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Holtgreve

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Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ja«, sagte er laut und drehte sich um.

Holtgreve betrat den Raum. Es war noch nicht lange her, dass Jung ihm lieber aus dem Weg gegangen war. Seinen Chef sehen oder sprechen zu müssen, hatte ihn Überwindung gekostet. Ihr Verhältnis hatte sich aber nach der Attacke eines Seemanns auf Jung radikal verändert.1 Jung hatte den Mann des Mordes an einer Kadettin beschuldigt. Daraufhin hatte der sich mit einem Fischmesser auf ihn gestürzt. Jung war dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen. Seitdem duzte er sich mit seinem Chef. In der Folgezeit hatte Holtgreve sich ungewohnt kooperativ und hilfsbereit gezeigt.

Jung begrüßte ihn freundlich.

»Moin, Henning. Komm rein und setz dich.«

Diese Aufforderung hätte ein Besucher von außerhalb mit Sicherheit als Zumutung empfunden. Jungs Büro glich einer Zelle, allerdings einer geräumigen Zelle. In den Augen seiner Frau war das Ambiente schäbig. Sie hatte ihn des Öfteren gefragt, wie er es aushielte, so zu arbeiten. Ein Aktenschrank, ein Aktenbock, ein Bürosessel mit verstellbarer Sitz- und Rückenlehne und ein Besucherstuhl waren neben dem Schreibtisch die einzigen Möbelstücke in Jungs Büro. Die spärliche und in vielen Jahren abgenutzte Möblierung ließ den Arbeitsraum leer und karg erscheinen. Es hätte nicht gepasst, Bilderschmuck oder andere dekorative Elemente darin unterzubringen. Früher hatte Jung sich über die armselige Ausstattung aufgeregt, heute schätzte er es, sich ohne Ablenkung auf seine Arbeit konzentrieren zu können.

»Moin, Tomas. Ich hab nicht viel Zeit. Gleich ist Lagebesprechung. Du weißt schon. Ich …«

»Was kann ich für dich tun?«, kürzte Jung die Prozedur ab.

»Ich möchte dich bitten, mit Kopper-Carlson Kontakt aufzunehmen.«

*

Kopper-Carlson! Gütiger Gott! Der auch noch, fluchte Tomas Jung lautlos. Kopper war ein Fall für sich. Mittelgroß, hager, rotblond. Er gab sich betont ruhig und besonnen und trat in der Inspektion auf als der konservative Hanseat mit einer Vorliebe für britisches Understatement. Zu diesem Zweck hatte er sich einen Gentleman-Schnauzer wachsen lassen und stellte seine Armbanduhr 20 Minuten nach. Er las in jeder freien Minute renommierte deutsche und englische Zeitungen. Es fehlte nur noch, dass er Pfeife geraucht hätte, um das Bild des überlegenen, coolen Ermittlers so perfekt rüberzubringen, dass es zu seiner eigenen Karikatur getaugt hätte. Stattdessen löffelte er Joghurt, trank Tee aus großen Bechern, pellte Bananen und kaute geräuschvoll seine mitgebrachten Äpfel. Er haderte mit der Welt, in der ihm noch nie jemand begegnet war, der in der Lage gewesen wäre, seine wahre Klasse zu erkennen und ihm die verdiente Hochachtung entgegenzubringen. Das hatte dazu geführt, dass er seine Schrullen pflegte, weil sie ihm Aufmerksamkeit zu verschaffen versprachen. Letztlich hatten sie ihm aber nur den Spitznamen »Die Diva« eingebracht. Er spielte Tennis. Da lachte er manchmal, und wenn er mit seinen dünnen, o-beinigen Stelzen auf den Platz schlurfte, dann konnte man einen Eindruck davon gewinnen, welch verträglicher, munterer Knabe er einstmals gewesen sein musste.

*

»Den Kopper? Den von den Zentralen Diensten?«, vergewisserte sich Jung seufzend.

»Genau den. Er arbeitet gerade an einigen mysteriösen Vermisstenanzeigen. Ich möchte, dass du dir das mal ansiehst.«

»Bin ich jetzt dein Mann für alle Fälle, oder was?«, frozelte Thomas

Sie lachten.

