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Das ‚Oberhausener Manifest’ und der ‚Junge Deutsche Film’
Оглавление‚Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.’ So endet das so genannte Oberhausener Manifest, das am 28. Februar 1962 26 Literaten, Künstler und Kurzfilmregisseure während der ‚VIII. Westdeutsche(n) Kurzfilmtage Oberhausen’ unterzeichneten – unter ihnen Rob Houwer, Alexander Kluge, Hansjürgen Pohland, Edgar Reitz, Peter Schamoni, Haro Senft, Franz-Josef Spieker, Hans Rolf Strobel, Heinz Tichawsky und Herbert Vesely1:
Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Dieser neue Film braucht neue Freiheiten, Freiheit von den branchenüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. Wir haben von der Produktion des neuen deutschen Films konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen. Wir sind gemeinsam bereit, wirtschaftliche Risiken zu tragen. 2
Das ‚Oberhausener Manifest’ proklamierte revolutionär-ideologische Vorstellungen vom neuen Kino. Ein ‚neuer’ deutscher Film wurde ausgerufen.
Im deutschen Film nach 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, gab es keinen formalen und inhaltlichen Neuanfang. Das Ensemble, das schon den nationalsozialistischen Film gestaltet hatte, von den Darstellern über die Regie bis zum technischen und künstlerischen Personal, fand sich weitgehend – fast eins zu eins – im westdeutschen Nachkriegsfilm wieder. Auf der Leinwand dominierte, von einigen so genannten Trümmerfilmen vor 1950 abgesehen, die leichte Unterhaltung. Von den durchaus vorhandenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den Aufbaujahren nach dem Krieg war im westdeutschen Nachkriegsfilm – bis auf wenige Ausnahmen – kaum etwas zu sehen. Die Kinofilme der Adenauer-Ära und (Post-)Adenauer-Ära waren abgewandt von den Konflikten einer sich entwickelnden modernen Gesellschaft.
‚Einheitsware’ beherrschte den deutschen Filmmarkt: Heimatfilme, Schlagerfilme, Lustspiele, Kriminal- und Abenteuerfilme dominierten auf der Kinoleinwand. Am kommerziell erfolgreichsten wurden, in den 1960er Jahren, Filmserien nach literarischen Vorlagen der Autoren Edgar Wallace und Karl May. Die Filmserien setzten dem doch eher grauen Alltag der 1950er- und 1960er Jahre reichlich Exotik und Fremdheit gegenüber und wurden so zum filmischen Spiegel einer verunsicherten Gesellschaft. ‚Deutsche Helden’ sah man nun häufig als so genannte Westmänner im amerikanischen ‚Wilden Westen’ oder als Mitarbeiter der legendären Londoner Polizei Scotland Yard agieren. Das Kinopublikum dieser Zeit flüchtete in die Sicherheit einer festgefügten filmischen Welt, in die reine Unterhaltung.3
Neben den Aspekten Exotik und Fremdheit tauchte in den Filmen der Zeit ein weiteres Phänomen auf: Fernweh. Zahlreiche Filme boten dem Zuschauer die Möglichkeit, einer Heimat zu entfliehen, die ihm klein und provinziell erschien und die mit einer längst noch nicht verarbeiteten Vergangenheit zu kämpfen hatte. Schiffe, Flughäfen und Bahnhöfe wurden zu beliebten filmischen Locations und die große weite Welt den daheimgebliebenen Filmzuschauern in schönen Postkartenbildern gezeigt. Dabei wurde jedoch vor keinem nationalen Stereotyp zurückgeschreckt und in der ‚filmischen’ Ferne meldete sich immer wieder die Sehnsucht nach der verlassenen Heimat.4
Nur wenige Filmproduktionen dieser Zeit thematisierten kritisch die jüngste deutsche Vergangenheit, den Nationalsozialismus und seine Auswirkungen. Filme wie ‚Es geschah am 20. Juli’ (1955) von G. W. Pabst, der das fehlgeschlagene Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 behandelte, ebenso wie der zeitlich parallel gedrehte Falk Harnack-Film ‚Der 20. Juli’ (1955), oder ‚Rosen für den Staatsanwalt’ (1959) von Wolfgang Staudte, ein Film über die personelle Kontinuität vom Nationalsozialismus in das vermeintlich ‚entnazifizierte’ Deutschland‚ fanden zwar Zuschauer, blieben thematisch aber eher die Ausnahme. Das Genre des deutschen Kriegsfilms erlebte Ende der 1950er Jahre seinen Höhepunkt mit der Produktion ‚Hunde, wollt ihr ewig leben’ (1959).
