Читать книгу Einführung in die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung - Renate Walthes - Страница 10

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2 Wahrnehmen, für wahr halten, sehen, blinden

Grundfragen zur Wahrnehmung

Wie Lebewesen wahrnehmen und was erforderlich ist, um wahrnehmen und erkennen zu können, interessiert Menschen seit Jahrhunderten. Eine Beschäftigung mit diesem Thema hat – wie der Begriff Wahrnehmung insgesamt – mehrere Dimensionen. Drei Aspekte werden in dem folgenden Kapitel eine Rolle spielen:

• Wahrnehmung als „für wahr und richtig halten“, also Wahrnehmung als Bewertungsmaßstab für Realität,

• Wahrnehmung als Sinneswahrnehmung und

• Wahrnehmung als soziale Wahrnehmung.

Die Überlegungen sind zwar je nach theoretischem oder wissenschaftlichem Standpunkt verschieden, sie betreffen jedoch jeweils bestimmte Grundfragen:

a) Wie wird das Verhältnis von Außenwelt und Innenwelt, d.h. von Wirklichkeit und Wahrgenommenem gesehen?

b) Welchen Anteil haben die einzelnen Sinne an der Wahrnehmung?

c) Welche Rolle spielt die Erfahrung für die Wahrnehmung?

d) Ist die Wahrnehmung kulturabhängig, und wenn ja, inwieweit?

Diese Fragen beschäftigen Neurowissenschaftler, Psychologinnen und Kognitionswissenschaftler, aber auch Philosophinnen, Pädagogen und Kulturwissenschaftlerinnen. Das Thema Wahrnehmung ist heute ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das sich bevorzugt mit der visuellen Wahrnehmung beschäftigt.

visuelle Wahrnehmung

Die visuelle Wahrnehmung gilt in der Wahrnehmungsforschung als das bisher am besten erforschte Sinnessystem. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es in seiner Funktionsweise weitgehend bekannt ist. Im Gegenteil, je mehr die Forscherinnen und Forscher über die Funktionsweise dieses Systems kennen lernen, umso mehr steigt ihr Respekt, ja ihre Bewunderung für die Leistungsfähigkeit der visuellen Wahrnehmung und umso deutlicher treten die Bereiche zutage, über deren Funktionsweise wenig oder nichts bekannt ist (Goldstein 2008; Lauwereyns 2012; O`Regan/Noë 2001; Roth 1994 und 2001). Das System der visuellen Wahrnehmung erweist sich als wesentlich komplexer, vernetzter und vielschichtiger als die Theorien, die seine Funktionsweise zu beschreiben versuchen.

Wahrnehmungs-forschung und Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung

Nun könnte man vermuten, dass diese Erkenntnisse über das visuelle System entweder aus den Forschungen der traditionellen Blinden- und Sehbehindertenpädagogik stammen oder zumindest von ihr mitbestimmt wurden. Das ist jedoch nicht so. Die Erkenntnisse der Wahrnehmungsforschung wurden und werden nicht immer und nicht von allen Vertreterinnen dieser Fachrichtungen wahrgenommen. Das hat verschiedene Gründe, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. Hierbei ist es wichtig, die verschiedenen Aspekte von Wahrnehmung zu berücksichtigen. Es ist dazu erforderlich, drei verschiedene Argumentationsstränge zu verfolgen:

1. Das Verhältnis von Sehen und Erkennen in den westlichen Kulturen und im Christentum

2. Traditionelle Blinden- und Sehbehindertenpädagogik als Pädagogik des Auges

3. Sehen und Wahrnehmen.

Kulturabhängigkeit von Sehen

Wie blinde und sehbeeinträchtigte Menschen in unserer Kultur wahrgenommen werden, hat wesentlich mit dem Verhältnis von Sehen als Sinneswahrnehmung und Erkennen als Bewusstseinsakt zu tun. Die Rolle, die Sehen, Licht und Erleuchtung in unserer Kultur spielen, hat nicht nur Einfluss auf die Vorstellungen von Blindheit, sondern gleichermaßen Auswirkungen auf das Selbstverständnis einer Pädagogik, die Blindheit und Sehbeeinträchtigung zum Gegenstand hat. Es wird daher zunächst versucht, die verschiedenen Konnotationen, die sich mit Blindheit verbinden, zu erläutern, bevor die Auffassungen der traditionellen Blinden- und Sehbehindertenpädagogik und deren Verhältnis zu Sehen und Wahrnehmung erörtert werden.

Das Verhältnis von Sehen und Erkennen: Das ausgesprochen Schwierige und Interessante an einem solchen Zugang zu Blindheit und Sehbeeinträchtigung liegt darin, dass die Begriffe, die hier verwendet werden – Sehen, Blick, Perspektive, Erkennen – sowohl für die Beschreibung sinnesphysiologischer als auch erkenntnistheoretischer Prozesse herangezogen werden.

„Die Nähe des Sehsinns zum Mentalen, nämlich zu Prozessen des Verstehens, Denkens und Auslegens, bedingt einen dichten und praktisch untrennbaren Konnex von Sehen und Sichtweisen bzw. von Sicht und Einsicht“ (Schürmann 2008, 20f.).

Die Vieldeutigkeit dieser Begriffe ist kennzeichnend für die Verwirrungen, die auch unseren alltäglichen Sprachgebrauch beherrschen.

Sehen in den westlichen Kulturen

Nicht nur in den Überlieferungen des Christentums, auch in der Literatur oder in unseren Redeweisen und Vorstellungen finden wir Verbindungen von Sehen und Erkennen, Sehen und Licht bzw. Erleuchtet-Sein. Die Heilung des Blinden im Neuen Testament stellt diese Verbindung her, und in vielen ikonografischen Darstellungen symbolisiert die Blindenheilung die innere, christliche Erleuchtung, die wahre Erkenntnis (Abb. 1 und 2).


Abb. 1: Sehen bei peripheren Gesichtsfeldausfällen (Blindenanstalt Nürnberg 1980, 53)


Abb. 2: Blindenheilung, Codex Aureus, Echternach 990 (Detail; Sudhoff 1981, 299)

Das sogenannte Blenden, also die Zerstörung der Augen, als eine der schlimmsten Strafen antiker Kulturen, die sich bis in das Mittelalter hinein gehalten hat, stellt die andere Seite dieser Auffassungen dar. Es zeigt sich, dass Sehen als wichtigste Voraussetzung für das Erkennen der Welt gehalten wird. Als Spiegel der Seele werden die Augen auch als das Organ betrachtet, das einen Blick in das Innere eines Menschen gestattet, und gleichzeitig ermöglicht das Auge das Erkennen der Welt. Die Augen werden daher als wichtige Vermittlung von Innen (Seele) und Außen (Welt) erachtet. Parallel zu diesen Auffassungen finden wir die Symbolfigur des „blinden Sehers“ vor allem als Orakelhüter der griechischen Antike, der unabgelenkt vom äußeren Schein das Wahre zu erkennen oder vorherzusehen vermag. Wie Spittler-Massolle am Beispiel des berühmten blinden Sehers Teiresias deutlich macht, geht die Blendung als Strafe voraus, und die Erteilung der Seherfähigkeit ist eine anschließende Gabe der Götter (2001, 16). Ähnliche Stellen finden wir auch im Alten Testament: … „der herr wird dich schlahen mit Wahnsinn, blindheit und rasen des herzen. 5 Mos. 28, 28“ (Grimm/Grimm 1860).

„Das Motiv der Blendung (Blindheit) als Strafe infolge von Neid in einem Machtverhältnis wird über die Verleihung prophetischer Gaben als ‚inneres Sehen‘ zum Trost für Blinde und zum Nutzen für Sehende ausbalanciert. Als Kern dieser Problematik zeichnet sich das Licht und das Sehen ab, was in Verbindung mit dem Seher-Motiv nur Blinden möglich zu sein scheint“ (Spittler-Massolle, 2001, 25).

Die Weiterexistenz von Mythen in Vorstellungen und Begriffen ist vielfach belegt. Spittler-Massolle arbeitet mit dem Wörterbuch der Gebrüder Grimm neunzehn verschiedene Bedeutungsebenen des Wortes blind heraus, auf die hier lediglich verwiesen werden kann (2001, 50ff.).

Sehen und Blindheit in der Alltagssprache

„Bist du blind?“ meint in unserem Sprachgebrauch weniger: „Hast du das nicht gesehen?“, sondern eher: „Hast du das nicht mitbekommen, bist du blöd oder unsensibel oder dumm?“ Blind im Sinne von unerwartet im „blinden Glück“, von naiv und gutgläubig oder unvorsichtig findet sich ebenso in unserem Sprachgebrauch wie blinder Gehorsam, blinde Liebe.

Blindheit gilt als das Unvorstellbare schlechthin, wenn angenommen wird, dass blinde Menschen keine innere Repräsentation des Wahrgenommenen im Sinne des Vorstellens haben. Blindheit wird assoziiert mit Dunkelheit und Passivität, die Welt wird nicht aktiv erkundet, sondern muss zu dem Nicht-Sehenden gebracht werden.Bezeichnenderweise existiert in unserem Sprachgebrauch kein Verb blinden. Blinden als Aktivität gibt es nicht, sehen sehr wohl, obwohl wir bei beiden Prozessen nicht wissen, wie sie im Einzelnen funktionieren. Sehen gilt als Aktivität, Blind-Sein als Eigenschaft. Das Suffix „-heit“, ein Mittel der Abstraktionsbildung, wird eingesetzt, um Zustandsbeschreibungen und Eigenschaftsbezeichnungen zu bilden. Sehheit als Eigenschaft oder Zustand existiert ebenfalls nicht in unserem Sprachgebrauch. Auch als Gegenbegriff zu Blindheit gibt es Sehheit nicht, vielmehr gelten eher Licht und Erleuchtet-Sein als Gegenbegriffe. Diese Konnotationen schwingen in unserem kulturellen Verständnis von Blindheit mit und finden ihren Niederschlag in unserem alltäglichen Sprachgebrauch wie in unseren Vorurteilen. So wird zum Beispiel im Jahr 2002 ein Film über eine Blindenschule in Tibet mit folgenden Worten angekündigt: „Und nun kommt Licht in das Leben blinder Kinder“ (ARTE 8.10.2002). Ob und inwiefern diese allgemeinen Vorstellungen auch die Auseinandersetzungen der Pädagogik bei Blindheit bestimmen, wird zu prüfen sein.