Sein Chef wiederholte: »Sieh es dir einfach mal an. Ich will deine Meinung dazu hören.« Er war schon fast aus der Tür, als Jung noch einmal nachhakte:

»Gibt es daran etwas Besonderes? Soll ich auf irgendetwas achten?«

»Sieh es dir einfach an, okay? Ich muss los. Wir sprechen nachher darüber. Gehen wir zusammen mittagessen?«

»Gerne. In die Walzenmühle?« Tomas dachte an sein klägliches Frühstück.

»Geht in Ordnung. Reservier uns einen Tisch, an dem wir ungestört reden können.«

»Okay, mach ich. Bis dann.«

»Bis dann, Tomas.«

Holtgreve rauschte aus dem Zimmer und ließ Jung ratlos zurück. Was erwartete ihn? Sein letzter Fall hatte ihn nach Sylt geführt.2 Eine vermisste Frau wurde gesucht und war gefunden worden. Zusammen mit seiner jungen Kollegin Charlotte Bakkens hatte er den Fall innerhalb einer knappen Woche aufgeklärt. Für ihre Schnelligkeit und Geräuschlosigkeit waren sie an höchster Stelle gelobt worden. Hatte Holtgreves Besuch damit zu tun? Egal. Es schien ihm wichtig zu sein und Jung beeilte sich, seiner Anweisung zu folgen.

*

Die Suche nach Kopper dauerte. In seinem Büro war er nicht zu finden. Schließlich erwischte Jung ihn in der Kantine beim zweiten Frühstück.

»Moin, Herr Kollege«, begrüßte er Kopper-Carlson. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Moin. Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie keinen Stress.«

»Haben Sie Stress?« Jung setzte sich und lächelte ihn provozierend an.

»Mehr als mir guttut. Was gibt’s denn? Holtgreve hat Sie geschickt, nicht wahr?«, fragte der Kollege, als erwarte er gar keine Antwort. »Schämen Sie sich eigentlich gar nicht?«

»Nein«, antwortete Jung trocken.

»Na klar. Sie sind ja sein Spezi.«

»Spezi? Wie kommen Sie darauf?«

»Das weiß doch jeder. Er duzt Sie. Eine äußerst zweifelhafte Ehre.«

»Womit haben Sie Stress, Kopper?«, versuchte Jung, dem Geplänkel ein Ende zu machen.

Kopper zog eine missmutige Grimasse. »Er nervt. Wie immer. Er rückt ja nie mit der Sprache heraus, unser Herr Chef. Was will er?«

»Sie bearbeiten Vermisstenfälle, ist das richtig?«, fragte Jung sachlich.

»Ja.«

»Holtgreve will, dass ich mich in der Sache schlaumache.«

»So, will er das! Ich glaube eher, dass er mich kontrollieren will.«

»Ich glaube, er möchte, dass wir vorankommen.«

Jung bemühte sich um Zurückhaltung. Er wollte etwas hören und wissen und nicht einem grantigen Kauz klarmachen, wie albern sein Gerede eigentlich war.

»Es dauert ihm zu lange. Er hat keinen blassen Schimmer, wie immer.«

»Das erwähnten Sie bereits. Nur hätte ich gerne gewusst, wovon er keinen Schimmer hat.«

»Die Fälle scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben, aber im Detail gibt es doch merkwürdige Auffälligkeiten«, ließ Kopper sich herab, seine Frage zu beantworten.

»Im Detail? Wie darf ich das verstehen, Herr Kollege?«

»Uns liegen Vermisstenanzeigen mehrerer Personen vor. Aus den letzten Wochen. Bis heute ist keiner von ihnen wieder aufgetaucht. Weder tot noch lebendig. Zwischen ihnen besteht keine Verbindung, außer dass sie allesamt zum letzten Mal vom Bahnhof Niebüll ein Lebenszeichen von sich gegeben haben. Um ganz genau zu sein: Sie haben telefoniert. Das war’s denn auch schon. Schluss, aus, vorbei.«

»Mit wem haben sie telefoniert?«

»Mit Angehörigen.«

»Und auf Sylt sind sie nicht angekommen. Oder besser gesagt, keiner hat sie danach mehr gesehen oder gehört. Richtig?«

»Richtig. Wir haben natürlich nach Augenzeugen gesucht.« Kopper lachte höhnisch.

»Deren Aussagen widersprachen sich. Nichts Verlässliches. Mit anderen Worten, wertloser Schrott«, sagte Jung.

