Читать книгу Einführung in die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung - Renate Walthes - Страница 9
Оглавление1.1 „Ich will die Luft fotografieren …“
Besser und eindrucksvoller als langatmige Erklärungen können Geschichten komplexe Sachverhalte anschaulich vermitteln. Geschichten wie die folgende können Sie von Eltern blinder und sehbeeinträchtigter Kinder, von aufmerksamen Pädagoginnen und Pädagogen und von den Menschen mit Blindheit oder Sehbeeinträchtigung selbst immer wieder hören. An der folgenden Geschichte war ich vor etwa 30 Jahren selbst beteiligt.
Bei einer der ersten Eltern-Kind-Aktivitäten, die ich mit einer Gruppe Studierender durchgeführt habe, waren wir mit Eltern und Kindern im Grundschulalter zu einer Winterfreizeit unterwegs. Themen wie elementare Erfahrungen mit Schnee, Schlitten fahren und Eislaufen standen dort ebenso auf dem Programm wie Skilanglauf und alpiner Skilauf. Zur Dokumentation und zum Videofeedback für die Studierenden hatte ich eine Videokamera dabei. Die Videokamera hatte eine hohe Attraktivität für alle Kinder, sehende wie sehgeschädigte. Ein blinder Junge, sechs Jahre alt, wich nur selten von meiner Seite, wenn ich dieses Gerät in Betrieb hatte. Öfter hatte ich auch einen Fotoapparat dabei, der ihn ebenfalls sehr faszinierte. Es kam zu folgendem Gespräch:
Er: Ach weißt du, es ist so schade, dass ich nicht fotografieren kann. Ich würde so gerne mal fotografieren.
Ich: Warum sollte das nicht gehen, das könnten wir doch mal ausprobieren?
Er: Und wie?
Ich: Na ja, ich stell mir das so vor. Wenn du irgendetwas fotografieren möchtest, dann schaust du dir’s vorher genau an – mit den Händen meinte ich – dann nimmst du den Fotoapparat und hältst ihn in die Nähe des Gegenstandes und dann machst du ein Foto. Und wenn das Bild dann entwickelt ist, kann dir deine Mutter oder ich oder deine Freundin erzählen, was auf dem Foto drauf ist.
Er: Ja, das müsste gehen. Oh ja, dann will ich als erstes die Luft fotografieren.
Ich: Du, das geht nicht, die Luft kann man nicht fotografieren, die Luft kann man auch nicht sehen, man kann – glaube ich – nur das fotografieren, was man auch anfassen und fühlen kann.
Er: Dann will ich den Wind fotografieren.
Meine Erklärungsversuche gingen weiter, irgendwann endete dann das Gespräch zu seiner Zufriedenheit, zu meiner nicht. Zu Weihnachten schenkte ich dem Jungen eine Sofortbildkamera, seine Freude war groß; die Verwunderung seiner Eltern auch, alle anderen waren entsetzt. Wie kann man einem Kind, das nicht sehen kann, einen Fotoapparat schenken? Für viele war dies Zynismus pur. Für mich nicht, ich war fasziniert von seiner Neugier, konnte aber damals nicht sagen, ob der Fotoapparat nicht bereits nach einem Tag völlig uninteressant geworden wäre.
An dieser Stelle unterbreche ich die Geschichte und möchte Sie bitten, sie weiter zu schreiben. Was glauben Sie, ist geschehen? Hat er die Kamera länger als einen Tag benutzt? Hat er so viele Sofortbilder gemacht, dass seine Eltern mit der Lieferung der Kassetten nicht nachkamen? War er enttäuscht, dass die Bilder nicht das Ergebnis brachten, das er sich wünschte? Schreiben Sie Ihre Version der Geschichte auf.
Ein zweites Beispiel, dieses Mal aus der Literatur.
Von Tolstoi stammt folgender kleiner Dialog. Er heißt „Der Blinde und die Milch“ und lautet wie folgt:
„Milch hat die gleiche Farbe wie leeres Schreibpapier. Der Blinde fragte: ,Ach so, ist das Weiße, daß es unter den Händen knistert wie Papier?‘ Der Sehende sagte: ,Nein, Milch ist weiß wie Mehl weiß ist.‘ Der Blinde fragte: ,Ach so, das Weiß stäubt wie Mehl?‘ Der Sehende sagte: ,Nein, es ist weiß wie ein Schneehase weiß ist.‘ Der Blinde fragte: ,Also flaumig und ebenso weich wie ein Hasenfell ist das Weiße?‘ Der Sehende sagte: ,Nein, nein nur einfach weiß ist das Weiße – wie Schnee.‘ Der Blinde fragte: ,Aha, also kalt wie Schnee?‘ Und so viele Beispiele der Sehende auch vorbrachte, der Blinde konnte nicht fassen, was das Weiße der Milch ist“ (Tolstoi 1987, 59).
