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Mittagessen

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Jung sah auf die Uhr. Nur noch ein paar Minuten bis Mittag. Tiny müsste schon längst gelandet und auf dem Weg an die Algarve sein. Hoffentlich hielt er sich an die Absprache und machte keinen Blödsinn. Ihm war alles zuzutrauen. Manchmal sogar verblüffend Schlaues. Aber bitte nicht jetzt, seufzte Jung. Berechenbarkeit war ihm lieber. Der Kerl ging ihm auf den Geist. Er passte ihm absolut nicht in den Kram. Was mach ich mit ihm, wenn er hier antanzt?, fragte er sich.

Jung nahm seine alte Lederjacke vom Haken und stieg das Treppenhaus hoch in den obersten Stock. Die Tür zu Holtgreves Bürosuite stand wie immer offen. Als er Jung auf dem Flur hörte, rief er ihn zu sich herein. Jung hatte stets das Gefühl, als hocke sein Chef den ganzen Tag mit gespitzten Ohren hinter seinem Schreibtisch, um auch ja nichts zu verpassen, nicht einmal das flüchtige Rascheln einer imaginären Maus in den Wänden des alten Gemäuers. Früher hatte ihn das gestört, jetzt nicht mehr. Holtgreve las in einem Papier, das er, die Ellenbogen auf die Schreibunterlage gestützt, vor sich in den Händen hielt.

»Ich bin gleich so weit. Sekunde«, murmelte er, ohne aufzusehen.

Das Büro war etwas größer als die Büroräume auf den unteren Fluren. Das Mobiliar unterschied sich nicht von dem der anderen. Etwas neuer vielleicht, nicht so abgenutzt wie beim Volk unter ihm. Holtgreve umgab sich nicht mit Protz und Prunk. Jung hatte das auch früher schon registriert, aber nie bewertet. Heute buchte er die ausgestellte Bescheidenheit auf das Pluskonto des Leitenden.

»Okay. Ich bin so weit. Gehen wir«, meldete sich Holtgreve, erhob sich und griff seinen Mantel von der Garderobe. Er hatte es eilig. Jung folgte ihm wortlos.

Die Walzenmühle lag in Flensburgs Neustadt. Der Stadtteil begann am Nordertor, dem historischen Wahrzeichen Flensburgs. Nordwärts, rechts und links der Apenrader Straße, erstreckten sich ein paar Straßenzüge mit Mietskasernen aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts. Das Gewerbegebiet entlang der Förde gehörte ebenfalls zur Neustadt. Früher gab es dort einen großen Schlachthof mit Restaurant. Heute lagen noch die Werft der Flensburger Schiffbau-Gesellschaft und die Stadtwerke auf dem Areal. Die Neustadt galt lange als der Hinterhof der Stadt, in dem sich Türken angesiedelt und ihre Basare und Teestuben aufgemacht hatten. Seit geraumer Zeit entwickelte sich das Viertel zu einer lebendigen Multi-Kulti-Gemeinde, die bereits die Große Straße südlich des Nordertors erfasst hatte. Die Walzenmühle war vor einigen Jahren entkernt und in ein Dienstleistungszentrum umgewandelt worden. Im Erdgeschoss hatte das Weinkontor Roberto Gavin Platz gefunden. Ein Bistro wurde dem Kontor angegliedert.

Sie hatten es nicht weit. Holtgreve war gut zu Fuß und Jung hatte Mühe, ihm zu folgen. Er war kurz davor, ihn zu bitten, etwas langsamer zu gehen. An eine Unterhaltung war nicht zu denken. Nach einer knappen Viertelstunde saßen sie an ihrem Tisch und studierten die Speisekarte.

»Du hast es aber mächtig eilig, Henning«, bemerkte Jung nach einer Verschnaufpause.

»Ja, entschuldige. Mir geht so viel durch den Kopf. Ich muss höllisch aufpassen. Die Lage ist prekär.«

»Prekär?«, fragte Jung erstaunt. »Darf ich fragen, warum?«

»Ich komme gleich dazu. Lass uns zuerst bestellen.«

Holtgreve winkte der Bedienung. Er entschied sich für Tagliatelle in Rotweinsauce mit Paprika und gebratenem Schweinefilet. Jung nahm Muschelnudeln in Proseccorahm mit Scampi und Zucchini.