Assoziationen bei Anders-Sehen

Wie verhält es sich mit dem Anders-Sehen? Jemandem nicht in die Augen schauen, jemanden nicht ansehen können oder an jemandem vorbeischauen wird im alltäglichen Umgang nicht als notwendige Strategie bei anderen Sehbedingungen gesehen, sondern in den Bereich des merkwürdigen Verhaltens gerückt. Assoziationen wie „der hat ein schlechtes Gewissen“, „die ist nicht ehrlich“, „der hat etwas zu verbergen“, „der kann einem nicht in die Augen sehen“ zeigen, wie vielen Deutungen ein anderes Sehverhalten ausgesetzt ist.

Sehen ist vor allem Performanz (Schürmann 2008), ist Kommunikation. Das Sprichwort: „ein Blick sagt mehr als tausend Worte“ verweist auf die Bedeutung schaffende Wirkung von Blicken. Das Fehlen des Blickes, die Abwesenheit des sehenden Ausdrucks verdeutlicht dessen elementare Funktion für das alltägliche Miteinander.

Pädagogik des Auges: Mit Blindheit und Sicht stehen sich in unserer Kultur offensichtlich zwei einander ausschließende Seinsweisen gegenüber. Sehe ich, dann bin ich nicht blind und bin ich blind, dann sehe ich nicht. Was Blindheit für denjenigen, der nie gesehen hat, bedeutet, werden Sehende ebenso wenig nachvollziehen können, wie dies umgekehrt der Fall ist.

Dilemma der Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung

Mit diesem Dilemma hat sich eine Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung auseinanderzusetzen. Sie soll Hilfestellungen, Konzepte und Angebote für einen Umgang mit ‚Welt‘ zur Verfügung stellen, ohne ein gesichertes Wissen darüber erlangen zu können, wie die Wahrnehmung der Welt bei anderen Sehbedingungen bzw. bei Blindheit beschaffen ist. Sie kann nicht wissen, was es bedeutet, sich nicht-sehend in einer auf Visualität ausgerichteten Welt zu bewegen und sie ist dennoch täglich aufgefordert, für diesen Umgang Hilfestellungen zu bieten. Letztlich beschäftigen sich Professionelle im System der Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung mit ihrer eigenen Phantasie, d.h. mit ihrer Vorstellung von Blindheit oder Sehbeeinträchtigung. Sie versuchen, diese Vorstellung passend und konsensfähig zu machen, um darauf aufbauend ihre pädagogischen Handlungsweisen zu entwickeln. Diesem Prozess ist im Grunde jede Pädagogik unterworfen, er wird am Beispiel der Sinnesbeeinträchtigungen lediglich deutlicher.

Die traditionelle Blinden- und Sehbehindertenpädagogik hat sich in 200 Jahren institutionalisierter Blindenbildung und etwa 80 Jahren institutionalisierter Sehbehindertenpädagogik mit dieser Problematik auseinandergesetzt. Sie hat im Laufe dieser Zeit Vorstellungen vom Blind-Sein stärker als vom Anders-Sehen entwickelt und versucht, diese Vorstellungen und Modelle durch Theorien zu fundieren. Die traditionelle Argumentationsfigur, die sich teilweise auch heute noch in der Literatur findet, lautet etwa:

traditionelle Sichtweise von Blindheit

• Über das Auge würden etwa 80% aller Informationen (die Prozentangaben variieren) aufgenommen. Das Auge wird als der wesentliche informationsgewinnende Sinn gesehen. Es liefere, so wird übereinstimmend behauptet, ein Abbild der Welt (Gruber/Hammer 2000).

• Ist diese Informationsaufnahme eingeschränkt, modifiziert oder gar nicht vorhanden, fehle die wichtigste Möglichkeit der Welterkenntnis.

• Die Einschränkungen der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit seien im Prinzip nicht zu kompensieren. Allenfalls könnten Kognition, Intelligenz und Gedächtnis einen gewissen Ausgleich schaffen.

• Der Tastsinn als der wichtigste Sinn bei Blindheit liefere Informationen in einem anderen Zeit-Raum-Verhältnis. Dies habe Konsequenzen für Vorstellung, Begriffsbildung und Phantasie.

• Da ein wesentlicher Teil der Aneignung von Welt fehle, müsse diese durch eine spezielle Pädagogik vermittelt werden. Blinde und sehbehinderte Menschen benötigten eine Vermittlung der Welt, daher müssten ihnen Strategien der Auseinandersetzung mit dieser Welt gezeigt werden, die Welt der Sehenden müsse ihnen erklärt werden.

Eine solche Argumentationsfigur versteht Sehen vor allem als Repräsentation, als Abbild. Sie hat nicht nur Auswirkungen auf die pädagogische Diskussion, sondern auch auf die Perspektive, unter der das Thema Wahrnehmung in den Blick gerät. Diesem Aspekt gilt zunächst die Aufmerksamkeit, bevor eine Alternative zur traditionellen Sichtweise dargestellt wird.

Sehen als zentrale Wahrnehmungsweise

Sehen und Wahrnehmen: Sehen wird vielfach als die zentrale, die wichtigste Wahrnehmungsweise begriffen, indem betont wird, dass der größte Teil der Information über das Auge aufgenommen wird.

Der Vorgang des Sehens ist formal beschrieben relativ einfach (Abb. 3). Licht wird von 125 Millionen Rezeptoren der Netzhaut jeden Auges gebündelt. Die Rezeptoren, das sind Stäbchen und Zapfen, geben elektrische Signale ab, wenn Licht auf sie trifft. Aufgabe weiterer Schichten der Netzhaut und des Gehirns ist es, diese Signale umzuwandeln und nützliche Informationen herauszufiltern. Doch was wissen wir über diesen Vorgang und was sagt uns eine solche Beschreibung?


Abb. 3: Der Seh- und Verarbeitungsprozess (Eliot 2001, 284)


Angesichts der enormen quantitativen Zunahme der visuellen Informationen in den letzten 100 Jahren – etwa um das 700-fache – scheint Sehen im Zeitalter der Informationsgesellschaft offenbar die zentrale Wahrnehmungsweise zu sein (Kamper 1995). Gleichzeitig wird in den Medien, aber auch in der pädagogischen, psychologischen und pädiatrischen Fachdiskussion eine enorme Zunahme von Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen konstatiert. Lässt sich hier ein Zusammenhang herstellen? Ist möglicherweise die Auftretenshäufigkeit von Wahrnehmungsstörungen ein Indiz für eine Überforderung des visuellen Systems? Ein solcher Zusammenhang ist meines Wissens bisher noch nicht untersucht worden, daher sollen die folgenden Überlegungen vorsichtig als Fragen und Anregung zum Weiterdenken formuliert werden.


Können die Anforderungen an die visuelle Wahrnehmung, die heute bestehen, überhaupt mit denen verglichen werden, die die heute erwachsene Generation geprägt haben?


Beispiel 1: Die Zeitdauer der Bildschnitte bei Filmen hat sich rapide beschleunigt. In den 1960er und beginnenden 1970er Jahren gibt es Bildeinstellungen von mindestens 30 Sekunden oft, bis zu 1 Minute. Heute finden wir im Fernsehen Bildschnitte etwa alle 3–5 Sekunden, in Musikvideos und experimentellen Filmen in Zehntelsekunden. Welche Anforderungen werden hier an visuelle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit gestellt?

Beispiel 2: Das Zappen durch Fernsehprogramme, das Verfolgen von zwei und mehreren Filmen durch Hin- und Herschalten erfordern wie das Surfen im Internet oder das erfolgreiche Spielen von Computerspielen eine Art von visueller Reaktionsbereitschaft und eher dezentrierter, nämlich auf viele Vorgänge gleichzeitig gerichteter Aufmerksamkeit. Verträgt sich dieses hier geforderte Wahrnehmungsverhalten noch mit dem Lesen eines Textes, einer konzentrierten, weil auf einen Aspekt gerichteten Aufmerksamkeit? Erwachsene, die sozusagen der älteren konzentrierten Wahrnehmungsgeneration angehören, zeigen oft Schwierigkeiten mit der von den neuen Medien geforderten Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit. Kinder, deren Adaptionsleistungen an dezentrierte Wahrnehmungsleistungen enorm sind, zeigen Schwierigkeiten mit den „alten“ Wahrnehmungsanforderungen. Ist das verwunderlich? Vor allem aber, wenn es hier einen Zusammenhang geben sollte, besteht die Lösung in der Pathologisierung ihres Verhaltens (als hyperaktiv, aufmerksamkeits- oder wahrnehmungsgestört)?