1.2 Die Welt des Sehens – die Welt der Blindheit – die Welt des Anders-Sehens
Zwischen Blindheit und Sicht scheint es Bereiche zu geben, die nicht vermittelbar sind. Doch dies gilt nicht nur für Blindheit oder Sicht, es gilt für alle internen Prozesse der Wahrnehmung und der Empfindung. Wittgenstein veranschaulicht diesen Sachverhalt in dem folgenden Aphorismus:
„Ich kann sagen: Siehst du, dieses Kind ist nicht blind; es sieht. Schau, wie es der Kerzenflamme folgt. Aber kann ich mich sozusagen davon überzeugen, daß Menschen sehen? ,Menschen sehen.‘ – Im Gegensatz wozu? Dazu etwa, daß alle blind sind?“ (Macho 1996, 309).
Fragen über Fragen, die eine Beschäftigung mit Sehen, Blindheit oder Anders-Sehen – so möchte ich hier andere Sehbedingungen beschreiben – begleiten. Die Bereiche Pädagogik bei Blindheit und Pädagogik bei Sehbeeinträchtigung sind zwar Felder mit einer langen pädagogischen Tradition, dennoch existieren mehr Fragen als Antworten, und hat man einmal eine vorläufige Antwort gefunden, tauchen sofort neue Fragen auf. Es sind Bereiche, die uns immer wieder auffordern, über Fragen der Wahrnehmung von Welt, von richtig und angemessen, über Möglichkeiten und Grenzen der Sprache und Kommunikation nachzudenken und die einen davor bewahren, sich mit Gewissheiten vorschnell zu begnügen. Die Pädagogik bei Blindheit und bei Sehbeeinträchtigung braucht Menschen, die neugierig sind, die sich gerne überraschen lassen und die nicht aufhören wollen zu fragen. Menschen, die glauben, alles zu wissen, werden nicht das Interessante und Spannende einer Auseinandersetzung begreifen, die immer wieder an unlösbare, weil intransparent bleibende Probleme stößt. Das will ich Ihnen zeigen, indem ich die Geschichte mit der Fotokamera weiter erzähle.
Es geschah etwas, womit wir alle nicht gerechnet hatten. Ulrich, so heißt der Junge, war völlig begeistert davon, mit seinem Fotoapparat Bilder zu machen. Zugleich waren seine Mutter oder sein Vater als Beschreibende ausgesprochen gefragt.
Er hielt den Fotoapparat direkt an eine Wand:
• Wenn ich das hier fotografiere, sieht man dann da durch?
• Nein, durch eine Wand kann man nicht hindurch fotografieren.
• Und wenn ich das hier hinhalte, was sieht man dann?
• Da ist ein Fenster, da kann man draußen den Garten sehen.
Wenn er an der Tür stand und seine Freunde auf der Schaukel hörte, die hinter der Längsseite des Hauses war, fragte er:
• Kann ich die jetzt fotografieren?
• Nein, da ist die Ecke mit der Wassertonne davor, das geht nicht.
Zusammenhänge, von denen die Eltern längst geglaubt hatten, sie seien ihm klar geworden, standen nun noch einmal in Frage. Wieso kann man durch ein Fenster schauen und durch die Wand nicht, beides ist doch gleich hart und fest? Wo kann ich bei einem Gitter durchsehen und wo nicht, wie ist das mit dem Hören und dem Sehen? Können die Sehenden alles sehen, was ich höre und noch viel mehr? Es stellte sich z.B. heraus, dass er dachte, wenn er in seinem Zimmer sei, könnten ihn die Sehenden auch durch die Wand und durch die geschlossene Tür sehen.
Was zeigt dieses Beispiel? Es zeigt, dass wir nicht im Voraus wissen können, ob und was etwas für einen Menschen bedeutet. Es zeigt zugleich, dass und wie unser Vorverständnis von einer Sache oder von einer Person unsere Wahrnehmung, Vorstellung und unsere Handlung steuert. Wir halten einen Fotoapparat für etwas völlig Ungeeignetes für ein blindgeborenes Kind, daher bieten wir ihn nicht an. So können wir jedoch nicht die Erfahrung machen, dass er zum Beispiel in dem Verwendungskontext von Ulrich eine völlig andere Funktion erhalten kann, als er für Sehende hat. Er diente nicht als Abbild der Wirklichkeit, sondern war das Medium, über die Wahrnehmung der anderen, der Sehenden, mehr zu erfahren.