»Was wünschen die Herren zu trinken?«, fragte die Bedienung.

»Mach du das, Tomas. Du bist doch der ›King of wines‹.«

Woher hat er das denn, dachte Jung und studierte angestrengt die Karte.

»Wir nehmen eine Flasche Primitivo aus dem Mezzogiorno«, entschied er schließlich. »Er passt zu den Tagliatellen.«

»Gute Wahl, mein Herr.« Die Bedienung deutete eine Verbeugung an und ließ sie allein.

»Du wolltest mir etwas erklären, Henning«, leitete Tomas Jung das Gespräch ein.

»Richtig.« Holtgreve hielt inne und schien im Zweifel, wie er fortfahren sollte.

»Hat es etwas mit den Vermissten zu tun, um die ich mich kümmern sollte?«, half Jung ihm auf die Sprünge.

»Genau. Es gibt da eine Besonderheit, die mir Kopfzerbrechen macht. Es könnte eine Menge davon abhängen, wie wir mit der Sache umgehen. Eine delikate Angelegenheit, Tomas. Höchste Alarmstufe.«

Jung wusste mit den ominösen Andeutungen seines Chefs nichts anzufangen und schwieg. Schließlich schien Holtgreve gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte.

»Kennst du eigentlich einen von den Vermissten? Hast du ihre Namen schon einmal gehört oder von ihnen in der Zeitung gelesen?«

»Nein? Sollte ich?« versetzte Jung.

»Der Letzte auf der Liste ist der Sohn eines einflussreichen Mannes. Er war Vorstand eines, nach eigenem Selbstverständnis, mächtigen Geldinstitutes. Ich würde eher sagen, eines von regionaler Bedeutung. Trotzdem ein Mann mit Beziehungen«, sagte Holtgreve mit einer Mischung aus Respekt und Herablassung.

»Wer? Der Vater oder der Sohn?«

»Der Vater.« Holtgreve schwieg und sah Jung in die Augen. Jung las darin die Erwartung, dass er die richtigen Fragen stellte.

»Der Letzte auf der Liste heißt Jens Eilers«, bemerkte Jung. »Der Name sagt mir nichts. Von dem Vater habe ich auch noch nie gehört.«

»Liest du nicht das Tageblatt? Dann müsstest du Jan Eilers, den Vater, eigentlich in guter Erinnerung haben. Oder besser, in schlechter.«

»Ich lese keine Tageszeitung«, stellte Jung fest und kam sich blöd vor.

»Er war vor langer Zeit mal das Hätscheltierchen des Chefredakteurs. Dann hat er sich verdächtig gemacht und wurde der Buhmann. Jede Menge vor Moral und Selbstgerechtigkeit triefende Leitartikel. Ekelerregend.«

»Du sagtest, er war Vorstand«, kam Jung zurück zum Thema. »Was ist er denn jetzt?«

»Er ist Anlageberater.«

»Für Leute mit zu viel Geld.«

»Für Geldanleger«, erwiderte Holtgreve sachlich. »Er ist auch der Geschäftsführer einer Wohnungsbaugesellschaft.«

»Aha. Welche Rechtsform?«, forschte Jung süffisant.

»GmbH & Co. KG. Sie heißt ›Team Futuro‹.«

»Und er ist auch Kommanditist, oder?«

Holtgreve nickte bestätigend. »Er hält die Mehrheitsanteile.«

»Aha, perfekt. Warum ist er eigentlich kein Banker mehr?«

»Er passte nicht mehr in die Landschaft. Das ist eine lange Geschichte. Ich will das an dieser Stelle nicht vertiefen. Nur so viel: Ihm wurde nahegelegt, sich zurückzuziehen. Die Argumente müssen ausgereicht haben, dass er dem freundlichen Verlangen seines Aufsichtsrates widerstandslos gefolgt ist. Jedenfalls drang nichts Gegenteiliges nach draußen.«

»Sie reichten aber nicht aus, ihn in den Knast zu bringen«, folgerte Jung.

