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Charlotte Bakkens

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Die Walzenmühle lag an der Werftstraße. Ein Stück weiter bis zur Schiffbrücke und Jung war am Hafen angekommen und auf dem halben Weg zurück zu seiner Arbeitsstätte. Er schlenderte vorbei an der Museumswerft und den restaurierten Oldtimern aus Zeiten, in denen noch Kohle auf Gaffelschonern verschifft wurde. Von hier hatte er eine ungehinderte Aussicht über den Hafen bis rüber zum Restaurant Bellevue auf dem Ostufer. Er ließ den Blick schweifen über die Marina links davon, das Hafenkontor und das hässliche Silo der Raiffeisengenossenschaft am Harniskai. Dahinter reihten sich alte Mietshäuser, manche hübsch renoviert, manche, wie die in der Kurzen Straße, abgesackt, schief und dem Abriss nahe. Den Hang hinauf, nach Jürgensby schob sich ein unübersichtliches Gewirr aus Häuschen und Häusern, die durch enge Gassen, Treppen und Wege verbunden waren. Dazwischen kleine Plätze, Bäume, Buschgruppen und Kinderspielplätze. In Richtung Hafenausgang wurde das winklige Viertel von dem Neubau des regionalen Telekom-Anbieters abgeschlossen. Darüber erhob sich St. Jürgen wie das Mahnmal für eine bessere Welt. Und stadteinwärts, oberhalb der Hafenspitze, wachten die massiven Blocks hübscher Altbauten wie eine freundliche Festung über der Stadt, wehrhaft und doch einladend. Er liebte den Anblick. Er liebte seine Stadt, gestand Jung sich ein.

Er riss sich von dem Anblick los und sah nach vorn. Er erkannte sie sofort. Unter den vielen Passanten auf der Pier stand sie weit vorne, am Liegeplatz des Salonschiffs Alexandra. Sie musterte den Oldtimer, eine vielbewunderte Attraktion Flensburgs. 1986 hatte der damalige Besitzer den Dampfer einem Verein geschenkt, deren Mitglieder die alte Lady nicht missen mochten. Sie hatten das Überbleibsel aus vergangenen Seefahrerzeiten vor dem Verschrotten gerettet. Seitdem ist die 1908 gebaute »Alex«, wie sie die Flensburger liebevoll nennen, der letzte seegehende Passagierdampfer Deutschlands.

Jung konnte sich nicht vorstellen, dass Charlotte großes Interesse an dem Schiff hegte. Nostalgisch angehauchte Schwärmerei hatte er noch nie an ihr festgestellt. Dazu war sie nicht der Typ. Ihre Stärken lagen woanders. Sie lebte im Jetzt, hatte einen pragmatischen Verstand und ein breitgestreutes Wissen über alles, was den Alltag der Menschen bestimmte: Gesundheit und Krankheit, Fitness und Ernährung, Computer und das Leben im Internet. Er hatte ihre Fähigkeiten schätzen gelernt, gelegentlich sogar bewundert.

Sie war nicht zu übersehen. Er hätte darauf gewettet, sie in jeder erdenklichen Verkleidung auf der Stelle wiederzuerkennen: groß, um die 1,80, sportliche, makellose Figur, kurzer, kunstloser Haarschnitt, bis auf den dezenten Lippenstift ungeschminkt. Das letzte Mal war sie in gelbem Ölzeug bei strömendem Regen gekommen. Heute war sie gekleidet wie bei ihrem ersten Zusammentreffen: helles Sweatshirt, kurze, braune Lederjacke, Kaki-Jeans und flache Leinenschnürschuhe. Ein Rock, ein Kleid oder ein Hosenanzug wären eine Sensation gewesen. Sie sah ungeheuer gesund aus. Tomas Jung empfand so etwas Ähnliches wie Freude.

*

Sie wandte sich ab und blickte in Jungs Richtung. Sie hatte ihn genauso schnell entdeckt wie er sie. Beide setzten sich in Bewegung, als triebe sie etwas Unsichtbares an.

»Der Boss hat mir gesagt, wo ich Sie treffe«, sagte Charlotte Bakkens, als sie Tomas Jung zur Begrüßung die Hand entgegenstreckte.

»Moin, Charlotte.« Lächelnd nahm er ihre Hand. »Warum lässt du dich nicht endlich versetzen? Du hast hier öfter zu tun als in Kiel.«

»Moin, Chef. Ich denk mal drüber nach.« Sie lachten und ließen voneinander ab.

»Ihre Frau hat angerufen. Das soll ich Ihnen vom Boss ausrichten«, sagte sie bedeutungsvoll.

»Okay. Bist du schon in den neuen Fall eingeweiht?«, überging er ihre Bemerkung.