»Genau. Sie haben es erfasst, Herr Kollege. Ich wusste gar nicht, wie messerscharf Sie kombinieren können.«

»Haben die vermissten Personen auf Sylt gearbeitet?«, ignorierte Jung Koppers überflüssige Bemerkung. »Waren sie Touristen, Urlauber, Ferienhausbesitzer oder sonst was?«

»Von allem etwas. Es gibt keine spezifischen Gemeinsamkeiten, weder was den sozialen noch was den berufsmäßigen Status anbelangt.«

»Und den geschlechtsmäßigen?«, fragte Jung harmlos.

»Völlig unspezifisch. Mann, Frau, drei Ältere, ein Junger. Vielleicht waren sie ja verkappte Homosexuelle, Lesben, Transsexuelle, Asexuelle, Intersexuelle, Pädophile. Details dieser Art sind wir noch nicht auf den Grund gegangen. Könnte sein, dass …«

»Also quer durch die Bevölkerung«, kürzte Jung Kopper-Carlsons Aufzählung ab.

»Genau.«

»Was habt ihr noch herausgefunden?«

»Nichts.«

»Nichts? Das ist wenig. Da könnte man durchaus auf die Idee kommen …«

»Hören Sie, Jung«, schnitt Kopper-Carlson ihm das Wort ab, »Sie sind offensichtlich ein ganz genialer Knabe mit außerirdischen Fähigkeiten, aber als normaler Kriminalbeamter …«

»Lassen wir das, Kopper. Ich will die Akten. Sofort. Mein Genie braucht Futter.«

»Ungern. Ich bin gerade dabei …«

»Ich hetze Ihnen den Chef auf den Hals«, unterbrach ihn Jung brutal. »Sie wissen doch, ich bin sein Spezi. Wenn Sie also …«

»Okay, okay. Werden Sie doch nicht gleich komisch. Sie kriegen ja, was Sie wollen. Morgen. Heute geht nichts mehr.«

»Ich warte, bis Sie hier fertig sind. Und dann …« Jung machte eine unmissverständliche Handbewegung und lächelte sein Gegenüber honigsüß an.

Kopper-Carlson erstarrte in empörtem Schweigen. Schließlich erhob er sich und marschierte wortlos zum Ausgang. Jung folgte ihm und grinste still vor sich hin.

*

Den Rest des Vormittags verbrachte Jung mit dem Studium der Akten. Insgesamt waren es vier Ordner. Die Tatsache, dass Niebüll der Ort ihres letzten Lebenszeichens vor der Weiterreise nach Sylt war, sprang ins Auge. Insofern war nachvollziehbar, dass Kopper-Carlson genau an dieser Stelle angesetzt hatte. Seine Bemühungen, Augenzeugen aufzutreiben, waren umfassend gewesen. Das musste Jung anerkennend einräumen. Alles in allem waren die Ergebnisse jedoch enttäuschend. Allein ein einziges Detail schien bedeutsam. In allen Fällen war das Zugpersonal dasselbe gewesen. Kopper-Carlson hatte die Zugbegleiter ordentlich in die Mangel genommen und ihr Leben akribisch durchleuchtet. Aber er konnte ihnen keine Verbindung zu den Vermissten nachweisen. Sie konnten sich an die Vermissten nicht einmal erinnern. Nach Aktenlage waren sie ihnen also absolut fremd. Das Ganze war ein einziges großes Rätsel.

Jung dachte darüber nach, wo sie suchen mussten, um einen neuen Ansatzpunkt zu finden. Irgendwo musste er sein. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Er stellte sein Grübeln nach kurzer Zeit ein. Holtgreve hatte ein Interesse gezeigt, das er sonst nicht an den Tag zu legen pflegte. Er musste Gründe dafür haben. Sicherlich war es klüger, das Gespräch beim Mittagessen abzuwarten. Holtgreve würde sich erklären. Jung war sich darin ziemlich sicher, obwohl ihr Vertrauensverhältnis noch nicht so lange währte, als dass er sich blind auf seinen Chef verlassen hätte. Vielleicht hatte er nach ihrer Unterredung Informationen, die ihm halfen, in die richtige Richtung zu denken.

1 s. »Mordsee«

2 s. »Inselroulette«

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