Die Mehrheit der bundesrepublikanischen Zuschauer erfreute sich an Heimatfilmen wie ‚Schwarzwaldmädel’ (1950), der ersten deutschen Farbproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg und der ‚Klassiker’ der Heimatfilmwelle der 1950er Jahre, oder an ‚Grün ist die Heide’ (1951), dem größten Filmerfolg der Kinosaison 1951/52. Beide Filme drehte der Regisseur Hans Deppe; die Hauptdarsteller Sonja Ziemann und Rudolf Prack wurden ein weiteres Traumpaar des Kinos der Adenauer-Ära, neben z. B. Maria Schell und O. W. Fischer sowie Ruth Leuwerik und Dieter Borsche. Manfred Barthel, der über drei Jahrzehnte den deutschen Nachkriegsfilm als Filmkritiker, Dramaturg und Produktionschef beim Gloria- und Constantin-Filmverleih begleitete, über diese Zeit:
Für die nächsten Jahre hieß das Rezept für Kassenerfolge: ‚Das Vaterland ist tot, es lebe die Heimat. Vergesst das Volkstum - seid volkstümlich.’ Um es im Branchen-Jargon der damaligen Zeit zu sagen: Es wurden Heimatfilme gedreht, dass die Heide wackelte. […] Die dramaturgische Ausbeute der Volkslieder-Sentimentalität war nicht nur ein Treffer ins deutsche Kinogänger-Gemüt, sondern mit ihr war auch ein Themenkreis gefunden worden, in dem die deutsche Filmproduktion konkurrenzlos war. Heimatfilme waren das einzige, was der deutsche Film der ungebremsten Flut ausländischer Filme entgegensetzen konnte, ohne einen Qualitäts-Vergleich riskieren zu müssen, denn dergleichen hatte das Ausland nicht zu bieten. 5
Der größte Skandal des deutschen Nachkriegsfilms wurde der von Willi Forst inszenierte Film ‚Die Sünderin’ (1950) – aufgrund einer kurzen Nacktszene der Schauspielerin Hildegard Knef und der filmischen Thematisierung von Prostitution und Selbstmord. Rolf Thieles Film ‚Das Mädchen Rosemarie’ (1958), in dessen Mittelpunkt eine Prostituierte stand und ein weiterer Skandalfilm der Wirtschaftswunderzeit, war dagegen eher ein plakativer Bilderbogen über den Aufstieg und Fall einer Lebedame, ein satirischer Politthriller ohne kritische Aussage, und, so eine zeitgenössische Kritik, „statt Einsichten zu vermitteln, kapriziert sich der Film darauf, sein Publikum das Gruseln zu lehren. […] Alles in allem: ein Film, der die herrschenden Tabus nicht bricht, sondern sie befestigt, indem er um sie herumredet als gäbe es sie nicht.“6 Internationales Renommee erreichte nur der 1959 uraufgeführte Antikriegsfilm ‚Die Brücke’, realisiert von dem Schauspieler und Regisseur Bernhard Wicki. ‚Die Brücke’ wurde mehrfach ausgezeichnet und auch 1960 für den ‚Oscar’ nominiert, in der Kategorie ‚Bester ausländischer Film’.
Mitte der 1950er Jahre erreichten die Film-Produktions- und Kino-Besucherzahlen ihren Höhepunkt. 1955 wurden 128 Spielfilme produziert, elf Jahre später, 1966, nur noch 60. Während man 1956 noch 817,5 Millionen Kinobesucher pro Jahr zählte, waren es 1967 nur noch 243 Millionen. Ein Grund für die stark absinkenden Zuschauerzahlen war, dass die Kinobesucher immer jünger wurden. Die Altersgruppe, die 1961 regelmäßig ins Kino ging, waren die 16- bis 29-Jährigen, von diesen wiederum am häufigsten die 16- bis 24-Jährigen. Die ältere Generation, die in den 1950er Jahren noch das Gros der Kinobesucher gestellt hatte, entdeckte das so viel bequemere neue Massenmedium Fernsehen für sich. Immer mehr Kinos mussten ihren Geschäftsbetrieb aufgeben: 1960 gab es noch 6.950 ortsfeste Filmtheater, 1969 nur noch 3.739.7
Der wirtschaftliche Niedergang im westdeutschen Film beschleunigte sich auch durch die Schließung von bis dahin erfolgreichen Filmproduktionsfirmen: So stellte 1961 die Göttinger ‚Filmaufbau’, die von 1949 bis 1961 rund 100 Filme hergestellt hatte, darunter auch etliche künstlerisch anspruchsvolle Filme wie zum Beispiel ‚Liebe 47’ (1949), ‚Königliche Hoheit’ (1953), ‚Wir Wunderkinder’ (1958), ‚Buddenbrooks’ (1959), ‚Rosen für den Staatsanwalt’ (1959), ihren Produktionsbetrieb ein; die beiden größten westdeutschen Produktionsfirmen, die ‚Ufa’ und die ‚Deutsche Film Hansa’, vereinigten sich zwar zur ‚Ufa-Film-Hansa’, aufgrund großer finanzieller Verluste brach diese neue Produktionsgemeinschaft aber schon im Januar 1962 wieder zusammen. Der deutsche Marktanteil im Kinogeschäft sank auf 28,5 %.
Auch international konnte der deutsche Film kaum reüssieren; so wurden zum Beispiel alle fünf von der Bundesrepublik Deutschland für die ‚Biennale’ 1961, die ‚22. Internationalen Filmfestspiele Venedig’, angebotenen Filme von der venezianischen Auswahlkommission abgelehnt – ein ‚Schicksal’, das die Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr allerdings mit Schweden, Spanien und Argentinien teilte.
Das Verblassen des in den 1950er Jahren durchaus vorhandenen Starkultes, das immer mehr absinkende künstlerische Niveau der Filme, das Ausbleiben großer ‚künstlerisch wertvoller’ Filme und das Vorherrschen anspruchsloser Konfektionsware von Serienfilmen ließen die deutsche Filmwirtschaft in eine tiefe wirtschaftliche und künstlerische Krise schlittern. Für die neue, junge Generation der Kinogänger fehlten – in der Bundesrepublik Deutschland – am Anfang der 1960er Jahre die Identifikationsangebote, sowohl an Stars als auch an zeitgemäßen Inhalten.
Während selbst einige bundesdeutsche Politiker den deutschen Filmproduktionen inhaltliche und formale Einfallslosigkeit bescheinigten, gab es – teilweise bereits seit den 1950er Jahren – im europäischen und außereuropäischen Ausland künstlerisch einen Aufschwung oder eine Neuorientierung. Es entstanden neue Filmbewegungen wie die ‚Nouvelle Vague’ in Frankreich und das ‚Free Cinema’ in Großbritannien. Auch in Polen und der Tschechoslowakei realisierten junge Regisseure ihre ersten abendfüllenden Spielfilme. In Brasilien formierte sich in den späten 1950er Jahren das ‚Cinema Novo’ und in den USA entstand das ‚New American Cinema’. Dies war aber keine einheitliche Bewegung.