Mit Hilfe des Fotoapparates hat Ulrich sich dem, was Sehen bedeutet, ein Stück angenähert. Die Erfahrungen mit diesem Medium haben seine Vorstellungen einer visuellen Welt angereichert und modifiziert. So wenig er damit erfahren kann, wie Sehende wirklich sehen, so wenig kann ich erfahren, wie er wirklich wahrnimmt. Mit diesem Beispiel möchte ich Ihnen exemplarisch ein Stück des Gegenstandes der Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung näher bringen.
Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung beschäftigt sich mit Themen im Kern und Umfeld von Wahrnehmung, besonders mit visueller, mit akustischer, mit taktiler Wahrnehmung und mit den Menschen, denen die visuelle Wahrnehmung nicht zur Verfügung steht oder die mit anderen visuellen Wahrnehmungsbedingungen umgehen können. Hierbei muss es bei Fragestellungen im Zusammenhang mit Blindheit um einen Zugang gehen, der von der Bewegung, der Taktilität und dem Auditiven her kommt; bei Sehbeeinträchtigung geht es um Fragestellungen, die vom Sehen her motiviert sind – zwei völlig unterschiedliche Zugangsweisen.
1.3 Notwendige Unterscheidungen
Sehschädigung wird zwar noch als Oberbegriff für Blindheit, Sehbehinderung, Sehbeeinträchtigung, hochgradige Sehbehinderung verwendet. Dieser Begriff hat jedoch nur Gültigkeit, sofern er die Schädigungsformen, deren Ursachen und Erscheinungsformen beschreibt. Geht es um pädagogische Anforderungen, um sogenannte „special needs“, ist Sehschädigung ein irreführender Oberbegriff, weil er suggeriert, blinde, seh- oder komplexbeeinträchtigte, blindgeborene oder erblindete Menschen, Menschen mit angeborenen oder erworbenen Sehbeeinträchtigungen würden ähnliche Anforderungen an ihre Umwelt stellen. Dies ist nicht der Fall. Die spezifischen Bedürfnisse von blindgeborenen Kindern sind z.B. völlig andere als die bei Erblindung im späteren Kindesalter. Ob ein Kind sein Sehvermögen für die motorische Entwicklung nutzen konnte oder nicht, ob es eine Vorstellung von räumlichen Dimensionen, Farben, von Himmel oder Landschaft hatte oder nicht, ob ein Kind zwar Objekte, aber keine Gesichter sehen kann, ob eine Hell-Dunkel-Wahrnehmung vorhanden ist oder es sich mit Gesichtsfeldausfällen zu arrangieren hat, diese Aspekte haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Aneignung von und Auseinandersetzung mit der Umwelt und bedürfen sehr spezifischer pädagogischer Antworten. Auch gilt es, Sehbeeinträchtigungen, die stabil bleiben, von progredienten Schädigungen des visuellen Systems zu unterscheiden, denn Kinder mit einem sich langsam oder rapide verschlechternden Sehvermögen benötigen wiederum eine spezifisch andere Unterstützung. In diesem Buch werden daher folgende Unterscheidungen getroffen:
Unterscheidungen
Blindheit als diejenige Bedingung, die in der Auseinandersetzung mit der materialen und sozialen Umwelt nicht auf Visualität Bezug nehmen kann, wird unterschieden von Sehbeeinträchtigung als derjenigen Bedingung, deren Auseinandersetzung mit der materialen und sozialen Umwelt auf eine wie auch immer geartete Visualität bezogen ist.
Erworbene Blindheit und erworbene Sehbeeinträchtigung sind von kongenitaler Blindheit bzw. Sehbeeinträchtigung zu unterscheiden, stabile Formen von Blindheit bzw. Sehbeeinträchtigung von progredienten Verlaufsformen, sogenannte singuläre Beeinträchtigungen von komplexen Beeinträchtigungen in Verbindung mit einer Sehbeeinträchtigung.
Bei der Beschreibung der Situation und der Bedürfnisse der betroffenen Menschen wird in diesem Buch überwiegend die sogenannte „Person-first“-Sprache verwendet, um zu kennzeichnen, dass die spezifische Schädigung oder funktionale Beeinträchtigung ein Aspekt, eine Bedingung ist, die keinesfalls den ganzen Menschen charakterisiert (z.B. „Menschen mit Beeinträchtigungen“ statt „Behinderte“). Der bisher verwendete Begriff Sehbehinderung wird in diesem Buch nur noch dort genutzt, wo die Verwendung in den jeweiligen Fachdiskursen üblich ist. Der Begriff der Sehbeeinträchtigung entspricht sehr viel eher der Nomenklatur der ICF und ist gerade für den pädagogischen Diskurs der weiterführende Begriff. Eine letzte Unterscheidung: Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene und alte Menschen werden als solche gekennzeichnet; da die im Feld einer Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung arbeitenden Menschen überwiegend Frauen sind, wird in diesem Zusammenhang die weibliche Schreibweise bevorzugt.