Zusammenarbeit von Wahrnehmungsforschung und Pädagogik bei Sehbeeinträchtigung

Unabhängig von diesen Fragen und Hypothesen ist festzustellen, dass die Fachleute zum Thema Wahrnehmungsstörungen und die Fachleute der Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung weder ihre Erkenntnisse austauschen noch gar intensiver voneinander Notiz nehmen. Dies hat zur Folge, dass bei der Diagnose Aufmerksamkeits- oder Wahrnehmungsstörung eine differenzierte Diagnostik des visuellen Systems oft vernachlässigt wird, obwohl neuroophthalmologische Forschungen eine Reihe von spezifischen Funktionsveränderungen der visuellen Wahrnehmung herausgefunden haben (Kap. 3.3). Auf der anderen Seite beschäftigen sich Fachleute der Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung bevorzugt mit dem Auge und seinen Schädigungen und vernachlässigen hierbei oftmals die Wahrnehmungsthematik (Walthes 2013, 132f.). Mit den neueren Forschungsergebnissen wird noch zu belegen sein, dass Sehen mehr ist als die Aufnahme und Weiterleitung von Lichtwellen über das Auge und die Netzhaut an das Gehirn, Wahrnehmung wiederum nicht isoliert und ausschließlich mit Kognition in Verbindung zu bringen ist. Heutige Vorurteile und Vorstellungen sind durch kulturelle, historische, soziale Wahrnehmungen bestimmt. Blindheit und Sehbeeinträchtigung sind in unserem Sprachgebrauch nicht auf existierende blinde und sehbeeinträchtigte Menschen beschränkt, sondern markieren die andere Seite des Sehens, gehören daher zum Begriff „Sehen“ dazu.

2.1 Annahmen zur Wahrnehmung bei anderen Sehbedingungen

2.1.1 Blindheit – eine andere Art der Wahrnehmung?

Vorstellungen von Blindheit


Wie stellen Sie sich die Wahrnehmung eines blindgeborenen Menschen vor? Was ist dort, wo es für Sehende Bilder, Farben, Formen und Bewegung gibt? Fehlt blinden Menschen einfach ein Sinn oder ändert sich hierdurch das gesamte Wahrnehmungsgefüge? Ist die Welt schwarz oder dunkel oder fehlt dort, wo im Wahrnehmungsgefüge der Sehenden Sehen ist, etwas? Ist es so, dass bei Blindheit subjektiv nichts vermisst wird, so wie wir das Nicht-Riechen-Können bei einem Schnupfen auch nicht oder nur manchmal bemerken? Was bedeuten Farben für blinde Menschen, wie träumen sie und wie sehen ihre Vorstellungen z.B. von einem Himmel mit Wolken, von Mond und Sternen aus? Was bedeutet Raum bei Blindheit, und wie erlebt ein blinder Mensch Distanzen?

Dies sind Fragen, die sich nicht nur jede einzelne Person stellen kann, sondern die auch Psychologen und Pädagoginnen gestellt haben. Ihre Antworten sind höchst verschieden und geben darüber Auskunft, wie sich Fachleute, überwiegend Sehende, die Wahrnehmungsweise blinder Menschen vorgestellt haben. Dies soll eine kleine Reise durch die Fachliteratur der letzten 200 Jahre zeigen.

Vorstellungen in der Fachliteratur

Der geburtsblinde Mensch entbehrt „außer dem Begriff der Farben auch die Kenntnis jener Gegenstände, welche wegen ihrer Feinheit nicht durchs Gefühl oder einen anderen Sinn erkannt werden können; die sichtbare Wirkung von Schatten und Licht, sowohl in der Natur, als bey Zeichnungen; die durch entfernte Bewegung entstehenden Abwechslungen; dann das andener Gegenstände und ihren verhältnismäßigen Beziehungen gegeneinander schöpft, die schöne Mannigfaltigkeit“, schreibt J.W. Klein 1819 in seinem „Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden, um ihnen ihren Zustand zu erleichtern, sie nützlich zu beschäftigen und sie zur bürgerlichen Brauchbarkeit zu bilden“ (Klein 1819/1991, 21f.).

Phantasie

Dieser Mangel des Gesichtssinns muss Klein zufolge einen wichtigen Einfluss auf die Phantasie des Blinden haben:

„Auf der einen Seite scheint ihm der Stoff zu fehlen, der dieser wichtigen und fruchtbaren Seelenkraft gleichsam zur Nahrung dient; auf der anderen Seite aber ist es einleuchtend, daß das Bedürfnis, sich durch Phantasie abwesende Gegenstände zu vergegenwärtigen, öfter eintreten müsse, als bey Sehenden. Der Körper, den der Blinde nicht berührt, sey er ihm auch ganz nahe, ist für ihn schon Gegenstand der Phantasie“ (Klein 1819/1991, 22).

Raumwahrnehmung

Auch hinsichtlich der Raumwahrnehmung blinder Menschen finden wir Erklärungsmodelle, die von den beobachteten Auseinandersetzungsmöglichkeiten auf die Erfahrungs- und Bewusstseinsqualität schließen.

„Das Bewußtsein des Blinden ist ein unsymmetrisches, da es sich nur nach der Richtung der Zeitverhältnisse uneingeschränkt bewegt, während es im Raume bloss auf die Ausdehnungen im Bereiche der ausgestreckten tastenden Hand eingeengt ist. Aber selbst die Raumgebiete, welche der Blinde sinnlich wahrzunehmen imstande ist und welche die concreten Bildungselemente in sich schließen, entbehren des Zusammenhanges und somit mangelt auch jenes grosse und bedeutungsvolle Bildungsmittel, durch welches wir imstande sind, aus kleinen Anfängen heraus immer größere Ganze zu bilden und so die Höhe der sich stetig erweiternden Weltanschauung hinanzusteigen. Aber nicht allein dieser Entgang ist eine Consequenz der Blindheit, welcher zu den Erwerbungen des Sehenden einen Gegensatz bildet, sondern auch das Uebergewicht des zeiterweckenden Sinnes im Bewusstsein gibt dem geistigen Leben des Blinden ein besonderes Gepräge, weil der Blinde dort, wo entweder das eigene Bedürfniss, oder die Anregung aus dem Verkehr mit dem Sehenden heraus ihm die Bildung von zusammenhängenden Raumgebieten nothwendig erscheinen lässt, unwillkürlich ein Phantasiegebilde setzt, in welchem die Räume, die er sinnlich wahrgenommen nach der Anordnung des zeiterweckenden Sinnes Zusammenhang und Ausdehnung erlangen“ (Heller 1888, 111).

Die Notwendigkeit anderer Repräsentationsformen ist für Klein wie für Heller auf der einen Seite Erklärungsmuster für die Gedächtnisleistungen blinder Menschen, auf der anderen Seite betont Klein, man müsse diese leicht überwuchernde Phantasie an das Konkrete binden. Diese Annahme hat sich durch die gesamte Blindenpädagogik bis in unsere Zeit gehalten, wie das folgende Zitat zeigt:

„Während beim sehenden Kind die Abgrenzung von gemeinsamer Realität und Nebenrealitäten keine besonderen Probleme bereitet, ist diese Trennung für manche blinde Kinder keine Selbstverständlichkeit. […] Nicht selten haben bei blinden Schulkindern die Nebenrealitäten ein unaltersgemäßes Übergewicht. Man stellt fest, daß typischerweise vorwiegend geburtsblinde Kinder sich häufig in einem charakteristischen Übergangsbereich zwischen gemeinsamer Realität und Nebenrealität aufhalten, aus dem sie sich nur schwer lösen können“ (Liechti 1988, 271f.).

das Auge als objektiver Sinn

Die Idee, das Auge sei Garant dafür, die Welt so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist, ist verantwortlich dafür, dass der Erfahrung durch die anderen Sinne nur ein Bruchteil dieser Abbildqualität zugeordnet wird. Gedächtnis, richtig eingesetzte Phantasie und vor allem eine Sensibilisierung des Hörens sind daher lediglich Kompensationsmittel, die an die Abbildqualitäten des Auges nicht heranreichen können. Ob das Auge diese Abbildqualität überhaupt besitzt, wurde kontrovers diskutiert. Bis heute ist nicht geklärt, welche Funktion das Sehen und die anderen Sinne zum Beispiel für die Entwicklung eines Raumverständnisses spielen.

„But suppose we take the opposite view, that we do not take the role of vision for granted, and do consider movement, touch and sound as sources of spatial information?“ (Millar 1994, 1).

die Molyneux’sche Frage

Die Frage, was Menschen, die von Geburt oder früher Kindheit an blind waren, erkennen können, wenn sie durch eine Operation wieder intakte ophthalmologische Bedingungen haben, d.h. sehen können, ist eine Frage, die in der Literatur zuerst bei John Locke auftaucht. Der Naturwissenschaftler William Molyneux hatte ihm 1688 folgende Frage gestellt:

„A Man, being born blind, and having a Globe and a Cube, nigh of the same bignes [mittelengl.: Größe], Committed into his Hands, and being taught or Told, which is Called the Globe, and which the Cube, so as easily to distinguish them by his Touch or Feeling; Then both being taken from Him; and Laid on a Table, let us suppose his Sight Restored to Him; Wether he Could know by his sight, and before he touch them, know which is the Globe and which the Cube? Or Wether he Could know by his sight, before he stretched out his Hand, wether he Could not Reach them, tho they were Removed 20 or 100 feet from him?” (de Condillac 1754/1983).

Entsprechende Experimente und ihre Ergebnisse ziehen sich durch die blindenpsychologische Literatur und werden in Lehrbüchern zur Sinneswahrnehmung auch heute noch angeführt (Campenhausen 1993).

„Vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit, ein junges Mädchen von 14 Jahren, welches staar-blindgeboren war, mit vollständigem Erfolg zu operieren. Begierig, zu sehen, welches ihre ersten Empfindungen bei dem wiedergewonnenen Augenlichte sein würden, zeigte ich ihr nacheinander ein Messer, eine Schere, einen Löffel, ohne ihr zu erlauben, dieselben zu berühren. Sie konnte dieselben nicht benennen. […] Sie blieb unfähig, diese Gegenstände, die ihr doch dem Gefühle nach seit langer Zeit bekannt waren, wieder zu erkennen. Aber in dem Augenblicke, wo ich ihr erlaubte, sie mit der Hand zu berühren, nannte sie dieselben ohne Zögern“ (Appia 1881, 10, zit. nach Senden 1931).