So fühlte sich das ‚Free Cinema’ in Großbritannien britischen Traditionen verpflichtet, z. B. dem Dokumentaristen Humphrey Jennings, und der italienische Film knüpfte an den Neorealismus und sein Hauptthema an, die Verbundenheit des Menschen mit seinem sozialen Milieu und mit der Natur. Die französische ‚Nouvelle Vague’ betonte die Autonomie des Autors bei der Herstellung (s)eines Films, während die Bewegung an der amerikanischen Ostküste deutlicher als alle anderen mit bestehenden Traditionen brach und folgerichtig auch immer eine ‚oppositionelle Schule’ blieb, außerhalb des Systems der amerikanischen Filmwirtschaft.8
Die meisten in Deutschland lebenden Filmschaffenden nahmen die neuen europäischen und außereuropäischen Filmbewegungen zunächst kaum wahr, schotteten sich gegenüber inhaltlichen und formalen Impulsen ab, entzogen sich den kreativen Tendenzen der ‚filmischen Gegenwart’, möglicherweise, weil sie sich nicht mehr zutrauten, diese zeitgemäß verarbeiten zu können.9 Zudem war die etablierte, aber wirtschaftlich kränkelnde deutsche Filmindustrie an einer inhaltlichen und formalen Erneuerung des deutschen Films nicht interessiert. Vielleicht fürchtete sie die Konkurrenz durch neue Produktionsformen und eine weitere Schwächung der eigenen Marktmacht.
Die Gruppe, die während der ‚VIII. Westdeutsche(n) Kurzfilmtage Oberhausen’ 1962 das ‚Oberhausener Manifest’ deklarierte, bildete sich im Wesentlichen in München. Alle Regisseure waren in München wohnhaft oder eng mit der Stadt verbunden. Sie gehörten derselben Generation an, waren alle um die 30 Jahre alt, kannten sich untereinander sehr gut und arbeiteten bei ihren filmischen Projekten oft in wechselnden Teams zusammen – sie bevorzugten sogar häufig die gleichen Drehorte. Dieser enge Kontakt schuf ein Gruppendenken, das im ‚Oberhausener Manifest’ seinen ersten kulturpolitischen Ausdruck fand.10
Die ‚Münchner Gruppe’, auch ‚Münchner Schule’ genannt, lebte und traf sich hauptsächlich im Stadtteil Schwabing. Dieser Gruppe war ein kleinerer personeller Zusammenschluss vorausgegangen, die von Haro Senft und Ferdinand Khittl 1959 initiierte Gruppe ‚Doc 59 – Gruppe für Filmgestaltung’. Ziel der Gruppe, deren Mitglieder vorwiegend im Bereich Kurz- und Dokumentarfilm erfolgreich tätig waren, war die Bemühung, filmkünstlerische Bestrebungen aktiv zu fördern, das allgemeine Interesse am kulturell wertvollen Film zu beleben und dies in der Öffentlichkeit zu propagieren und zu vertreten. Ein erster Schritt zu einer akademischen Filmausbildung wurde durch einen Lehrvertrag der Gruppenmitglieder Ferdinand Khittl, Raimond Rühl, Fritz Schwennicke, Franz Josef Spieker und Haro Senft mit der ‚Hochschule für Gestaltung’ in Ulm im Oktober 1961 eingeleitet.11 Viele spätere ‚Oberhausener’, wie auch die beiden Gründungsmitglieder Senft und Khittl, gehörten der ‚Gruppe für Filmgestaltung’ an.
Originalunterschriften ‚Oberhausener Manifest‘
Erste filmische Erfahrungen sammelten die jungen Filmemacher im Kurzfilm, der anfangs – besonders formal – durch starke Improvisation gekennzeichnet war. Auf Restmaterial, gedreht mit eigentlich bereits ausrangierten Kameras, wurden filmische Eindrücke festgehalten. Eine ’klassische’ Arbeitsteilung im Sinne eines Filmteams gab es nicht. Kurzfilme waren die einzige Möglichkeit, sich praktische Kenntnisse im Medium Film anzueignen. Der Filmjournalist Wilfried Berghahn 1963 über die ‚Münchner Gruppe’:
Sie benutzen nicht nur die gleichen optischen Motive, sie bearbeiten sie nicht nur mit den gleichen filmischen Methoden, die im wesentlichen Montagetechniken sind (der Film entsteht am Schneidetisch!), sondern berufen sich auch auf dieselbe historische Situation. Es sind alles Filme über die Bundesrepublik. Sie sind es bewusst und in jedem Falle. Selbst wenn der Schauplatz der Aufnahmen einmal außerhalb der deutschen Grenze liegt, bleiben die bundesdeutschen Verhaltensnormen im Mittelpunkt des Interesses. […] Weder die deutsche Nachkriegsliteratur, noch das Theater, vom Spielfilm ganz zu schweigen, bekennen sich so konsequent dazu, ein Kind der Bundesrepublik zu sein, wie der Münchener Kurzfilm. Ohne die durch das Wirtschaftswunder geschaffenen sozialen und optischen Normen wäre er undenkbar. 12
Ihre ersten Kurzfilme zeigte die ‚Münchner Gruppe’, die erst nach der Verkündigung des ‚Oberhausener Manifestes’ ‚Oberhausener Gruppe’ genannt wurde, auf den ‚Westdeutsche(n) Kurzfilmtage(n) Oberhausen’ sowie auf der in Mannheim stattfindenden ,Kultur- und Dokumentarfilmwoche’, beim ,Internationalen Experimentalfilm-Wettbewerb’ im belgischen Knokke und auf den Kurzfilmtagen im französischen Tours.
Mitglieder der Gruppe erhielten in Oberhausen Preise, so z. B. Alexander Kluge und Peter Schamoni 1961 den Hauptpreis für ihren 12 Minuten langen Kurz-Dokumentarfilm ‚Brutalität in Stein’. Sie wurden vom Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen finanziell gefördert, andere Filme von Gruppenmitgliedern fanden die Anerkennung der internationalen Kritik und bekamen zahlreiche Preise auf internationalen Festivals.