»Ich nehme an, er wusste zu viel. Er hätte den einen oder anderen mitgenommen. Über die Namen hätten wir uns sicherlich gewundert. Wenn diese Leute ins Straucheln kommen, kennen sie kein Pardon.«

Jung überkam die Lust weiterzufragen. Er hielt sich aber zurück und sagte: »Es geht um seinen Sohn. Reden wir über ihn.«

»Genau das ist das Problem. Wenn wir über den Sohn reden, müssen wir auch über den Vater reden. Er …«

»Wieso das denn?«, fiel Jung ihm ins Wort. »Ist der auch verschwunden?«

»Nein, nein«, winkte Holtgreve ab. »Aber Eilers senior versucht, Einfluss auf die Ermittlungen zu nehmen. Über den Innenminister, den Polizeipräsidenten, den Generalstaatsanwalt. Ich bin der Letzte in der Kette. Bei mir landet die Arbeit. Verstehst du?«

»Nicht so ganz. Er war einmal mächtig, mag sein. Aber heute ist er einer von vielen. Im Übrigen ist es ganz egal, was er war oder was er ist. Alle Versuche, Einfluss zu nehmen, müssen zurückgewiesen werden. Oder sehe ich das etwa falsch?«

»Nein. Natürlich hast du recht. Dennoch …«

»Ich verstehe. Man muss Rücksicht nehmen. An höherer Stelle, nicht wahr?«, höhnte Jung.

»Ich selbst weiß nichts Genaues. Aber es gibt Gerüchte. Es werden üble Geschichten über ihn erzählt. Er soll schon als Student in Kiel …«

Holtgreve unterbrach seine Rede, weil die Bedienung mit der Flasche an ihren Tisch trat und einen Probeschluck einschenkte.

»In Ordnung, danke«, nickte Jung dem Mann zu und wartete, bis er außer Hörweite war. Dann wandte er sich wieder seinem Chef zu.

»Mein Gott, Henning. Das kennen wir doch zur Genüge. Gerüchte, Intrigen, Neider, üble Nachrede und so weiter und so fort. Alles Gelaber, nichts als Getuschel und Gemauschel.« Jung schüttelte angewidert den Kopf.

Holtgreve hatte gerade nach seinem Weinglas gegriffen und setzte es wieder ab, als hätte ihn ein Insekt gestochen. Er sah Jung intensiv an. Dann sagte er mit Nachdruck: »Dieses ›Gelaber‹, wie du es auszudrücken beliebst, bewegt das Wohl und Wehe der ganzen Menschheit. Darüber solltest du dir mal Gedanken machen, mein Lieber, anstatt den Gutmenschen und Besserwisser raushängen zu lassen.«

Jetzt stellte auch Jung sein Weinglas ab. Er fühlte sich bis ins Mark getroffen. Ein ungewohntes Gefühlskonglomerat machte sich in ihm breit: Wut, Angst und Trotz, begleitet von einer Art Respekt. Noch nie zuvor hatte er Holtgreve gegenüber ähnlich empfunden. Nur mühsam behielt er seinen Gleichmut bei. Holtgreve nahm einen langen Schluck.

»Was hat Eilers senior denn tatsächlich unternommen? Was hast du damit zu tun?«, nahm Jung scheinbar ungerührt das Gespräch wieder auf.

»Er hat den Generalstaatsanwalt und den Polizeipräsidenten ersucht, ihn über den Fortgang der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten.«

»Sein Sohn ist verschwunden. Da ist der Wunsch verständlich«, warf Jung ohne Überzeugung ein.

»Aber nach Gesetz und Recht nicht statthaft. Das hast du bereits richtig angemerkt. Er hat keinen Anspruch auf Extrawürste. Er könnte die Ermittlungen beeinflussen, im schlimmsten Fall torpedieren. Mit ziemlicher Sicherheit aber komplizieren. Das weißt du so gut wie ich.«

»Okay. Meinetwegen. So könnte es sein, muss aber nicht. Ich sehe da nicht unbedingt eine Zwangsläufigkeit.«

»Du kennst die Kreise nicht, in denen die sich bewegen, Tomas.«

»Mag sein. Aber ist das ein Grund, die höchste Alarmstufe auszurufen? Wo ist das wahre Problem?«