Eine der ausführlichsten Beschreibungen findet sich bei Oliver Sacks in dem Buch „Eine Anthropologin auf dem Mars“ in dem Kapitel „Sehen oder Nichtsehen“. Er schildert dort die Geschichte eines 50-jährigen Mannes, der seit früher Kindheit erblindet war und nun auf Grund einer Linsenoperation wieder sehen konnte. Sacks befragt ihn, was er unmittelbar nach der Abnahme der Augenbinde gesehen habe, und berichtet:

„Er nahm Licht, Bewegung und Farben wahr, ein verschwommenes bedeutungsloses Gemisch. Und erst als aus diesem Gemisch eine Stimme drang, die ,Nun‘ sagte, wurde ihm klar, daß dieses Chaos von Licht und Schatten ein Gesicht war – das Gesicht seines Chirurgen“ (Sacks 1995, 167).

Isoliertheit der Sinne

Diese Fallbeispiele sind für die Autoren Belege für die Isoliertheit der einzelnen Sinne. Die Experimente zeigen, dass Sehsinn und Tastsinn in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Es ist kein direkter Transfer möglich, d.h. das, was ich getastet habe, kann ich nicht automatisch auch visuell erkennen und umgekehrt. Die Annahme, das Auge bilde die Welt so ab, wie sie ist, erwies sich als falsch. Die Autoren hatten damals keine befriedigende Erklärung für das Verhalten der Menschen nach der Augenoperation und reagierten verwundert auf die großen Schwierigkeiten, die die Patienten hatten, Sehen zu lernen. Bei einigen der Betroffenen führten diese Schwierigkeiten nach einer Zeit großer Anstrengungen des Sehen-Lernens dazu, darauf völlig zu verzichten und sich in der blinden Welt wieder einzurichten.

Heute werden diese Themen sehr differenziert erforscht und liefern interessante Erkenntnisse über die Plastizität des Gehirns.


Eine gute Übersicht über die unzähligen neuropsychologischen Forschungen zu diesem Thema bietet:

Cattaneo, Z.; Vecchi, T. (2011): Blind Vision. The Neuroscience of Visual Impairment. Cambridge, London: MIT Press

2.1.2 Ist die Welt bei Sehbeeinträchtigung verschwommen?

Vorstellungen vom Anders-Sehen

Auch hinsichtlich der Wahrnehmungsweise von Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung finden wir viele Darstellungen der vermeintli-chen Qualität des Sehens (Abb. 4 –7). Da man von einer insgesamt anderen Qualität des Bildes ausgeht, wird auch bildlich veranschaulicht, wie man sich zum Beispiel das Sehen bei Hornhauttrübung vorstellt.


Abb. 4: Sehen bei Hornhauttrübung (Blindenanstalt Nürnberg 1980, 53)


Abb. 5: Sehen bei Zentral-skotom (Blindenanstalt Nürnberg 1980, 53)


Abb. 6: Sehen bei peripheren Gesichtsfeldausfällen (Blindenanstalt Nürnberg 1980, 53)


Abb. 7: Sehen bei degenerativen Netzhautveränderungen (Hyvärinen 2002a)

Diese Darstellungen, so drastisch sie für den Laien manche Sehsituation verdeutlichen können und so sehr sie vordergründig für die Erklärung manchen Verhaltens dienen mögen, ignorieren jedoch, dass Sehen und visuelles Wahrnehmen nicht mit einer Fotokamera zu vergleichen sind. Sehen ist mehr als die Abbildung eines Gegenstandes auf der Netzhaut, Sehbeeinträchtigung ist etwas Anderes als ein Visuswert oder die Prozentangabe eines Gesichtsfeldverlustes.

Wie bei Blindheit, so hat die Vorstellung der Sehsituation bei Sehbeeinträchtigung ebenfalls zu einigen Mythen und verkürzten Vorstellungen geführt, die über das Visuelle hinausgehen. Das Fehlen des Blickkontaktes bei exzentrischer Fixation, die unruhig erscheinenden Augenbewegungen bei einem Nystagmus werden mit Verschlagenheit, Unklarheit und daher mit Charaktereigenschaften in Verbindung gebracht. Die Tatsache, dass Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung ihr Sehvermögen in manchen Situationen sehr gut einsetzen, in anderen Situationen wiederum nur wenig oder nichts zu sehen scheinen, wird ihnen ebenfalls häufig als Simulation und Ausweichen wollen ausgelegt. Eine Differenzierung von Sehfunktion und Persönlichkeitseigenschaften findet nicht immer statt (Benesch 1971, 72).

„Es ist nicht zu verwundern, daß […] dem Sehschwachen aus Unkenntnis über die Auswirkungen der verschiedenen Sehbehinderungen oft Faulheit, schlechter Wille, Unhöflichkeit und dergleichen vorgeworfen wird, ja daß man ihn sogar als Simulanten betrachtet“ (Junod 1966, 17).

Der Zusammenhang von Sehschärfe und Intelligenz wird in allgemein psychologischen und neurologischen Untersuchungen immer wieder vermutet. Hieraus wurde im Umkehrschluss ein „allgemein unterentwickelter Intellekt“ (Benesch 1971, 69) angenommen. Mittlerweile wird dieser Zusammenhang nicht mehr gesehen. Rath (1987) bezieht sich auf Barraga (1976), wenn sie feststellt, dass sich die „Ergebnisse von Gruppenvergleichen als wenig wirksam für die Erklärung der Zusammenhänge zwischen Intelligenz und Sehbehinderung erwiesen“ (1987, 42).

veränderte Forschungssituation

Die dargestellten Annahmen zur Wahrnehmung bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung gelten inzwischen aus zwei Gründen als überholt: Erstens ist die diesen Annahmen zugrunde liegende Wahrnehmungstheorie nicht ersichtlich und zweitens liefern die erheblichen Fortschritte der neurowissenschaftlichen Forschung heute eine völlig andere Grundlage. In den folgenden beiden Kapiteln will ich versuchen, Wahrnehmungstheorie, Wahrnehmungsforschung sowie Störungstheorie so miteinander zu verbinden, dass sie die Basis und den Rahmen für pädagogisches Handeln im Bereich Blindheit und Sehbeeinträchtigung darstellen. Aus einer solchen Perspektive ist es notwendig, zunächst ein wahrnehmungstheoretisches Fundament zu erarbeiten, um sich mit Blindheit oder Sehbeeinträchtigung beschäftigen zu können.


Sacks, O. (1995): Eine Anthropologin auf dem Mars. Sieben paradoxe Geschichten. Hamburg: Rowohlt

2.2 Grundprinzipien der Wahrnehmung

Vier Theorierichtungen haben die Vorstellungen über Wahrnehmung wesentlich beeinflusst:

1. Die Deduktionstheorie oder empiristische Theorie, deren bekannteste Vertreter George Berkeley (1685–1753) und David Hume (1711–1776) den Menschen als Tabula rasa, als unbeschriebenes Blatt gesehen haben, ein Wesen, das durch Sinneseindrücke lernt.

2. Die Gestalttheorie, eine Wahrnehmungstheorie des beginnenden 20. Jahrhunderts, die sich vor allem mit den übereinstimmenden, angeborenen und kulturellen Tendenzen der menschlichen Wahrnehmung beschäftigt und sogenannte Gestaltgesetze formuliert hat (Wolfgang Wertheimer, 1880–1943, Wolfgang Köhler, 1887–1967).

3. Die Affordance-Theorie, die Korrelationen zwischen Umweltgegebenheiten und Wahrnehmungsvorgängen sucht (James J. Gibson, 1982).

4. Die Theorie der Informationsverarbeitung, deren Schwerpunkt heute in der Robotik liegt und die sich bei der Erzeugung wahrnehmender Systeme auch mit der menschlichen Wahrnehmung beschäftigt (Donald Broadbent 1926–1993).

neue Forschungsmethoden

Keine dieser Theorien reicht heute aus, um die Komplexität der Wahrnehmung hinreichend zu erklären. Mit den Möglichkeiten der Beobachtung neuronaler Vorgänge durch bildgebende Verfahren und aufgrund experimenteller Studien setzt sich mehr und mehr die Auffassung durch, Wahrnehmung beruhe auf hoch komplizierten Interaktionen in neuronalen Netzen. Zwar ist man noch nicht in der Lage, die spezifische Qualität dieser Prozesse darzustellen und zu erklären, die heutigen Erkenntnisse reichen jedoch aus, um bisherige Wahrnehmungstheorien in Frage zu stellen.

„So hat man nicht nur sehr viele Details über die strukturelle und funktionale Organisation des Gehirns im Hinblick auf Wahrnehmung, Gedächtnis und kognitive Leistungen gesammelt, sondern es ist heute mit Hilfe so genannter bildgebender Verfahren möglich festzustellen, welche Prozesse im Gehirn ablaufen, wenn eine Person geistig tätig ist, etwa wenn sie einen Gegenstand wahrnimmt, sich an etwas erinnert oder über etwas nachdenkt“ (Roth 1994, 18).

Beobachtung und Realität

Auch wenn es stimmt, dass die Neurowissenschaften sehr viele Informationen über die strukturelle und funktionale Organisation des Gehirns erhalten haben, so muss immer wieder betont werden, dass die bildgebenden Verfahren auf Rechenmodellen beruhen, d.h. nur errechnen und darstellen können, was ihnen zuvor als Regel eingegeben wurde (Tebartz van Elst 2007, 30).