Alexander Kluge
Peter Schamoni
Aus finanziellen Gründen blieb es aber vorerst bei der Realisierung von Kurzfilmen, da die staatliche Förderung noch nicht für die Produktion eines abendfüllenden Spielfilms ausreichte. Die Chance, einen privaten Geldgeber zu finden, war gering. Das Risiko, einen Erstlingsfilm eines weitgehend unbekannten Regisseurs zu fördern, schien vielen potenziellen Geldgebern zu groß.
Die zentrale Motivation der ‚Münchner Gruppe’ für ihr Manifest war deshalb auch, durch ihren Zusammenschluss als Gruppe bessere Chancen für die Förderung ihrer eigenen Filmprojekte, insbesondere ihrer geplanten Spielfilmprojekte, zu bekommen.
Der Zusammenschluss als Gruppe war aber auch eine Reaktion auf die Tatsache, dass die jungen Filmemacher in der deutschen Filmindustrie dieser Jahre kaum berufliche Chancen bekamen. Zwanzig Jahre nach dem Manifest äußerte sich der Mitunterzeichner Edgar Reitz:
Der Spielfilm war ein unerreichbares Milieu, vollkommen verschlossen für Leute, die von außen kamen oder aus innerem Interesse versuchten, dort einzusteigen; eine hermetische, schicke Gesellschaft, noch aus Ufa-Zeiten stammend, an die man nicht herankam. Kurzfilm war improvisierbar, … , indem man sich da oder dort ein paar Meter Film besorgte, eine ausrangierte Kamera. Im Amerika-Haus (in München, d.V.) gab es einen Schneidetisch, den man nachts kostenlos benutzen konnte. Das waren unsere Produktionsmittel. 13
Zudem lehnten die ‚Münchner’ die Inhalte von ‚Papas Kino’ ab. Kritik an der Gesellschaft, Protest gegen das bestehende Gesellschaftssystem konnte man in ‚Papas Kino’ – bis auf wenige Ausnahmen – filmisch nicht formulieren.
Die Unterzeichner des Manifests importierten den von der französischen ‚Nouvelle Vague’ geprägten Slogan ‚Papas Kino ist tot’, der in Anlehnung an einen Ausspruch des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, ‚Papas Algerien ist tot’, die Überschrift einer Rezension von Jean-Louis Bory zu Alain Resnais Film ‚Letztes Jahr in Marienbad’ war: ‚Le cinema de papa est mort’.14 Auch die Übernahme dieses Slogans zeigt deutlich die Neigung der späteren ‚Oberhausener’ zur französischen ‚Nouvelle Vague’, die in Theorie und Praxis den Autorenfilm propagierte, wo der Filmemacher zugleich Autor, Regisseur und möglichst noch Produzent sein sollte.
Der damalige Leiter der ‚VIII. Westdeutsche(n) Kurzfilmtage Oberhausen’, Hilmar Hoffmann, gab der ‚Münchner Gruppe’ die Möglichkeit, während der Kurzfilmtage Ende Februar bis Anfang März 1962, am 28. Februar, eine Pressekonferenz abzuhalten, „[…] bei der das zuvor in München formulierte und auf blauem Karton gedruckte Manifest von Ferdinand Khittl verlesen wurde. Diese öffentliche Verkündung des Manifests, an die sich eine Diskussion anschloss, die Alexander Kluge leitete, gilt heute – etwas pathetisch vielleicht – als die ‚Geburtsstunde’ des ‚Neuen Deutschen Films’.“ 15
Das ‚Oberhausener Manifest’ forderte Veränderungen auf zwei Ebenen. Einen in Inhalt und Stil neuen Film und Produktionsmöglichkeiten außerhalb des konventionellen deutschen Films, dessen künstlerischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch einer von den Unterzeichnern abgelehnten Geisteshaltung sozusagen den Boden entzogen hatte.16 Auf der Agenda der nunmehrigen ‚Oberhausener’, die auf der anschließenden Diskussion verkündet wurde, standen auch die Gründung einer zentralen Kinemathek und einer Filmhochschule in der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem boten die 26 Unterzeichner des Manifests an, mit Hilfe einer Stiftung ‚Junger deutscher Film’ und einer Starthilfe des Bundes in Höhe von fünf Millionen DM zehn Spielfilme zu drehen.
Zentraler Programmpunkt des Manifests war das Konzept des Autorenfilms, bei dem der Filmemacher zugleich Autor, Regisseur und auch noch Produzent ist. Der Film wird aus der Erfahrung eines Autors oder auch eines Autorenkollektivs heraus hergestellt. Den Begriff des Autorenfilms, den es eigentlich schon fast seit Bestehen des Films gibt, übernahmen die ‚Oberhausener’ vom ‚cinema des auteurs’ der französischen ‚Nouvelle Vague’. Der französische Autorenfilm bestand allerdings nicht so stark auf der Rolle des Autors als Produzent, was sicherlich auch mit den größeren cineastischen Vorlieben der ‚Nouvelle Vague’ für das Hollywood-Kino und den in Frankreich für Filmemacher besseren Produktionsbedingungen zusammenhing.
Nur drei der Unterzeichner des Manifests hatten vorher bereits einen abendfüllenden Spielfilm gedreht: Hansjürgen Pohland, Ferdinand Khittl und Herbert Vesely. Hansjürgen Pohlands 1961 uraufgeführter Film ‚Tobby’, die Geschichte eines Jazzmusikers, der ein lukratives Angebot einer Konzertagentur als Schlagersänger ablehnt und lieber Jazzmusiker bleibt, war formal eine Mischung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Es gab weder professionelle Schauspieler, Kulissen, ein Studio oder ein Drehbuch. Der Film fand keinen Verleih für die Kinoauswertung und blieb so der damaligen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Bei der Produktion von Ferdinand Khittls Experimental-Spielfilm ‚Parallelstraße’ (1962) waren gleich mehrere ‚Oberhausener’ beteiligt. Das Buch schrieb zum Beispiel Bodo Blüthner, Kameramann war Ronald Martini. Wie auch Pohlands ‚Tobby’ fand dieser Essayfilm über das Leben, das Sterben, die Welt und die Zeit keinen Verleih.