»Dass Eilers an allerhöchster Stelle Gehör gefunden hat. Gegen die üblichen Regeln, um das noch einmal zu betonen. Und genau das ist das Problem. Das lässt auf nichts Gutes schließen. Auf gar nichts Gutes«, sagte Holtgreve beschwörend. »Der Polizeipräsident hat mich in Kenntnis gesetzt.«

»Er bindet dich ein, Henning. Korrekt von ihm, könnte man sagen.«

»Tomas, ich bitte dich. Sei doch nicht so furchtbar naiv. Wenn der Polizeipräsident mich anruft, dann will er was von mir. Dann hat er ein Problem. Und ich anschließend auch. Er sagt mir durch die Blume, ich soll ihm helfen, sein Problem aus der Welt zu schaffen. Vielleicht hat er sogar mehrere. Hier geht es nicht um Belanglosigkeiten. Das rieche ich. Ich habe das schon zu oft erlebt.«

Tomas Jung hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Er war es leid, sich einen Gutmenschen, einen Besserwisser oder naiv nennen zu lassen. Sogar Charlotte bezichtigte ihn einer sauren Moral und nannte ihn altmodischen Tugendbold. Svenja tutete ins gleiche Horn und haute ihm den ganzen Kram noch einmal um die Ohren. Auf welchem Thron saßen sie eigentlich, dass sie sich das erlauben durften? Reichte es, Vorgesetzter oder Frau zu sein? Er war Polizist, ›Ordnungshüter‹ war ein anderer Name für das, wofür er bezahlt wurde. Holtgreve übrigens auch. Recht und Gesetz durchzusetzen und zu schützen, war ihr Beruf. Was war daran altmodisch? Gewaltenteilung, Beweisbarkeit, Schutz vor Übergriffen, Unschuldsvermutung, Nichteinmischung, Verschwiegenheit und so weiter und so fort. Das waren, neben vielen anderen, Eckpfeiler dieser Ordnung, Werte, auf die sich die Gesellschaft in Deutschland verständigt hatte und an die er glaubte. Aus Überzeugung. Er spürte ein großes Verlangen, das lauthals in die Welt zu brüllen. Tomas Jung schwieg verbissen.

Holtgreve griff zu seinem Glas. Jung machte es ihm nach. Die anderen waren einfach schlauer, dachte er, während er einen zweiten Schluck nahm. Holtgreve war Inspektionschef geworden, nicht er. Und Frauen waren unangreifbar, solange sie ihre soziale Kompetenz ausspielten. Sie hatten eine feine Witterung dafür, wo sozialer Abstieg drohte, Gefahr für Leib und Leben bestand, vor allem von Kindern, oder überflüssige Opfer gebracht werden sollten. Jung setzte langsam sein Glas zurück.

»Was hat er für ein Problem?«, fragte er mit gespielter Gleichgültigkeit.

»Das hat er natürlich nicht explizit gesagt. Aber …«

»Natürlich? Ich finde das nicht natürlich. Ich finde das verlogen«, giftete Jung.

»Natürlich oder verlogen, das ist doch völlig wurscht, Tomas. Er hat Angst vor der Öffentlichkeit. Das spüre ich. Presse und Medien sollen unter allen Umständen außen vor bleiben. Keine Schlagzeilen, keine Homestory, keine Interviews, keine Fotografen vor der Haustür. Was nicht in den Medien erscheint, existiert auch nicht. Verstehst du?«

»Wie will er das bewerkstelligen? Wir leben nicht …«

Jung brach ab, weil der Kellner das Essen brachte. Sie hoben ihre Gläser und wünschten sich guten Appetit. Dann machten sie sich über ihre Teller her. Schon nach wenigen Bissen kam Holtgreve zurück zur Sache.

»Der Präsident will, dass du die Sache in die Hand nimmst. Er besteht darauf«, erklärte er mit Nachdruck.