Letztlich liefern diese Forschungen empirische Belege für die folgende Annahme phänomenologischer (Merleau-Ponty 1966; Varela 1994) und konstruktivistischer Theorien (v. Foerster 1993; v. Glasersfeld 1988; Maturana/Varela 1987): Es ist keine Realität nachweisbar unabhängig von dem, der sie beobachtet. Wenn es eine objektive, beobachterunabhängige Realität gäbe, könnten wir, da wir Beobachter sind, nicht wissen, ob wir ihr nah sind oder nicht. Alles, was über Wahrnehmung, Gehirntätigkeit, Erkennen, Sehen oder Bewusstsein gesagt wird, wird von Beobachtern gesagt, deren Wahrnehmungen und deren Erkenntnis wiederum Bedingung der Beobachtung sind (Roth 1994). Wir haben es hier mit einem zirkulären, auf sich selbst zurückweisenden, selbstreferentiellen Prozess zu tun. Aussagen über Realität sind immer Aussagen von Beobachtern, gleichgültig ob es sich um Physiker, Chemiker, Lyriker oder Komiker handelt. Beobachten ist unsere Lebenspraxis, wir können uns nicht vor jeder Beobachtung denken, denn im Lebensvollzug selbst sind wir ungeachtet des jeweiligen Tuns Beobachter. Alle unsere Handlungen basieren auf Beobachtung und Unterscheidung.

Als These formuliert bedeutet dies: Ein Beobachter entdeckt nicht a priori vorhandene Phänomene, sondern erzeugt sie durch Beobachtung, d.h. durch Unterscheidung. Die nachfolgenden Experimente werden das noch einmal verdeutlichen.

Dem Diskussionstand der neueren Wahrnehmungsforschung entsprechend kann Folgendes über Wahrnehmung gesagt werden:

Zusammenfassung

1. Wahrnehmung hat nur einen Zeugen: das eigene Bewusstsein. Jede Wahrnehmung ist subjektiv, d.h. wird von einem Subjekt gemacht. Als solche ist jede Wahrnehmung aus der Perspektive des Subjekts in sich vollständig und selbstbezüglich.

2. Wahrnehmung wird nicht als Abbild einer objektiv, vor jeglichem wahrnehmenden Bewusstsein vorhandenen Wirklichkeit begriffen, sondern ist als konstruktiver Prozess zu deuten (Roth 1994).

3. Wahrnehmung ist abhängig von Erfahrung. Die Erzeugung von Bedeutung benötigt Erfahrungen.

4. Wahrnehmung wird in Abhängigkeit von Kontext und kulturellem Hintergrund gesehen.


Wahrnehmung im Allgemeinen und Sehen im Besonderen kann daher als kulturspezifische, kontextabhängige Erzeugung von Bedeutung begriffen werden. Alles, was wir sehen, sehen wir als Etwas, als im Unterschied von oder in Verbindung zu, da ein vorgängiges Wissen bestimmt, was wir sehen. Viele Bilder der „Symmetry Drawings“ von M. C. Escher verdeutlichen diesen Zusammenhang (https://mcescher.com/gallery/symmetry/).


Vermutlich sehen Sie in solchen Bildern zunächst ein irgendwie geartetes Muster, dann die weißen oder die schwarzen Figuren. Prüfen Sie bitte einmal genauer, wie dieser scheinbar so selbstverständliche Prozess funktioniert. Um eine Figur als Einheit sehen zu können, müssen Sie ihn von der schwarzen Umgebung abheben, d.h. die schwarzen Figuren in den Hintergrund stellen und umgekehrt. Wahrnehmen bedeutet unterscheiden, aber auch Einheiten bilden. Die Einheiten sind jedoch nicht in der Außenwelt vorgegeben, sondern sind konstruktive Leistungen des Wahrnehmenden.


Abb. 8: Erst durch die Konstruktion des Wahrnehmenden entsteht ein „Bild“: Dallen-bachsche Figur


Diesen Prozess können Sie für sich selbst anhand der Dallenbach-schen Figur in Abbildung 8 nachvollziehen. Interessant ist hierbei, dass wir zwar beobachten können, was wir sehen, aber nicht, wie wir visuell konstruieren, wie es gelingt, dass aus den schwarzen Flecken auf einem weißen Papier eine Gestalt, eine sinnvolle Einheit wird.

Gestalttheorie

Die Gestalttheorie (Vertreter: Wertheimer, Köhler, Metzger) hat zu Beginn des letzten Jahrhunderts in vielen Experimenten bestimmte Prinzipien postuliert, die bei der Wahrnehmung von Mustern oder Gegenständen dazu führen, diese als Einheit zu sehen (Abb.9–12).


Abb. 9: Gesetz der Ähnlichkeit


Abb. 10: Gesetz der guten Gestalt


Abb. 11: Gesetz der Nähe


Abb. 12: Gesetz der Geschlossenheit

Plausibilitätskriterien

Diese Gestaltprinzipien sind ausgesprochen wichtig, zum Beispiel bei der Visualisierung von Zusammenhängen. Wir halten etwas für echt und nicht für eine optische Täuschung, wenn es die in Tabelle 1 aufgeführten Kriterien erfüllt.

Tab. 1: Kriterien für Plausibilität von Wahrnehmung (nach Stadler/Kruse 1990)

1. Syntaktische Kriterien 2. Semantische Kriterien 3. Pragmatische Kriterien
Helligkeit Bedeutungshaltigkeit
Kontrastreichtum Kontur Manipulierbarkeit
Strukturelle Reichhaltigkeit Kontextstimmigkeit
Dreidimensionalität
Form- und Größenkonstanz
Selbstbewegung
Lokalisierbarkeit Valenz Erwartbarkeit

Die von Stadler und Kruse sogenannten syntaktischen Kriterien finden zum Beispiel auch bei der Gestaltung von Bilder- oder Lehrbüchern Anwendung. Insbesondere bei Vorliegen einer Sehbeeinträchtigung ist es elementar bedeutsam, bei der Umsetzung von Materialien sowohl die Gestaltprinzipien als auch vor allem die syntaktischen und pragmatischen Kriterien zu berücksichtigen.

Erfahrungs- abhängigkeit

Dass alle semantischen Kriterien (Tab. 1) einen sehr bedeutsamen Anteil an der Plausibilität von Wahrnehmung besitzen, soll an einem Experiment des russischen Neurologen Lurija verdeutlicht werden (Abb. 13).


Abb. 13: Experiment zu semantischen Plausibilitätskriterien (Lurija 1993, 80)


Die Aufgabenstellung zu den Abbildungen lautet: „Bitte benennen Sie kurz diese Darstellungen und schreiben Sie Ihre Begriffe auf.“ Gebeten, diese Figuren zu benennen, haben Menschen aus entlegenen Dörfern im Kaukasus übereinstimmend folgende Angaben gemacht:

1 = ein Teller, 2 = ein Zelt, 3 = ein Armband, 4 = eine Perlenkette, 5 = ein Spiegel, 6 = eine Uhr, 7 = ein Kesselgestell.

In einem Kontext, in dem Symbole nicht durch Geometrie besetzt sind, gelten andere Bedeutungseinheiten. Wenn behauptet wird, Inuit kennen etwa 72 Begriffe für Schnee, dann bedeutet dies zugleich, sie können 72 verschiedene Schneearten voneinander unterscheiden, also wahrnehmen. Es gibt viele Beispiele und Belege nicht nur für die Kontextgebundenheit, sondern auch für die Kulturabhängigkeit der Wahrnehmung. Doch auch innerhalb eines Kontextes, innerhalb einer Kultur gibt es höchst unterschiedliche Wahrnehmungsweisen. Wenn man zum Beispiel mit Freunden einen gemeinsam angeschauten Film diskutiert oder wenn mehrere Zeugen eines Verkehrsunfalls den Unfallhergang wiedergeben, wird deutlich, dass Wahrnehmung immer selektiv ist, d.h. etwas einschließt und ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und damit zugleich anderes ausschließt.

Folgerungen für die Pädagogik

Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses von Wahrnehmung stellen sich andere Aufgaben und Anforderungen für eine Päd- agogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung. In der erstgenannten, älteren Argumentationsfigur wurde Sehen als Abbild und damit tendenziell als die „richtige“ Wahrnehmung der Welt begriffen. Entsprechend wird die unvollständige, defizitäre, zu kompensierende Wahrnehmung blinder und sehbeeinträchtigter Menschen als korrekturbedürftig gesehen. Eine solche Sichtweise ist mit der Annahme verbunden, dass alle, die vollständig sehen (im medizinischen Sinne), auch „richtig“ sehen und das Gleiche sehen. In der anschließend dargelegten zweiten Argumentationsfigur gibt es keine Frage nach vollständig oder unvollständig, richtig oder falsch. Vielmehr geht es darum, die individuellen Wahrnehmungs- und Konstruktionsweisen von Welt als einander ergänzende, als jeweils spezifische zu sehen und wertzuschätzen. Aus der sogenannten Erstpersonperspektive ist jede Wahrnehmungsweise in sich vollständig – oder nehmen Sie etwa die Unvollständigkeit Ihrer eigenen Wahrnehmung wahr? Denn auch Sie haben in jedem Auge einen sogenannten blinden Fleck. Aus dieser Perspektive dürfen wir nur von spezifischen Seh-, Hör-, Bewegungs- oder Kognitionsbedingungen sprechen, aber nicht von Sehrest, Hörrest, von Wahrnehmungsstörung oder Ähnlichem. Ob der spezifische Ausschnitt, der bei Sicht, bei Blindheit oder bei Sehbeeinträchtigung jeweils gewählt wird, dazu führt, den einen Ausschnitt als pathologisch oder defizitär und den anderen als normal zu kennzeichnen, hat nichts mit der spezifischen Wahrnehmungsweise zu tun, sondern ist ein historischer, kultureller, gesellschaftlicher Zuschreibungsprozess.