Lediglich die Heinrich Böll-Adaption ‚Das Brot der frühen Jahre’ (1962) von Herbert Vesely, an der auch vier ‚Oberhausener’ beteiligt waren, fand den Weg in die Kinos der Bundesrepublik Deutschland; zudem wurde die Herstellung des Films durch den Filmfond des Landes Nordrhein-Westfalen mit einer Prämie von 100.000 DM gefördert.17 Der Grund lag sicherlich darin, dass es sich um die Verfilmung einer Erzählung des damals, neben Günter Grass, bekanntesten deutschen Schriftstellers handelte. ‚Das Brot der frühen Jahre’ erhielt insgesamt fünf Bundesfilmpreise, ‚Filmbänder in Gold’ für: ‚Zweiter Preis für einen abendfüllenden Spielfilm’, ‚Beste Hauptdarstellerin’ (Vera Tschechowa), ‚Beste Kameraführung’ (Wolf Wirth), ‚Beste Filmmusik’ (Attila Zoller, Joachim E. Behrendt), ‚Bester Nachwuchsregisseur’ (Herbert Vesely).
Trotz dieser Preise und seiner Nominierung für die Filmfestspiele in Cannes als deutscher Festivalbeitrag konnte ‚Das Brot der frühen Jahre’ die damalige deutsche Kritik nicht überzeugen, zumal der Film weniger eine Adaption von Bölls Erzählung war, sondern mehr eine Meditation über sie, keine geradlinige Erzählung. Herbert Vesely schilderte vielmehr die Anatomie der Wandlung der Hauptfigur – mit einem polyperspektivischen Erzählverfahren, bei dem Motive fallengelassen, wieder aufgenommen und variiert wurden. Persönliche Reflexionen wurden von abrupten Einbrüchen der Außenwelt unterbrochen.18
Die Begrenzung auf neue stilistische Positionen war typisch für die ersten drei Spielfilme der ‚Oberhausener’ und auch für die Kurzfilme; die Neigung zum Dekorativen auffälligstes Moment der jungen Filmemacher. Noch einmal der Filmjournalist Wilfried Berghahn 1963:
Die spiegelnde Fassade eines Hochhauses oder einer Wohnmaschine blendet auf: viel Glas, matt schimmernde Metallrahmen der Fenster, helle Betonflächen. In den nächsten Bildern: Betonpfeiler schmal in den Himmel aufragend, auch langgestreckte, bildfüllende Raster aus Glas und Stein; Kuben, Flächen, ineinander geschachtelte Balkonwaben und wieder Glas. Unten ein einsamer Platz, leer, Betonplattenraster. Alles kühl, streng, kantig, aber auch schön, schön vor allem! 19
Mit dem ‚Oberhausener Manifest’ brach im deutschen Film ein Generationenkonflikt offen aus; es bildeten sich klare Fronten zwischen Alt- und Jungfilmern. Die jungen Filmemacher wollten keine ‚Vertreter’ von ‚Papas Kino’ mehr sein. Sie wollten ihre Sicht der gesellschaftlichen Situation jener Zeit schildern und besonders den verharmlosenden und züchtigen Jugenddarstellungen aus dem Kino der 1950er Jahre etwas entgegenstellen.
Die etablierten Filmemacher und die deutsche Filmwirtschaft reagierten auf das Manifest mit Ablehnung oder Spott, von ‚Bubis Kino’ war – im Gegenzug – die Rede! Die Forderungen wurden nicht ernst genommen, zumal auch noch keine konkreten Spielfilmprojekte der ‚Oberhausener’ vorlagen und nur wenige der Unterzeichner detaillierte inhaltliche und formale Vorstellungen von ihrem ersten Spielfilm hatten.
Die Kritiker ignorierten, dass die ‚Oberhausener’ mit ihrem Manifest zuerst eine theoretische Einsicht in die Notwendigkeit einer Erneuerung des deutschen Films schaffen wollten. Die Produktionsbedingungen sollten dahingehend geändert werden, dass in der Bundesrepublik Deutschland zukünftig auch andere Filme neben den üblichen Heimat- oder Schlagerfilmen, der Konfektionsware, den Serienfilmen produziert werden konnten. In der Filmzeitschrift ‚Film-Telegramm’, die journalistisch eher ‚Papas Kino’ verbunden war, konnte man damals über die ‚Oberhausener’ folgende Einschätzung lesen:
Sie nennen sich Produzenten, sind aber keine. Sie brauchen Männer, die sie als väterliche Partner unter die Fittiche nehmen. […] Wer behauptet, er könne eine ganze Serie von Filmen, denen er auch zutraut, dass sie in den Kinotheatern gewisse Chancen haben, für je fünfhunderttausend Mark herstellen, der ist entweder ein Mensch ohne jede kaufmännische oder praktische Erfahrung oder ein Schwindler.“ 20
Das Manifest erweckte allerdings auch bei vielen am deutschen Film künstlerisch Interessierten große Hoffnungen. Besonders die Redakteure der Filmzeitschrift ‚Filmkritik’, die ebenfalls größtenteils in München lebten und vom Alter her den jungen deutschen Filmemachern annähernd gleich waren, unterstützten von Anfang an die ‚Oberhausener’ in zahlreichen Artikeln vehement. Ihren kommenden Spielfilmprojekten sahen sie mit großem Interesse entgegen.
Noch im gleichen Jahr, im Oktober 1962, übernahmen drei Unterzeichner des Manifests, Alexander Kluge, Edgar Reitz und Detten Schleiermacher, die Leitung der neu gegründeten Filmabteilung der ‚Hochschule für Gestaltung’ in Ulm – eine erste Ausbildungsstätte für deutsche Filmemacher nach 1945.
