Weinanbau. Winzer, das wäre auch etwas für ihn gewesen, träumte er dann. Rebstöcke faszinierten ihn. Die Pflanzen waren wirklich einzigartig. Jahr für Jahr holten sie Geschmack und Kraft aus einem armseligen Boden, der seit Jahrhunderten der erbarmungslosen Sonne des Mezzogiorno ausgesetzt gewesen war und längst hätte am Ende sein müssen.

*

Tomas Jung bewohnte ein karges Zimmer. Zwölf Quadratmeter auf Holzdielen, ein Tisch, ein Lehnstuhl, ein Bett, ein Schrank. Es erinnerte ihn fatal an das Zimmer, in dem er seine Jugend verbracht hatte. Nur hatte es da noch ein paar Bilder, Bücher und ein Radio gegeben. Hier nicht. Ein Provisorium. Mehr sollte es nicht sein. Seine Verletzlichkeit hatte ihn hierhergetrieben, nicht die Absicht, sich von Svenja zu trennen. Der Gedanke daran war ihm so fern wie der, sich einen Arm abzuhacken.

Insgeheim verfluchte er seine Feinfühligkeit. Sie machte Probleme. Ihm gefiel das nicht, obwohl er sich über die Jahre angewöhnt hatte, sie als ein seltenes Geschenk zu betrachten. Sie brachte ihm auch Vorteile. Gerade in seinem Beruf.

Er war Leiter des S-Kommissariats bei der Bezirkskriminalinspektion Flensburg, dem Dezernat für unaufgeklärte Kapitalverbrechen. Der Blick aus seinem Zimmer ging in den Hinterhof, nicht nach vorne, auf den Willy-Brandt-Platz und den Hafen. Der Hinterhof passt viel besser zu mir, hatte er gleich beim ersten Mal gedacht. Die Aussicht ins Dahinter war seine Sache, nicht der Glanz, mit dem sich die Menschen ins beste Licht zu setzen bemühten. Die allgegenwärtige Sucht nach Glamour und Glanz war für Jung Ausdruck eines Mangels, eines verzweifelten Bettelns um Aufmerksamkeit, die vielleicht irgendwann zuvor hätte gestillt werden können, aber nie gestillt worden war und die in Zukunft auch nie gestillt werden würde. No chance. Absolutely no chance. So sah Tomas Jung das.

Inselgötter

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