»Ich?«, reagierte Jung erstaunt. »Ich bin Leiter des S-Kommissariats bei der Bezirkskriminalinspektion Flensburg, Henning. Ich bearbeite unaufgeklärte Kapitalverbrechen, nicht Vermisstenanzeigen. Weiß er das?«

»Oh ja. Das weiß er ganz genau. Er hat aber darauf verwiesen, dass du durchaus zuständig sein könntest. Er ist nicht dumm. Er …«

»Das weiß ich, Henning. Er wäre sonst nicht da, wo er ist«, warf Jung ein.

»Er ist listig, Tomas. Das solltest du dir gut merken.«

»Okay, okay. Ich weiß. Aber warum ich?«

»Die Fälle sind nicht abgeschlossen. Also unaufgeklärt. Keiner weiß, was passiert ist. Verbrechen drängen sich als Erklärung geradezu auf. Da hat er einfach recht. Das musst du zugeben, Tomas.«

Holtgreve kaute schweigend und sah Jung durchdringend an.

»Am Anfang ist immer alles unaufgeklärt«, sagte Jung lahm. »Das kann nicht der Punkt sein. Es gibt ein paar Menschen, die sich verdünnisiert haben. Nichts deutet bislang darauf hin, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Vielleicht haben sie keine Lust mehr auf unsere Gesellschaft. Einer von ihnen ist der Sohn eines abgehalfterten Bankvorstandes. Wenn an den Gerüchten etwas dran ist, dann braucht der Junior vielleicht mal ’ne Erholungspause von dem Alten. Darauf würde ich zuerst tippen.«

Holtgreve lachte gequält.

»Tomas, ich bitte dich, reg dich nicht auf. Ihr habt die volle Unterstützung und das uneingeschränkte …«

»Ihr?«, ging Jung dazwischen. Seine mühsam bewahrte Beherrschung begann zu bröckeln. »Wer ist das denn? Das wird ja immer abenteuerlicher, Henning.« Jung stocherte fahrig in seinen Nudeln herum. Er ahnte Schlimmes. Ihm begann der Appetit zu vergehen.

»Lass mich bitte ausreden, Tomas. Ich mach es kurz. Du und die Kollegin Bakkens seid oben positiv aufgefallen. Sehr positiv. Den letzten Fall habt ihr geräuschlos und vor allem beeindruckend schnell abgewickelt. Der Auftritt der Kollegin Bakkens vor den Medien hat den Präsidenten begeistert. Das war eine brillante Idee von dir, mein Lieber. Cool, professionell, attraktiv. Beste Werbung für die Polizei. So seine eigenen Worte. Wenn ihr die vorliegende Angelegenheit ebenso erledigt, dann seid ihr oben angekommen, Tomas. Dann stehen euch alle Türen offen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«

Jung starrte Holtgreve entgeistert an.

»Bevor ich durch irgendeine Tür gehe, habe ich aber die totale Arschkarte. Überleg doch mal, Henning. Kopper-Carlson ist schon eine Ewigkeit an der Sache dran. Er hat …«

»Eilers junior steht erst seit ein paar Tagen auf der Liste«, unterbrach ihn Holtgreve. »Kopper-Carlson kann also noch gar nicht richtig losgelegt haben.«

»Er war fleißig«, ließ Jung sich nicht beirren. »Seine Ermittlungen sind akribisch und umfassend. Ich habe die Akten gelesen. Und jetzt soll ich den ganzen Kram in Nullkommanichts in die Archive bugsieren.« Tomas Jung lachte grimmig. »Daran kannst du nicht ernsthaft glauben.«

»Kriminaldirektor Tomas Jung zusammen mit Kriminaloberkommissarin Charlotte Bakkens. Doch, Tomas. Ich …«

»In spe, Henning, in spe. Wenn überhaupt. Was ist, wenn …«

»Tomas, reg dich ab«, beschwor ihn Holtgreve. »An deiner Stelle …«

»Du bist nicht an meiner Stelle, Henning. Du bist …«

»Der Präsident hat sie bereits informiert«, machte Holtgreve dem Wortgefecht ein Ende. »Sie ist auf dem Weg zu uns.«