Im Februar 1963 wurde die ‚Stiftung Deutsche Kinemathek’ in Berlin21 eröffnet, deren Hauptaufgabe die Archivierung des deutschen Films wurde. Im September 1966 folgte die Einrichtung der ‚Deutschen Film- und Fernsehakademie’ in Berlin, der ersten Filmakademie der Bundesrepublik Deutschland, und ab dem Wintersemester 1967/68 bot auch die bereits im Juli 1966 gegründete ‚Hochschule für Fernsehen und Film’ in München ihr Studienprogramm an. Beides sind bis heute renommierte Ausbildungsstätten für den deutschen Filmnachwuchs.
Das Manifest und die Forderungen der ‚Oberhausener’ zeigten Wirkung und auch die Realisierung ihrer Spielfilmprojekte rückte – drei Jahre nach Oberhausen – durch die Gründung des ‚Kuratoriums junger deutscher Film’ im Februar 1965 in greifbare Nähe – eine wichtige filmpolitische Entscheidung, der am 30. November 1964 eine entsprechende Verordnung des Bundesinnenministers vorausgegangen war. Über das ‚Kuratorium’ standen nun staatliche Gelder für die Finanzierung von Spielfilmprojekten zur Verfügung, z. B. dreieinhalb Millionen DM als Projektförderung für Erstlingsfilme.22 Diese staatliche Filmförderung durch das ‚Kuratorium’, das in den ersten zwei Jahren seines Bestehens 25 Filme förderte23, wurde ergänzt mit der Einführung der Drehbuch- und Spielfilmprämien des Bundes, wobei allerdings hier zunächst nur konventionelle Projekte wie Edgar Wallace-Filme und Karl May-Filme finanziell unterstützt wurden. Der Filmjournalist Joe Hembus, engagierter, aber auch kritischer Begleiter des ‚Jungen Deutschen Films’, im Januar 1966 – voller Vorfreude auf die kommenden Filme der ‚Oberhausener’:
Fünf von ihnen drehen nun ihre erste Spielfilme. Der Berliner Hansjürgen Pohland wird Katz und Maus von Grass verfilmen, Alexander Kluge aus seinen Lebensläufen die Geschichte einer Herumstreunerin Abschied von gestern. Das Team Strobel/Tichawsky beschäftigt sich mit Ehescheidung (späterer Filmtitel: ‚Eine Ehe’, d.V.). Haro Senft analysiert eine Karriere (späterer Filmtitel: ‚Der sanfte Lauf’, d.V.). Edgar Reitz forscht unter dem Titel Mahlzeiten ein Frauenleben aus. […] Der alte deutsche Film erkennt diese Bedrohung. Er fährt in dieser Saison des Aufbruchs sein schärfstes Geschütz auf: Papa Artur Brauner wird die meiste Zeit des Jahres damit zubringen, einen zweiteiligen Nibelungen-Film zu produzieren – mit Winnetou-Filmer Harald Reinl als Regiekommandanten.24
Aufsehen in der öffentlichen Wahrnehmung – sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch im europäischen Ausland – erregte aber bereits der 1965 uraufgeführte Film ‚Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht’, zeitlich noch ein ‚Vorläufer’ des ‚Jungen Deutschen Films’, der in einem Jahr in die Kinos kam, in dem der deutsche Film einen Negativrekord mit nur noch 56 hergestellten Filmen erreichte. Die Krise des deutschen Films war unübersehbar geworden!
‚Nicht versöhnt ...’ drehte der in München lebende französische Regisseur Jean-Marie Straub – nach der Heinrich Böll-Erzählung ‚Billard um halb zehn’. Der Film zeichnete sich zwar durch einen – für die damaligen Zuschauer – gewöhnungsbedürftigen formalen Rigorismus aus und hatte, auch aufgrund seiner Fragmentstruktur, seiner elliptischen Form, nur wenig gemein mit den üblichen Literaturverfilmungen, für die französische Filmzeitschrift ‚Cahiers du Cinema’ war ‚Nicht versöhnt ...’ aber der größte deutsche Film seit den deutschen Filmen der Regisseure Fritz Lang und F.W. Murnau.25
Die eigentliche Wende im deutschen Film wurde aber erst das Jahr 1966. „Man sprach vom ‚Jahr eins’ und verglich das Jahr 1966 mit einem Dammbruch für den jungen deutschen Film [...] In einem Jahr kamen mehr junge Regieaspiranten zum Zuge als in der ganzen vorausgegangen Zeit.“26 Eine weitere Besonderheit: Die Filmemacher behielten die absolute künstlerische und finanzielle Kontrolle über ihre Arbeiten.
Der erste Spielfilm des ‚Jungen Deutschen Films’, der eine breitere Öffentlichkeit erreichte und die ‚Deutsche Welle’ im Kino in Bewegung setzte, war Ulrich Schamonis am 17. März 1966 uraufgeführter Film ‚Es’. Der Film erfüllte den Wunsch des mittlerweile vorwiegend jungen Kino-Publikums nach Realismus und Zeitbezogenheit; er erhielt – wie erwartet – in der ‚Filmkritik’ durch den Filmjournalisten Peter M. Ladiges seine positive Besprechung:
Bruno Dietrich und Sabine Sinjen in ‚Es‘
Schamoni setzt seinen Film aus Beiläufigem zusammen. Nirgends massiert sich das Geschehen zur Dramaturgie einer regelrechten Handlung. Alles Wichtige wird nur am Rande mitgeteilt. Die einzelnen Szenen wirken wie zufällig mit der Kamera beobachtet. Dennoch verliert sich die Geschichte nicht in Impressionen, sondern baut sich sehr konsequent aus den verschiedenen Momentaufnahmen auf. Diese erscheinen durch die Selbstverständlichkeit, mit der die Akteure vor der Kamera agieren und mit der diese sich bewegt, in hohem Maße authentisch. Daran mag es vor allem liegen, dass diese Geschichte, die eben nicht am roten Faden einer Handlung abgespult wird, in der Konzentration allein auf das Thema keinen Augenblick langweilig ist. 27
Charakteristisch für ‚Es’ war der hohe Anteil an dokumentarischen Aufnahmen. Wirkliche Ärzte erörterten vor der Kamera das Problem der Abtreibung. Zugunsten der Reflexionsebene unterbrachen Zwischentitel den Fluss der Handlung.28
Auch Volker Schlöndorffs Film ‚Der junge Törless’, Alexander Kluges Spielfilmdebüt ‚Abschied von gestern’ und der Film ‚Schonzeit für Füchse’ von Peter Schamoni kamen im Jahr 1966 in die Kinos und erregten – in allerdings unterschiedlicher Ausprägung – die Aufmerksamkeit des Publikums und der Filmkritik. ‚Der junge Törless’ und ‚Abschied von gestern’ wurden jeweils mit einer Drehbuchprämie von 200.000 DM des ‚Bundesministeriums des Innern’ gefördert, ‚Abschied von gestern’ bekam zudem noch 100.000 DM vom ‚Kuratorium junger deutscher Film’.