2.3 Neurowissenschaftliche Erkenntnisse

Um das in Kapitel. 2.2 entwickelte Wahrnehmungsmodell in seinen Konsequenzen für das Verständnis von Sehbeeinträchtigungen und Beeinträchtigungen der visuellen Wahrnehmung begreifen zu können, ist es notwendig, einige Grundlagen der neueren neurowissenschaftlichen Forschung zu kennen und zu verstehen. Die 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts galten als die Dekade des Gehirns. Die Forschungen in diesem Zeitraum haben so viele neue Erkenntnisse und Ergebnisse gebracht, dass alte Lehrbücher über Wahrnehmung und Informationsverarbeitung neu geschrieben und ältere Ergebnisse revidiert werden müssen. Das visuelle System gilt hierbei als das am besten erforschte. Neurowissenschaft ist ein sich seit Mitte der 80er-Jahre rapide entwickelndes interdisziplinäres Forschungsfeld. Von den vielen Forschern seien hier diejenigen genannt, die aus der Perspektive der visuellen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung relevant erscheinen.


Biologie, Neurobiologie: Humberto R. Maturana (1987, 1994, 1998); Francisco J. Varela (1987, 1990, 1994, 1996)

Chemie: Ilya Prigogine (1995)

Neurologie: Antonio R. Damasio (1997, 2000), David H. Hubel und Torsten N. Wiesel (1959), David H. Hubel (1989), Gerhard Roth (1994, 2001), Wolf Singer (2002), Giacomo Rizzolatti (1996)

Neuropsychologie: Alexander Lurija (1993), Luc Ciompi (1999), A. David Milner und Melvin A. Goodale (2006)

Physik: Heinz von Foerster (1993, 1998), Hermann Haken (1996)

Kognitionswissenschaften, Neurolinguistik: Ernst von Glasersfeld (1988, 1997), Francisco J. Varela (1990, 1992, 1996), Andreas K. Engel (1998), Alva Noë und Evan Thompson (2002), Leslie Ungerleider und Mortimer Mishkin (1982)

Es ist sehr interessant und lohnenswert, sich als professionelle Person im Feld der Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung in diesen Bereich einzuarbeiten, denn damit eröffnen sich völlig neue Perspektiven. Die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen und Forschungsprozessen der unterschiedlichen Autoren ist ausgesprochen faszinierend. Hier können nur einige wenige Erkenntnisse vereinfacht und verkürzt wiedergegeben werden. Haben Sie etwas Geduld beim Lesen der einzelnen Puzzlesteine, am Ende wird sich das Gesamtbild vervollständigen.

2.3.1 Autopoiesis

Selbstorganisation

Dieser Begriff taucht auf, wenn es um Beschreibungen der Funktionsweise des Gehirns geht. Der Begriff kommt aus dem Griechischen (autos=selbst, poiein=machen) und meint übersetzt etwa so viel wie Selbsterzeugung, Selbstorganisation. Das Gehirn wird, wie alle lebenden Systeme, als autopoietisches System beschrieben. Lebende Systeme können Zellen sein, aber auch das Immunsystem, Frösche oder Menschen. Was bedeutet dies bezogen auf das Gehirn und die Wahrnehmung? Das Gehirn hat in seiner Funktionsweise keinen direkten Kontakt zur Umwelt. Es arbeitet und funktioniert mit Hilfe seiner eigenen Bausteine, den Nervenzellen und biochemischen Stoffen (Neuropeptide, Transmitter) und mit Hilfe seiner eigenen Operationen, den Prozessen der elektrischen Ladung und Entladung. Diese Bausteine und Prozesse erhalten sich durch zirkuläre Prozesse, d.h. sie nutzen die eigenen Prozesse zur Erzeugung neuer und sind in dieser Organisation nicht direkt von außen zu beeinflussen. Autopoietisch bedeutet nicht, dass ein System hermetisch umweltabgeschlossen ist. So wie lebende Systeme ständig Sauerstoff, Licht und andere Bestandteile aus der Umwelt benötigen, um zu überleben, so besteht auch zwischen dem Gehirn und seiner Umwelt ein ständiger Austausch energetischer Art, denn Neurone brauchen Anregung, um aktiv werden zu können. Jedoch bestimmt die Anregung bzw. der Reiz nicht die Art der Aktivität des Gehirns. Das mag zunächst verwirrend klingen, gehen wir doch davon aus, dass ein Bild das Auge, ein Klang das Ohr anspricht und es daher doch sehr spezifische Reize für das Gehirn geben muss.

2.3.2 Neutralität des neuronalen Codes

Selektivität der Sinneswahrnehmung

Sehr unterschiedliche Umweltereignisse können zur Anregung von Sinnesrezeptoren führen: Schalldruckwellen, Wasserströmungen, Geruchsmoleküle, Lichtquanten, mechanischer Druck, Magnetfelder usw. Allerdings sind zum Beispiel menschliche Sinnesrezeptoren nicht für alle Umweltereignisse empfänglich. Wir sind per se nicht sensitiv für Magnetfelder, elektromagnetische Strahlung, lediglich für Lichtquanten, Schallwellen und Geruchsmoleküle in einem bestimmten Spektrum. So verfügen Hunde (Geruchsmoleküle), Zugvö- gel (Magnetfeld), Fledermäuse (Schallwellen) über andere Spektren oder andere Sinneswahrnehmungen. Evolutionstheoretisch betrachtet haben wir offensichtlich diejenigen Sinnesorgane selektiv ausgebildet, die wir für das Überleben als Spezies brauchten. Der Terminus Neutralität des neuronalen Codes bezieht sich auf das Prinzip der Reiz- umwandlung.

Eine neuronale Erregung entsteht in den Sinneszellen durch Veränderung der elektrischen Ladungsverhältnisse (Depolarisation oder Hyperpolarisation). Damit die Nervenzellen erregt werden können, bedarf es der Umwandlung in neuroelektrische oder neurochemische Prozesse. Bei dieser Umwandlung (Abb. 14) verlieren die Umweltreize ihre Spezifität. Aufgrund der Art der Übersetzung eines Umweltereignisses in elektrische oder neurochemische Aktivität „weiß“ das Gehirn nicht, ob es sich um etwas Gesehenes, Gefühltes, Gehörtes oder Geschmecktes handelt. Aus der Beschaffenheit der neuronalen Signale lässt sich nicht auf die Spezifität des Umweltereignisses schließen.


Abb. 14: Umwandlung in unspezifische neuronale Signale (Roth 2001, 94)

Wahrnehmung und Hirnaktivität

Da das Gehirn außer neuronalen Signalen und biochemischen Prozessen nichts zur Verfügung hat, muss man folgern, dass es zwischen Umweltereignissen, Sinnesrezeptoren und neuronaler Verarbeitung keine direkte Korrelation geben kann. Außerdem geht man heute zuverlässig davon aus, dass Weiterleitungs- und Rekombinationsprozesse nur einen sehr geringen Teil der Gehirnaktivität insgesamt ausmachen.

„Das System beschäftigt sich hauptsächlich mit sich selbst; 80–90% der Verbindungen sind dem inneren Monolog gewidmet“ (Singer 2002, 102).

Diese Erkenntnis ist vor allem deswegen so schwer nachzuvollziehen, weil wir von der Einheit des Wahrgenommenen ausgehen. Wir können aus diesen Erkenntnissen folgern, dass das visuelle, taktile, akustische Angebot zwar möglicherweise der Anlass für Wahrnehmung sein kann, was wahrgenommen wird und wie wahrgenommen wird ist jedoch von außen nicht steuerbar, das entscheidet jedes wahrnehmende System für sich selbst.

2.3.3 Netzwerkbildung

Erzeugung von Bedeutung

Wie gelingt es uns, anhand der enormen Fülle von elektrischen Impulsen und biochemischen Prozessen im Gehirn das zu konstruieren, was wir als Stuhl sehen, als Melodie hören oder als sauer schmecken? Mit anderen Worten, wie wird Bedeutung erzeugt? Eindeutige Antworten gibt es auf diese Fragen auch heute noch nicht, denn das Grundproblem bleibt bei allen Fortschritten der Neurowissenschaften ungelöst: Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Formen der Erregungsausbreitung, den elektrischen Mustern, den Regionen der Gehirnaktivität und der Bedeutung, der Erlebnisqualität des Einzelnen?

beteiligte Hirnregionen

Mit Hilfe der bildgebenden Verfahren (funktionale Magnetresonanztomographie (MRT/fMRI) und Positronenemissionstomographie (PET)) konnte festgestellt werden, dass auf der einen Seite die aktivierten Hirnregionen eine große Bedeutung für Identifikation spielen, dass allerdings deutlich mehr Felder, Orte und Regionen an spezifischen Wahrnehmungen beteiligt sind, als bisher angenommen. Es gibt nicht ein Sehzentrum, ein Sprachzentrum, ein Motorikzentrum, vielmehr sind viele Bereiche in den verschiedenen Regionen des Gehirns gleichzeitig aktiv, wenn ein Mensch ein Wort liest oder ein Bild anschaut. Der Neurologe Oliver Sacks spricht zum Beispiel von mindestens 35 unterschiedlichen Arealen im Zusammenhang mit Sehen (1995). Auf das Thema Sehschädigung kann Folgendes übertragen werden: Wenn gesagt wird, der visuelle Cortex sei beschädigt, dann bedeutet dies nicht automatisch, dass kein Sehen möglich ist, da andere Areale ebenfalls für die visuelle Wahrnehmung zuständig sind. Ausführlicher wird dies in Kapitel. 3.3 erläutert.

Zeitfaktor

Nicht nur die Lokalisierung, sondern vor allem auch der Zeitfaktor, d.h. die zeitlich synchrone Entladung von Neuronengruppierungen und ihre Streuung bei der Informationsverarbeitung, spielen eine große Rolle. Einzelne Neurone haben in diesem Zusammenhang eine geringe funktionelle Relevanz. Die Bedeutung einzelner Impulse hängt wesentlich von deren Einbettung in kohärente Aktivitätsmuster ab.

Netzwerke

Heute werden Assemblies, neuronale Netzwerke als biologische Äquivalente von bedeutungstragenden Einheiten geprüft (Singer et al. 1997). Mit dieser Theorie gelingt es, Lernen neurophysiologisch als Erzeugung neuer Netzwerke, neuer Verbindungen zu begreifen.