»Der Anruf schien wichtig. Sonst hätte er mir nicht aufgetragen, Sie zu informieren«, blieb Charlotte hartnäckig.

»Ich kümmere mich darum. Später.«

Charlotte fixierte ihn aufmerksam. Jung registrierte ihren skeptischen Blick.

»Weißt du, um was es in unserem neuen Fall geht?«, fragte er noch einmal.

»Im Großen und Ganzen, ja«, erwiderte sie unbeteiligt.

»Das Große und Ganze. Was ist das?«, hakte Jung nach und setzte sich langsam in Richtung Polizeiinspektion in Bewegung.

»Der Polizeipräsident wollte mich sehen. Das ist ganz was Neues. Ich war so was von nervös, Chef«, erklärte Charlotte mit gespieltem Entsetzen. Jung lachte.

»Es geht um ein paar vermisste Personen auf Sylt«, fuhr sie fort. »Wir sollen sie finden. Schnell. Das schien ihm wichtig zu sein. Was soll das? Schnell soll es doch immer gehen, oder?«

»Ansonsten nichts?«

»Er schien ein gesteigertes Interesse zu haben. Warum, weiß ich nicht.«

»Typisch«, lachte Jung.

»Wissen Sie mehr, Chef?«, fragte Charlotte unsicher.

»Nicht wirklich. Holtgreve hat einige wenige Andeutungen gemacht. Mehr nicht.«

»Andeutungen. Was für Andeutungen?«

»Wir sind oben aufgefallen, Charlotte«, lachte Jung spitzbübisch.

»Oben? Sie meinen, beim Präsidenten?«

»Bei dem Minister, dem Generalstaatsanwalt, dem Präsidenten. Ja, die da oben. Sie lieben uns, seit wir den Mordfall auf Sylt so schnell und geräuschlos begraben haben.«

»Lieben? Das kann nicht wahr sein«, amüsierte sich Charlotte.

»Der Präsident hat deinen Fernsehauftritt in den höchsten Tönen gelobt, Charlotte. Holtgreve übrigens auch.«

»Hört sich gut an. Und was weiter?«

»Sie wollen uns weiter lieben können. Das heißt, wir sollen ihnen aus der Patsche helfen.« Jung grinste in sich hinein.

»Welche Patsche? Reden Sie doch nicht so drum herum. Ich komme mir schon ganz blöd vor.«

»Lies die Akten. Dann weißt du mehr. Vielleicht kommt dir die eine oder andere Idee. Wir unterhalten uns anschließend.«

Sie waren angekommen. Die Polizeiinspektion lag schräg gegenüber. Der neben dem Eingang angeschraubte Wegweiser zu den verschiedenen Dienststellen war nach der Neuordnung der Inspektion entfernt worden. Nur der blaue Leuchtkasten war übrig geblieben. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte man in dem Gebäude eher ein kleines, feines und teures Hotel alter Pracht vermuten können. In Paris oder anderen französischen Städten fand man sie noch, ausgestattet mit edlen Stilmöbeln und schweren Teppichen. Aber zu Flensburg hätte das nicht gepasst. So stellte sich die Frage, wozu das Gebäude früher gedient haben mochte. Es musste aus der Gründerzeit stammen, die Stilrichtung war nicht eindeutig zuzuordnen. Die Fassade war reich ornamentiert. Simse, Steinmetzarbeiten und schmiedeeiserne Geländer vor Balkonen und Austritten zierten die Vorderfront. Vor einiger Zeit hatte es einen strahlend weißen Außenanstrich erhalten. Es hob sich auch deswegen vorteilhaft von der ebenfalls dekorativen Nachbarschaft ab.

»Moin, Herr Oberrat«, begrüßte sie der wachhabende Beamte am Eingang.

»Moin, Petersen. Das ist Charlotte Bakkens, Kriminalkommissarin aus Kiel. Sie wird die nächste Zeit bei uns sein«, stellte Jung seine Begleiterin vor.

»Schön. Wenn Sie etwas brauchen sollten, Frau Kommissarin, ich bin immer für Sie da«, sagte Petersen und lächelte charmant.

»Ich werde Sie bei passender Gelegenheit daran erinnern, Hauptwachtmeister«, lächelte Charlotte zurück.

Jung setzte sich in Bewegung und Charlotte folgte ihm auf dem Fuß.

»Das Gesülze hat er sonst nicht drauf«, flüsterte Jung ihr ins Ohr.

»Bei Ihnen wäre das auch völlig unangebracht, Chef«, flüsterte sie zurück und lachte.

Jung streifte sie mit einem irritierten Blick und strebte dem Treppenhaus zu.