Die bisherigen Filme der ‚Oberhausener’ fanden auch internationale Beachtung. Im Mai 1966 wurde die Bundesrepublik Deutschland beim Filmfestival in Cannes durch ‚Es’ und ‚Der junge Törless’ vertreten, gewann jedoch keinen der offiziellen Festivalpreise.
Erst Alexander Kluges Film ‚Abschied von gestern’ erhielt einen offiziellen Preis, im September 1966 den ‚Silbernen Löwen’, den Spezialpreis der Jury, auf den Filmfestspielen in Venedig; darüber hinaus bekam er in Venedig noch sieben weitere Auszeichnungen, so u. a. den Preis ‚Luis Buñuel’ der spanischen Kritiker. ‚Abschied von gestern’ lief allerdings nicht als offizieller Beitrag der Bundesrepublik Deutschland, sondern als von der Festspielleitung eingeladener Film.
Die internationale Anerkennung des ‚Jungen Deutschen Films’ zog die nationale Bestätigung nach sich. ‚Der junge Törless’ erhielt 1966 das ‚Filmband in Gold’ in der Kategorie ‚Abendfüllende Spielfilme’, ein weiteres ‚Filmband in Gold’ gab es für Volker Schlöndorff in der Kategorie ‚Bester Drehbuchautor’. ‚Es’ bekam in der Kategorie ‚Abendfüllende Spielfilme’ das ‚Filmband in Silber’, weitere Filmbänder gab es für: Sabine Sinjen (‚Beste Hauptdarstellerin’), Bruno Dietrich (‚Bester Nachwuchsschauspieler’), Gerard Vandenberg (‚Beste Kameraführung’). Auch ‚Schonzeit für Füchse’ wurde ausgezeichnet: Hans Posegga erhielt ein ‚Filmband in Gold’ in der Kategorie ‚Beste Filmmusik’, Edda Seipel ebenfalls ein ‚Filmband in Gold’ in der Kategorie ‚Beste weibliche Nebenrolle’. ‚Schonzeit für Füchse’ bekam zudem noch auf den Filmfestspielen in Berlin, der ‚Berlinale’, den ‚Silbernen Berliner Bär’, einen Sonderpreis der Jury.
Der ‚Junge Deutsche Film’ wurde zum Ausdruckmittel eines Individuums, seines Autors. Das Abwenden von der gängigen Kino-Illusionswelt und seine Realitäts- und Gegenwartsbezogenheit kennzeichneten fast alle Filme. War der deutsche Film vorher noch meistens ein Transportmittel für stereotype Inhalte gewesen, wurde er jetzt zum persönlichen Ausdruck ihrer Autoren, „als Selbstzeugnis, als Reflex von Empfindungen, als Assoziationsketten und als Gedankengebäude“.29
Für die Mehrzahl der jungen Filmemacher war eher ein gesellschaftskritischer als ein künstlerischer Ausgangspunkt für ihre Produktionen maßgebend. Sie wollten die Wirklichkeit abbilden und dadurch kritisieren. Die Themen stammten überwiegend aus dem Alltag und führten Durchschnittsmenschen vor.
Die Filme endeten in der Regel nicht mit einem Happy End oder einer Lösung des zuvor geschilderten Problems. Lieblingsthemen des ‚Jungen Deutschen Films’ waren vor allem die „... Anpassung an die Wohlstandsgesellschaft und die Folgen des Wirtschaftswunders, Konflikte zwischen einer jungen und einer älteren, noch von der NS-Zeit geprägten Generation, an Konsum gebundene Glücksvorstellungen, Eheprobleme und schließlich die Emanzipation der Frau.“30
Doch gerade das Konzept des Autorenfilms führte zu einer Vereinzelung der Regisseure und zu einer verstärkten Konkurrenz untereinander. Anders als in der französischen ‚Nouvelle Vague’ fehlte den ‚Oberhausenern’ eine gemeinsame cineastische Grundlage. Die Solidarität untereinander zerbrach rasch, nachdem die ersten Filme abgedreht waren – was auch schon von dem Filmjournalisten Joe Hembus 1967, also sehr frühzeitig, bemerkt wurde:
Was viele junge Filmemacher an der Fahne Junger Deutscher Film stört, ist just die Tatsache, dass sie sich unter ihr mit Kollegen treffen, mit denen sie um keinen Preis Tuchfühlung aufnehmen möchten. Der Reitz kann den Spieker nicht ausstehen, und der Schlöndorff kann an Es nichts finden, und der Straub distanziert sich überhaupt von allem, ausgenommen von Vlado Kristl, der seinerseits alle anderen als Kaputtmacher seiner großen Ideen schmäht. Es geht herrlich und wie in jeder funktionierenden Filmindustrie zu; auch in dieser Branche ist jeder eine Callas. 31
Nach den ersten euphorischen Stellungnahmen durch die – vorwiegend anspruchsvolle –Filmkritik und der ersten ‚Aufmerksamkeitswelle’ im Kino und auf Filmfestivals ging auch das Zuschauerinteresse an den Filmen der ‚Oberhausener’ schnell wieder zurück, wie insgesamt die Besucherzahlen in den Kinos immer mehr schwanden. Die Bilder, die der ‚Junge Deutsche Film’ seinen verbliebenen Zuschauern zeigte, waren diesen zu fad und oftmals zu unverständlich – die Filmemacher beschränkten die sinnliche, emotionale Erfahrung Kino auf die häufig zu offensichtlich didaktische Vermittlung von inhaltlichen Standpunkten, von Reflexionsvorschlägen und Sichtweisen. Bei der überwiegenden Masse des Kinopublikums wurde der ‚Junge Deutsche Film’ bald mit dem Etikett ‚Langweilig’ versehen.32