2.3.4 Erfahrungsabhängigkeit

Bildung neuer Netzwerke

Damit stellt sich die Frage: Wodurch lässt sich das Gehirn anregen, neue Netzwerke zu bilden? Wie lernt es zu unterscheiden, was bedeutsam ist und was nicht, wie hat man sich die Entstehung von Bedeutung vorzustellen? Auf diese Fragen gibt es Antworten auf unterschiedlichen Ebenen, die jedoch alle zeigen, dass sich der Forschungsprozess hier noch am Anfang befindet.

Anpassung

a) Die biologische Ebene: Organismen müssen, um am Leben zu bleiben, mit ihrer Umwelt gerichtet interagieren, sie müssen diese beobachten, sie müssen auswählen. Dies bedeutet, sie nehmen vornehmlich dasjenige wahr, was für ihr Überleben als Individuum und als Gruppe notwendig ist. So können evolutionär betrachtet Bau und Leistung der Sinnesorgane als Anpassungsleistungen an Lebensbedingungen verstanden werden (Maturana/Varela 1987).

Erfahrung

b) Die neurowissenschaftliche Ebene: Die ontogenetische Entwicklung des Gehirns ist ein komplexes und prekäres Wechselspiel zwischen genetischen Rahmenbedingungen, Selbststeuerungs- und internen Lernprozessen und Umweltinteraktion. Die genetischen Rahmenbedingungen und die internen Selbstregulationsprozesse steuern das Wachstum von Axonen und Dendriten zu ihren jeweiligen Bestimmungsorten, doch sobald die Fasern beginnen, sich miteinander zu assoziieren, finden Lernprozesse statt, gibt sozusagen die Erfahrung den Ton an und wirkt gestaltend und verfeinernd auf diese Prozesse ein. Erfahrung kann somit als die Summe und die Qualität dieser Prozesse verstanden werden.

Anlage – Umwelt

Der Blick auf die sogenannte Anlage-Umwelt-Thematik wird hierdurch differenzierter.

„Es ist anzunehmen, dass sich unsere genetische Ausstattung seit den letzten 30–40.000 Jahren nur unwesentlich, wenn überhaupt verändert hat. Jedenfalls nicht mehr als es der Streubreite der genetischen Ausstattung der heute lebenden Menschen entspricht. Das bedeutet aber auch, dass ein Baby höhlenbewohnender Steinzeiteltern so werden würde wie wir, wenn es von Geburt an in unserer Gesellschaft aufgezogen würde. Umgekehrt wären unsere Kinder, wären sie den früheren Menschen anvertraut, so geworden wie deren Kinder. Wir wissen nicht sehr viel über diese Menschen. Aber gewiss ist, dass sie sich drastisch von uns unterschieden haben müssen, und zwar im Hinblick auf höhere mentale Fertigkeiten und kognitive Leistungen wie Sprach- und Abstraktionsvermögen. Dies zeigt, wie obsolet die derzeitige Überbetonung genetischen Determinismus ist“ (Singer 2002, 44).

Wahrnehmung und Handlung

c) Die wahrnehmungs- und handlungstheoretische Ebene: Die Generierung von Bedeutung wird verstanden „als selbstreferentieller Prozess zwischen handlungsgeleiteter und damit erfahrungsabhängiger Wahrnehmung und wahrnehmungsabhängigem und erfahrungsgeleitetem Handeln“ (Klaes 2000). Wahrnehmung richtet sich nicht auf isolierte Objekte, sondern findet in Bedeutungskontexten statt, die bereits durch vorheriges Handeln strukturiert sind.


Ein Beispiel aus der Frühförderung: Ein motorisch hoch aktiver, sehr neugieriger blinder Junge liebte – wie fast alle Kinder – das Schaukeln auf einer großen Schaukel sehr. Je kräftiger er angestoßen wurde, umso besser. Seine Eltern waren, als er klein war, gut damit beschäftigt, ihn anzustoßen. Als der Junge 5 Jahre alt war, hielt sein Vater die Zeit für gekommen, ihm zu vermitteln, dass er nun versuchen solle, das Schaukeln alleine zu lernen. Nach anfänglichen Protesten setzte sich der Junge auf die Schaukel, hielt sich mit beiden Händen an den Seilen fest und schien zu überlegen. Dann löste er beide Hände, schlug sich damit kurz auf den Po und griff schnell nach den Seilen.


Können Sie sich diese Handlungsweise erklären?

Selbst Sehen ist nach Engel/König (1998) bzw. O`Regan/Noë (2001) nicht Bildanalyse, sondern visuell geführte Handlung. Lauwereyns (2012) weist in verschiedenen Studien nach, wie selbst die Augenbewegungen, also Handlungen, die sich der Selbstwahrnehmung weitgehend entziehen, erwartungsgesteuert sind.

Schlussfolgerungen

Allen Argumentationsebenen ist gemeinsam, dass die individuelle wie die kollektive, d.h. kultur- und gesellschaftsbedingte Erfahrung die Basis für die Konstruktion weiterer Bedeutung darstellt. Erfahrung wird hier vor allem als handelnde Erfahrung, als Aktivität, als Bewegung begriffen. Nicht die sensorischen Systeme allein, sondern die Vernetzung der Systeme hat konstruktiven Charakter: Sie definieren die in der Welt relevanten Unterscheidungen und legen durch Handlungen die Strukturen der Welt fest. Gehirne dienen nicht der Weltmodellierung, sondern sind „Vehikel der Welterzeugung“ (Varela 1990). Wir erzeugen unsere Wahrnehmungswelt, indem wir uns bewegen. Nicht das Auge entscheidet zum Beispiel, welchen Objekten in unserem visuellen Feld Aufmerksamkeit gewidmet wird oder welche ausgewählt werden. Es ist vielmehr die durch Handlungen und Bewegungen erzeugte Erfahrung, die diese Selektion steuert. Wahrnehmung, sagt Singer, ist die Überprüfung von Hypothesen (2002, 108). Hypothesen kann nur entwickeln, wer das Material dazu hat. Das Material sind die eigenen Erfahrungen.

2.4 Wider die Überbewertung des Auges – Bewegung und Wahrnehmung

Bewegung als Grundlage

Nicht die Reizaufnahme über das Auge oder Ohr wird in neueren Wahrnehmungs- und Kognitionstheorien als die Basis für Wahrnehmung gesehen, nicht das Objekt in der Außenwelt, nicht das farbliche Muster auf dem Bild, sondern Bewegung. Bewegung ist damit nicht Folge von Wahrnehmung, sondern ihre Bedingung. „Ohne Bewegung keine Wahrnehmung der Außenwelt“, sagte Palágyi, ein ungarischer Wahrnehmungswissenschaftler, schon 1924. Viele Experimente der Wahrnehmungsforscher und Neurowissenschaftler beschäftigen sich mit dem Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung. Im Folgenden können nur einige wenige Beispiele genannt werden:


„Jeder Brillenträger hat vermutlich die Erfahrung gemacht, dass er beim ersten Aufsetzen der Brille verzerrt sah. Diese Verzerrung kann so stark sein, dass die Steuerung der eigenen Bewegungen Schwierigkeiten bereitet, beispielsweise ein gezieltes Greifen oder das richtige Setzen der Schritte. Jeder Brillenträger wird sich aber auch daran erinnern, dass die Verzerrung innerhalb von ein bis zwei Tagen verschwand“ (Held 1965/1986, 200).

Die Verzerrung verschwindet offensichtlich nicht dadurch, dass sich die Brillengläser verändern oder die Linse oder der Bau des Auges, noch verliert sie sich dadurch, dass sich die Außenwelt wieder entzerrt. Dieser Adaptionsprozess des wahrnehmenden Systems beruht vor allem auf Handlung und Bewegung. Um diese Hypothese zu überprüfen, wurden verschiedenste Untersuchungen durchgeführt, von denen einige kurz erwähnt werden sollen.


Held (Abb. 15) untersuchte, ob und wie aktive und passive Bewegung die senso-motorische Koordination bei Katzen beeinflusst. Bei diesem sogenannten Katzenexperiment wurden zwei Katzen nach der Geburt 8–12 Wochen in Dunkelheit aufgezogen. Danach wurde die Katze A in ein Laufgeschirr gespannt, die Katze B in ein Körbchen, das, wie man auf dem Bild sieht, von der Katze A bewegt wurde. Katze A war die aktive Katze, Katze B blieb passiv, beide konnten dieselbe visuelle Information, das Streifenmuster an der Wand, aufnehmen. Nach dem Versuch wurden beide Katzen von ihren Aufgaben befreit, jedoch zeigte jeweils nur die aktive Katze eine sensorisch-motorische Koordination, die passive Katze benötigte einige Tage Bewegungsfreiheit, um dieses Verhalten auch zu entwickeln (Held 1965/1986).


Abb. 15: Katzenexperiment von Held (1965/1986, 201)


Dass aktive Bewegung Bedingung für Adaption ist, belegt auch das sogenannte Umkehrbrillen-Experiment. Erisman und Kohler (Kohler 1974) setzten Versuchspersonen Prismenbrillen auf, die oben und unten oder die Seiten vertauschten. Versuchspersonen, die eine Umkehrbrille trugen, behaupteten nach etwa einer Woche, dass sie die Welt nicht länger als auf dem Kopf stehend, sondern aufrecht wahrnahmen und sich zielsicher darin bewegen und orientieren konnten. Beim Absetzen der Prismenbrillen nach einigen Wochen wiederholte sich der Vorgang, auch hier benötigten die Versuchspersonen einige Tage, um die Welt vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Das Interessante an diesem Experiment ist, dass dieser Anpassungsprozess dann erfolgte, wenn die Versuchspersonen sich aktiv bewegen durften.