»Was? Er hat sie …«

Jung brach abrupt ab. Ihm wurde klar, dass die Würfel längst gefallen waren. Die Beamtenmaschinerie war angesprungen und nahm ihren Lauf. Die Probleme waren von oben nach unten bis auf die Arbeitsebene durchgereicht worden. Und da würden sie unweigerlich mit den alltäglichen Notwendigkeiten kollidieren. Krawumm! Und das Desaster begann. Nur ein Weltuntergang, ein Krieg oder Krankheit würden daran etwas ändern können. Die beiden ersten waren nicht in Sicht und krank wollte Jung nicht werden. Aus diesen Gründen schon gar nicht. Aber welche Motive bewegten die Leute an den Schalthebeln, das absehbare Kuddelmuddel zuzulassen? Welche Gründe könnte es überhaupt dafür geben? Vielleicht überschätzte er seine Vorgesetzten einfach.

Holtgreve schien in Jungs Gesicht zu lesen, was ihn bewegte. Er redete begütigend auf ihn ein.

»Der Präsident hat seinen Einfluss geltend gemacht und dafür gesorgt, dass ihr zu jeder Zeit und zu jedem Thema mit Eilers reden könnt. Auch mit seiner Frau. Ihr habt exklusiven Zutritt zu den beiden. Das war die Bedingung für seine Zugeständnisse. Soviel ich weiß, sind sie alte Freunde.«

»Auch das noch«, stöhnte Jung.

»Das kann durchaus von Vorteil sein, Tomas. Wenn der Präsident euch persönlich auswählt, dann zeigt er damit, dass ihr sein uneingeschränktes Vertrauen genießt. Dass er mit all seinem Einfluss hinter euch steht. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

»Sein Vertrauen. Ach du meine Güte«, brummte Jung unwillig.

»Seine Macht färbt auf euch ab. Man wird euch mit Respekt begegnen. So läuft das in den höheren Kreisen.«

Jung dämmerte, was auf ihn zukam. Er schwieg verstimmt und widmete sich seinem Essen.

Holtgreve hingegen schien erleichtert. Er aß mit sichtlichem Appetit den Rest der Tagliatelle und schloss mit einem ordentlichen Schluck Rotwein ab.

»Hervorragender Tropfen. Wie bist du auf den gekommen, Tomas?«

»Robertos Empfehlung«, antwortete Jung einsilbig. Er fühlte sich unwohl. Er ermahnte sich, höflich zu sein. Das war auf jeden Fall besser, als seinem aufkommenden Verdruss freien Lauf zu lassen.

»Nehmen wir zum Abschluss einen Espresso, Henning?«, fragte er aufgeräumt.

»Danke, Tomas. Aber ich muss los. Lass dir Zeit und denk über alles in Ruhe nach. Wir sprechen uns später.«

Holtgreve stand auf. Jung machte Anstalten, sich ebenfalls zu erheben.

»Lass stecken, Tomas. Trink deinen Kaffee. Ich zahle. Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das hin. Tschüss. Man sieht sich.«

»Tschüss, Henning. Bis später.«

Jung setzte sich und starrte vor sich hin. Was ist hier eigentlich los?, fragte er sich. Was machte ihn so sauer? Du musst das positiv sehen, versuchte er sich zu überzeugen. Die Anerkennung der Chefs, die Übernahme eines Falles, in dem sie sich bewähren konnten, die in Aussicht gestellte Beförderung. Andere würden darüber schier aus dem Häuschen geraten. Er nicht. Nur Charlotte versüßte ihm die Aussicht auf das heraufziehende Unheil. Die Arbeit mit ihr war immer anregend gewesen. Er konnte sogar von ihr lernen. Das war der einzige Grund sich zu freuen, neben ihrem Anblick natürlich. Sie war wirklich ein Lichtblick in dem ganzen Durcheinander.

Im selben Moment fiel ihm Tiny wieder ein. Der und seine Ängste. Er versaute alles. Sein Leben war ohnehin schon aus den Fugen. Er fühlte sich manipuliert, unter Druck gesetzt, missbraucht. Hätte ihm der Leitende nicht von Anfang an reinen Wein einschenken können? Warum musste er so tun, als stünde noch zur Diskussion, was schon längst entschieden war?

»Ihr Espresso, Signore«, sagte jemand neben ihm.