Auch die traditionellen Filmemacher und Produzenten reagierten nun – in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre – auf die filmischen Versuche der so genannten Jungfilmer. Es entstanden einige Filme, die gezielt Komponenten der damaligen Jugendkultur aufgriffen. Doch Partei für die Jugend ergriffen die etablierten Regisseure nicht. In allen Genres tauchten jugendfeindliche Klischees auf; der filmische Blick auf Söhne und Töchter war fast immer belehrend und teilweise sogar angewidert – wie Florian Vollmers fast am Ende des letzten Jahrhunderts bei einer Betrachtung über die Sozialgeschichte des Films der 1960er Jahre konstatierte:
In vielen Komödien tauchen junge, liebeshungrige Schwedinnen auf, und auch in der Edgar-Wallace-Reihe sind junge Frauen meist triebgesteuert und naiv, wofür sie nicht selten mit ihrem Leben bezahlen müssen. In dem Wallace-Film ‚Der Mann mit dem Glasauge’ (Alfred Vohrer, 1968) muss sich Kommissar Horst Tappert mit einem dämlichen Jüngling als Assistenten rumschlagen. Mit Pilzkopf, krächzender Stimme und blödem Gekicher repräsentiert er eindeutig die Jugend der sechziger Jahre. Er sorgt für die alberne Komik des Films und wird an einer Stelle von Tappert prägnant charakterisiert: ‚Lange Haare, kurzer Verstand!’ 33
Filme wie ‚Siebzehn Jahr – blondes Haar’ (Franco Montemurro, 1966), eine Produktion des ‚Alt’-Produzenten Luggi Waldleitner, oder ‚Musik, Musik – Da wackelt die Penne’ (Franz Antel, 1970) zeigten die Jugend und ihre Ausdrucksformen aus einer distanzierten Perspektive; sie behandelten aber Tendenzen, die in den 1960er Jahren als eindeutig jugendlich galten. Das ‚Gammlertum’, ein Leben ohne gesicherte Verhältnisse, wurde in ‚Siebzehn Jahr – blondes Haar’ thematisiert, wo der jugendliche Hauptdarsteller in einen heftigen Konflikt mit seinem Vater, einem Industriellen, geriet. In ‚Musik, Musik – da wackelt die Penne’ versuchten einige ‚Pauker’ – letztendlich erfolglos – ihren Schülern‚ ‚Hippies’, die in einem Internat an der Aufführung eines Musicals arbeiten, Zucht und Ordnung beizubringen. Ende gut – alles gut: Das Musical wird aufgeführt und das neue, moderne Erziehungskonzept hieß nun: ‚Lernen mit Musik’.
Das immer geringer werdende Filmpublikum genoss im Kinosessel – sozusagen fernab von ‚Oberhausen’ – weiterhin vorwiegend die gängigen Genres des deutschen Films. ‚Papas Kino’ lebte – wenn auch künstlerisch eher auf der Intensivstation – unverdrossen weiter. Ein neuer Zuschauermagnet wurden zudem die so genannten Aufklärungsfilme, die eine ‚neue Welle’ in den Filmtheatern ins Rollen brachten – aufmerksam beobachtet von dem Filmjournalisten Joe Hembus:
Noch nie nämlich wurde so viel Frivoles auf das Publikum losgelassen. Von Bertelsmann bis Eckelkamp: geschlossen schicken die Verleiher und Produzenten ihre Regisseure auf die Straße, um mit viel nackten Frauen und wenig Handlung die Kunden in die Schau-Burgen zu locken. Mach dir ein paar schöne Stunden. Das Kino wird zum Freuden-Haus. Po- und Busenopern der hemmungslosesten Sorte. Gäbe es nicht die auch international anerkannten Jungfilmer, dann müsste man über Deutschlands Film verzweifeln. 34
Während 1965 der Anteil von ‚Schlüpfrigem’ am deutschen Filmschaffen nur vier Prozent betrug, repräsentierten die ‚hautnahen’ Filme im ersten Halbjahr 1967 bereits ungefähr 30 Prozent des deutschen Filmangebots – die weitere künstlerische Verflachung des deutschen Films schritt unaufhaltsam voran.35
1968 trat zwar das ‚Filmförderungsgesetz’ (FFG) der ‚Filmförderungsanstalt’ (FFA) in Kraft mit dem Ziel, die Qualität des deutschen Filmes auf breiter Grundlage zu steigern, das Gesetz wurde aber eher ein ‚Filmschundförderungsgesetz’36, da die Fördermittel nur für einen kommerziell erfolgreichen Film, einen so genannten Referenzfilm, ausgezahlt wurden, zweckgebunden für eine neue Produktion. Das hatte zur Folge, dass allenfalls Seriennachfolger gefördert wurden und 1969 nur sechs Jungfilm-Produktionen Fördergelder bekamen. „Fazit: Die FFA (Filmförderungsanstalt) hat nichts anderes bewirkt, als dass in der Filmwirtschaft munter und ohne Konzeption weitergewurstelt wird wie zu Papas Kino-Zeiten.“37
Dieser Praxis wurde erst ab 1971, nach einer Novellierung des FFG, mit einer so genannten ‚Minderqualitätsklausel’ allmählich Einhalt geboten.
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