Bach y Rita und seine Kolleginnen und Kollegen, eine Forschergruppe, die sich unter anderem auch mit der Wahrnehmung blinder Menschen beschäftigt, koppelten eine Videokamera mit einem System, das über Vibration Muster auf die Haut des Bauches übertrug. Wurde die Kamera durch eine andere Person gesteuert, hatten die Versuchspersonen die Empfindung einer Hautreizung. Konnten sie selbst die Kamera steuern, interpretierten sie die Reizmuster auf ihrer Haut nach wenigen Stunden nicht mehr hautbezogen, sondern als Erfahrung von externen Gegenständen im Raum, vergleichbar wohl einem projizierten Bild (Bach y Rita 1993).

Bedeutung von Aktivität und Handlung

Aktivität, selbst ausgeführte Bewegung ist in diesen Experimenten der Faktor, der Wahrnehmung strukturiert und Passung zwischen Individuum und wahrgenommener Umwelt ermöglicht. Das Experiment von Kohler ist darüber hinaus ein erneuter Beleg für die These, dass die Struktur der Wahrnehmung nicht von der Struktur der Außenwelt abhängig ist, sonst hätte der Prozess der zweiten Umkehrung, d.h. der Wiederherstellung der ursprünglichen Wahrnehmung, nicht so lange gedauert. Nicht das Auge ist Garant für die Wahrnehmung der Welt, sondern die handelnde Auseinandersetzung bzw. die Koordination von Handeln und Sehen, Bewegung und Wahrnehmung.

Unterscheidung von Ich und Welt

In Bezug auf die ontogenetische Entwicklung geht es hierbei um die Unterscheidungsprozesse von Ich und Welt. Solche Prozesse sind nicht genetisch fixiert, sondern müssen erlernt werden.

„Dieses Lernen beginnt spätestens nach der Geburt, wenn der Säugling anfängt, die Welt zu begreifen. Wenn er zum Beispiel einerseits sich selbst und andererseits Objekte der Umwelt anfasst, lernt sein Gehirn den fundamentalen Unterschied zwischen Körper und Welt. Im ersten Fall erhält er eine doppelte sensorische Rückmeldung, im zweiten Fall nur eine einfache“ (Roth 1994, 306).

In der Selbstberührung ist sowohl die Empfindung des Berührens als auch die des Berührt-Werdens enthalten, bei der Berührung eines fremden Gegenstandes fehlt Letztere. Diese Fähigkeit der Doppelempfindung ist nur durch das Tasten möglich, d.h. durch Bewegung und Berührung. Von dieser ursprünglichen Unterschiedserfahrung gehen alle weiteren wahrnehmungs- und handlungsbezogenen Unterscheidungen aus.


Suchen Sie sich einen Partner und berühren Sie dessen Hand mit Ihrer Hand so, dass die Handflächen und Finger (Zeigefinger auf Zeigefinger etc.) miteinander in Kontakt sind (Abb. 16). Nehmen Sie Ihre andere Hand und streichen Sie an den Zeigefingern so entlang, dass Sie mit Ihrem Daumen den eigenen Zeigefinger, mit Ihrem Zeigefinger den Zeigefinger der Hand Ihrer Partnerin berühren. Nehmen Sie einen Unterschied wahr?


Abb. 16: Selbst- und Fremdwahrnehmung (nach Campenhausen 1993; Foto R.W.)

Bei sich selbst können Sie das Berühren und das Berührt-Werden gleichzeitig spüren, bei Ihrem Partner/Ihrer Partnerin spüren Sie demgegenüber nur eine Seite, das Berühren.

Die basale Unterscheidung zwischen mir und der Welt, zwischen Selbst und Fremd ist zwar das Fundament jeglicher Wahrnehmung, sie ist uns allerdings nicht mehr zugänglich, da Wahrnehmung ganzheitlich oder synästhetisch ist und immer alle Wahrnehmungsweisen integriert. Die Ordnungsbildung in unserem Wahrnehmungssystem wird neben den frühen ontogenetischen Prozessen in hohem Maße durch unsere ständig neu erworbene Erfahrung im Umgang mit der Welt und uns selbst bestimmt.

„Auf kortikaler und zum Teil auch auf subkortikaler Ebene kommen vermehrt Informationen aus dem Gedächtnis hinzu, welche das Ergebnis früherer Erfahrungen mit der Umwelt und der Bewertung des eigenen Handelns umfassen“ (Roth 1994, 230). „Wir als Erwachsene vergessen bei unserer Art Welt wahrzunehmen alles, was wir dazu beigetragen haben, sie auf diese Weise wahrzunehmen, eben weil wir durch unseren Körper in den eigentümlichen Kreisprozeß des Handelns einbezogen sind“ (Varela 1985, 306).

Der bewegungsbasierte Charakter unserer Wahrnehmung ist uns nicht mehr präsent. Allerdings wissen wir heute, dass bereits die Vorstellung oder Beobachtung einer Bewegung zu den diesen Bewegungen analogen Muskelinnervationen führt, die sich z.B. bei besonders intensiven und spannenden Situationen in einer realen Bewegung entladen (sogenannter Carpentereffekt, zum Beispiel Mitbewegungen beim Boxen, als Beifahrer im Auto). In der Antizipation und beim Schätzen können wir manchmal den Bewegungsbezug von Wahrnehmung an uns selbst erleben.

„Wir sehen z.B. einen großen Koffer, mobilisieren innerlich die Kräfte, die erforderlich sind, um ihn hochzuheben, und dann erweist er sich als leicht“ (Klaes/Walthes 1994, 255).

Das heißt, unsere Wahrnehmungen haben – gemäß unserer Erfahrung groß = schwer – eine Bewegung gesteuert, die sich nun als nicht passend erweist. Wahrnehmen wird daher in vielen Theorien auch als „virtuelle“ (Palágyi 1924), vorgestellte oder innerlich aktivierte Bewegung verstanden. Jede Wahrnehmung basiert auf virtueller Bewegung, ist sozusagen vorgestelltes Greifen, d.h. an die Stelle des realen Umfassens eines Gegenstandes tritt bei der bloßen Wahrnehmung ein Umfassen durch innere Bewegung. Jede überraschende Bewegung, zum Beispiel wenn die Treppenstufe tiefer ist als erwartet, jedes Verschätzen bringt uns mit der virtuellen Bewegung, dem virtuellen Vorvollzug in Kontakt.


Zu dieser Theorie passt die folgende Beobachtung in der neueren Gehirnforschung. Die Aktivität des Gehirns wurde bei verschiedenen Tätigkeiten wie Hören, Sehen, Hören und Sehen, Handeln und Vorstellen untersucht. Was glauben Sie, bei welcher Tätigkeit die höchste Gehirnaktivität festgestellt wurde? Gemeinhin würde man vermuten, dass die Gehirnaktivität umso größer ist, je mehr Sinne und Aktionen beansprucht werden. Das stimmt im Wesentlichen auch. Die Gehirnaktivität ist größer bei Hören und Sehen als nur bei einer Sinneswahrnehmung, sie ist noch größer bei einer Handlung, am größten ist sie jedoch bei der Vorstellung von etwas (Fauser/Madelung/Rentschler 2003).

Konsequenzen für Pädagogik

Der hochkomplexe Vorgang der Wahrnehmung ist bei dem jetzigen Kenntnisstand der Forschung nicht auf die Dominanz eines Sinnessystems wie z.B. das der visuellen Wahrnehmung zu reduzieren. Für die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung haben diese Erkenntnisse erhebliche Auswirkungen, die hier nur angedeutet werden können, auf die aber in den weiteren Kapiteln immer wieder Bezug genommen wird.

Zuammenfassung

1. Visuelle Wahrnehmung ist nicht Abbildung, sondern Konstruktion. Konstruktionen beruhen auf Erfahrung, insofern ist nicht das Sehen-Können, sondern die Vielfalt der Erfahrungen wesentlich für das Begreifen von und die Auseinandersetzung mit der Umwelt.

2. Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle, Bewegungen werden als autopoietische Prozesse gesehen, die nicht direkt zu beeinflussen sind. Sie sind daher nicht unter der Perspektive richtig und falsch oder besser und schlechter zu beurteilen, sondern sie sind, was sie sind, das Vermögen, das jedes Individuum hat.

3. Bewegung und virtuelle Bewegung sind die Basis für Wahrnehmung. Die bewegungs-, handlungs- und erfahrungsbezogenen Aspekte der Wahrnehmung im frühen Kindesalter sind zwar nicht unabhängig von Blindheit oder Sicht, sie bilden jedoch eine gemeinsame Basis für pädagogisches Handeln.


Engel, A. K.; König, P. (1998): Das neurobiologische Wahrnehmungsparadigma. Eine kritische Bestandsaufnahme. In: Gold, P.; Engel, A. K.: Der Mensch in der Perspektive der Kognitionswissenschaften, 156–194. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Goldstein, B. E. (2008): Wahrnehmungspsychologie. 7. Auflage, Heidelberg: Springer

Maturana, H. R.; Varela, F. J. (1987): Der Baum der Erkenntnis. München: Scherz

Roth, G. (1994): Das Gehirn und seine Wirklichkeit: kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Singer, W. (2002): Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp


2.5 Übungsaufgaben zu Kapitel 2

Aufgabe 1

Welche Überlegungen zur Wahrnehmung finden Sie bemerkenswert?

Aufgabe 2

Welches ist der wesentliche Unterschied zwischen der traditionellen Argumentation der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik und der in diesem Kapitel dargelegten Argumentation?

Aufgabe 3

Wenn Sie alles konstruieren, was Sie sehen, dann würden Sie diesen Text, da Sie ihn sehen, ebenfalls konstruieren. Stimmt das?

Aufgabe 4

Welches sind Ihres Erachtens die wesentlichen Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Forschung?

Einführung in die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung

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