»Die Akten sind bei mir«, wandte er sich an sie, als sie das Stockwerk erreicht hatten, auf dem sein Büro lag. »Hast du schon einen Schreibtisch und einen PC?«

»Ja. Der Boss hat das bereits geregelt. Ich sitze unten, gleich neben Petersen. Meinen Laptop habe ich auch mitgebracht.«

»Gut. Dann komm mit.«

In seinem Zimmer händigte Jung ihr die Akten aus.

»Ich warte auf deine Ideen, Charlotte«, sagte er schmunzelnd.

»Und Sie denken an den Anruf, Chef?«, entgegnete Charlotte, während sie die Tür hinter sich schloss. Jung ließ sich seufzend in seinen Bürostuhl fallen.

*

Sie warf die Akten auf den Tisch und stellte ihre Segeltuchtasche daneben. In letzter Zeit waren ein paar findige Newcomer in der Modeszene auf die Idee gekommen, aus dem Leder alter Turngeräte, ausrangierten Armeezelten und ausgemusterten Segeln Taschen zu fertigen. Die Materialien hatten alle Strapazen der Vergangenheit überstanden. Sie waren einfach unverwüstlich. Deswegen hatte sich Charlotte für sie entschieden. Aber nicht allein deswegen. Die Taschen waren sorgfältig verarbeitet. Auf handwerkliche Qualität legte sie Wert. Nicht zuletzt schätzte sie den sportlichen Chic. Die schwarze Fünf auf der Vorderseite erinnerte sie an das Alter, in dem sie sich unwiderruflich entschieden hatte, Polizistin zu werden. Für sie war die Fünf eine geheime Botschaft, die ihr ungeahnte Kräfte verlieh. Bis zu diesem Augenblick waren sie noch nie versiegt.

Sie packte ihren Laptop aus. Smartphone und Portemonnaie ließ sie in der Tasche. Den Rest hatte sie im Auto. Für ein paar Tage außer Haus benötigte sie nicht viel. Eine kleine Reisetasche, ebenfalls aus weißem Segeltuch, genügte ihr. Den meisten Platz nahm ihre Joggingausrüstung in Anspruch. Ohne Joggen würde ihr etwas fehlen. Es gehörte zu ihrem Leben wie Essen und Trinken. Vorhin hatte sie schon eine attraktive Laufstrecke ausgekundschaftet. Die Promenade entlang um die Hafenspitze herum auf die andere Seite, hinauf auf das Steilufer – eine geeignete Treppe für eine verschärfte Härteübung würde sich da schon finden lassen – und wieder zurück zu ihrem Hotel unweit der Polizeiinspektion.

Das Hotel gefiel ihr nicht. Die genormte Plastik-Nasszelle jagte ihr Schauer über den Rücken. Sie wollte da nicht bleiben und würde sich eine neue Unterkunft suchen. Vielleicht sollte sie den Hauptwachtmeister an der Wache beim Wort nehmen.

Sie setzte sich auf den einfachen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Es war das einzige Sitzmöbel in ihrem Büro, wenn man den Raum überhaupt so nennen wollte. Er wirkte wie die ehemalige Arrestzelle für orientierungslose Betrunkene, festgenommene Nutten oder rabiate Randalierer. Das musste schon eine Weile her sein. Jetzt gab es neben Tisch, Stuhl und Aktenablage ein Telefon, einen PC mit Zugang zum Internet und dem Netzwerk der Polizei. Mehr brauchte sie auch nicht. Tageslicht wäre schön gewesen. Sie tröstete sich bei dem Gedanken, dass ihre Verweilzeit hier ohnehin nicht lang dauern würde. Die Suche nach den Vermissten würde sie ganz gewiss nach außerhalb führen. Sylt war nicht gerade ihr Lieblingsplatz. Aber sie hatte hier ihren ersten spektakulären Erfolg als Kriminalbeamtin gehabt. Und das versöhnte sie mit der Aussicht, wieder dort hinzumüssen.

Sie schlug die erste Akte auf. Die Vermisste, Goscha Müller, war 53 Jahre alt, eine Witwe aus Düsseldorf. Zuletzt hatte sie mit ihrer Schwester vom Bahnhof Niebüll aus telefoniert. Ihre ältere Schwester erwartete sie in ihrem Ferienhaus in Rantum. Gosche Müller hatte sie gebeten, sie vom Bahnhof in Westerland abzuholen. Sie war dort nie angekommen. Die Schwester meldete sie nach zwei Tagen als vermisst.