Jung fuhr auf und blickte erschrocken in das Gesicht von Roberto. Er war klein und hatte eine Halbglatze. Alles an ihm war rund und freundlich. Selbst wenn er den Mund nicht aufmachte, jeder hätte sofort erkannt, dass er Italiener war.

Jung kam gerne in sein Bistro. Er schätzte die leichte Küche. Es gab sechs Speisen auf der Karte, die wöchentlich wechselten. Nur Brot mit Dip gab es immer und gemischte Antipasti, aber die erst ab Wochenmitte. Roberto duzte seine Stammgäste und nannte sie beim Vornamen. Jung atmete auf.

»Entschuldige, ich war in Gedanken. Ich hab dich gar nicht kommen hören.«

Jung nahm die Tasse entgegen und rührte Zucker in den Kaffee.

»Ich sah dich und dachte, ich geh mal rüber«, fing Roberto an.

»Setz dich doch. Ich schätze angenehme Gesellschaft.«

»Grazie, Tomi. Gibt’s Probleme?«, fragte Roberto und setzte sich Jung gegenüber an den Tisch.

»Der Job, Roberto, der Job. Kennst du das nicht?«

»Ich jage keine Kriminellen, Tomi, ich bewirte sie.«

Sie lachten. Roberto wusste, womit Tomas Jung sich herumschlug. Sie hatten sich gelegentlich darüber unterhalten.

»Weißt du eigentlich immer, wann du einen Bösewicht vor dir hast oder einen harmlosen Zeitgenossen?«, fragte Jung amüsiert.

»Du nicht?«

»Mein Chef hat mir gerade angeraten, mehr Zeitung zu lesen. Dann wüsste ich, was mir fehlt.«

Sie lachten. Jung schlürfte seinen Kaffee.

»Zeitung lesen. Mamma mia! An was hat er dabei gedacht?«, fragte Roberto mitfühlend.

»An einen gewissen Eilers. Der Name sollte mir bekannt sein. Meint er jedenfalls. Kennst du ihn?«

»Welchen? Den Senior oder den Junior?«

»Du kennst sie also.«

»Sie sind ab und zu bei mir. Wenn das heißt, dass ich sie kenne, dann ja.«

»Gehören sie zu deinen hungrigen Kriminellen oder zu den anderen?«, fragte Jung.

Roberto schmunzelte und wiegte den Kopf.

»Warum willst du das wissen? Haben sie was ausgefressen?«, fragte er zurück.

»Nein, nein. Der Junior wird vermisst. Ich soll mich darum kümmern.«

»Ach so, ich verstehe«, kommentierte Roberto nichtssagend.

»Was verstehst du? Weißt du etwas über sie?«

»Nein, nein. Jedenfalls nichts, was dir weiterhelfen könnte.«

»Was weißt du denn über sie?«, fragte Jung neugierig.

Roberto stierte auf den Tisch und schwieg.

»Ich weiß, Roberto. Du redest nicht gerne über deine Gäste. Aber in meinem Job bin ich …«

»Sie sind sehr unterschiedlich«, unterbrach ihn Roberto ernst. »Wie Tag und Nacht, como acqua e fuoco, wie Himmel und Hölle. Du weißt, was ich meine, nicht wahr?«

»Okay. Ich weiß, was du sagen willst. Aber eine Vorstellung …«

»Der Alte ist laut, crudamente e arrogante, der Junge leise, discrete e gentile. Capire?«

»Ja, schon verstanden. Aber …«

»Reicht das nicht?«, bemühte sich Roberto, das Thema zu beenden.

»Ja. Das ist schon mal was. Aber ist dir …«

»Möchtest du zum Abschluss una Grappa?«, fragte Roberto dazwischen.

Jung fügte sich Robertos unausgesprochenem Wunsch und brach ab.

»Hast du einen, den du mir empfehlen kannst?«, fragte er freundlich.

»Habe ich tatsächlich«, erwiderte Roberto munter. »Gerade frisch reingekommen. Aus dem Friaul. Einen Grappa Il Merlot di Nonino Monovitigno. Molto fantastico. Du wirst sehen.«

»Hoffentlich schmeckt er auch so«, lachte Jung.

»Er schmeckt auch so«, echote Roberto und erhob sich.

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