Der Zweite war ein Mann, Helmut Bohl, er wohnte in Berlin und war auf dem Weg in den Urlaub gewesen. Seine Frau war vorausgefahren und hatte sich im Hotel Stadt Hamburg in Westerland einquartiert. Er war 55 Jahre alt. Sein Beruf als Fondsmanager hatte ihn auf dem Festland aufgehalten, sodass er erst später zu seiner Frau stoßen wollte. Von Niebüll aus hatte er seine Frau über seine Ankunft in Westerland informiert. Sie wartete vergeblich. Als sie die nächsten zwei Tage nichts von ihm hörte, ging sie zur Polizei und gab eine Vermisstenanzeige auf.

Die dritte Vermisste, Gisela Terhegen, war ebenfalls in den Fünfzigern: Eine verheiratete Frau, wohnhaft in Köln und allein unterwegs nach Sylt. Sie hatte von Niebüll aus mit dem Facilitymanager der Eigentumsanlage in Westerland telefoniert, in der sie ein Apartment hatte. Sie hatte ihn angewiesen, ihre Wohnung für einen längeren Aufenthalt herzurichten und mit dem Nötigsten zu versorgen. Im Klartext hieß das, er sollte die Betten neu beziehen und den Kühlschrank auffüllen. In der Folgezeit hatte sie nichts mehr von sich hören lassen, weder beim Hausmeister noch bei ihrem Mann. Eine Woche später hatte der Ehemann seine Frau als vermisst gemeldet.

Der Vierte, Jens Eilers, fiel durch sein Alter aus dem Rahmen. Er war Anfang 30, hatte eine führende Position als Projektmanager eines Baukonsortiums. Zur Zeit seines Verschwindens leitete er die millionenschwere Konversion eines ehemaligen Militärgeländes an der Ostsee. Er hatte sein Segelboot in List auf Sylt liegen. Seine Mutter hatte mit ihm zuletzt am Telefon gesprochen, als er in Niebüll den Zug bestieg, um ein Segelwochenende auf der Nordsee zu verbringen. Das war das letzte Lebenszeichen von ihm gewesen. Der Liegeplatz im Lister Hafen blieb leer. Seine Mutter meldete ihn am darauffolgenden Dienstag als vermisst.

Den Akten waren Fotos beigeheftet. Sie zeigten gut frisierte Köpfe und gepflegte Gesichter, wie man sie auf Anzeigen für Kreuzfahrtschiffe und Bildungsreisen nach Kappadokien fand.

Allen Fällen gemeinsam war, dass sie jeweils an einem Freitag vom Bahnhof Niebüll aus Kontakt zu ihren Angehörigen hatten und die Züge, die sie vermutlich bestiegen hatten, mit demselben Bahnpersonal unterwegs waren.

Charlotte Bakkens lehnte sich zurück. Das gibt eine Menge Arbeit, dachte sie. Zum Glück war sie frei, musste keine Rücksicht nehmen, etwa auf eine feste Beziehung oder gar eine Familie. Es hatte in der Vergangenheit den einen oder anderen Mann in ihrem Leben gegeben. Aber warum musste immer alles gleich so kompliziert werden? Warum konnte es nie dabei bleiben, ein paar unbeschwerte Stunden oder auch eine Nacht miteinander zu verbringen, Spaß zu haben und dann wieder an die Arbeit zu gehen?

Sie schüttelte den Kopf. Ideen sollte sie haben, hatte der Chef gesagt. Welche Ideen? Niebüll und das Bahnpersonal am Freitag waren allen Fällen gemeinsam. Dem Kollegen vor ihr war das natürlich sofort aufgefallen und er war diesem Aspekt zuerst hinterhergestiegen. Ohne handfestes Ergebnis. Langweilig, höchstwahrscheinlich auch nutzlos, da weiterzumachen. Was gab es noch? Das Alter der Vermissten war eine weitere Gemeinsamkeit. Bis auf eine Ausnahme gehörten sie der älteren Generation an, Menschen im besten Alter mit Geld. Sylt, teure Hotels, Ferienwohnungen ließen darauf schließen. Wahrscheinlich gab es noch mehr als das, was in den Akten festgehalten worden war. Auf Neudeutsch hießen diese Menschen »Bestager«. Der junge Typ machte da keine wirkliche Ausnahme. Er war Eigner eines Segelbootes mit Liegeplatz im Lister Hafen. Geld schienen sie also alle zu haben. Aber was hieß das schon? Man konnte daraus alle möglichen Schlüsse ziehen. Was noch?

Zuerst einmal sollte sie die Personen googeln, dachte sie. Vielleicht ergaben sich ein paar versteckte Hinweise, wo und wie sie weiterkommen konnten. Sie mussten sich den vermissten Personen nähern. Das hatte sie von Jung gelernt. Tätern und Opfern auf den Pelz zu rücken, das Innerste nach außen zu kehren, das war das Geheimnis eines erfolgreichen Ermittlers.

Sie packte ihren Laptop aus, stellte die Tasche neben den Stuhl und entriegelte die Klappe.

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