Читать книгу Khadidsche - Resit Haylamaz - Страница 9
ОглавлениеDIE RECHTLEITUNG GOTTES
Propheten genießen gemeinhin das besondere Privileg, Träume zu empfangen, in denen ihnen wichtige Informationen übermittelt werden. Als ein Teil der Offenbarung waren sie auch eines der Mittel, in denen Gott den Propheten ihren Weg vorzeichnete. ʿĀʾische, eine spätere Ehefrau Muhammeds, betonte ausdrücklich, dass die Träume des Propheten so klar wie das frühe Morgenlicht waren und keiner Interpretation bedurften. Weil die Mitglieder der Familie des Propheten eine besondere Rolle zu spielen hatten, darf angenommen werden, dass auch sie außergewöhnliche Träume hatten, in denen ihnen Hinweise auf das Kommen des zukünftigen Propheten und auf ihre eigene Aufgabe gegeben wurden. Und so erging es auch Khadidsche, schon lange bevor sich ihr Weg mit dem des Propheten Muhammed kreuzte.
Einmal sah Khadidsche im Traum ein Licht so hell wie der Mond oder sogar die Sonne, das vom Himmel erst auf ihr Haus herab schien und dann in ihre Brust drang, bevor es mit seinem strahlenden Glanz schließlich das ganze Universum erfüllte. Verwirrt und zutiefst bewegt erwachte sie und wusste sogleich, dass dies eine Bedeutung haben musste. Denn an Zufälle glaubte sie nicht. Also stand sie auf und ging zu ihrem Cousin Waraqa, der ihr ja Vertrauter und spiritueller Mentor zugleich war, um ihn nach seiner Meinung zu fragen.
Waraqa, damals schon ein alter Mann, war natürlich verblüfft. Durch diesen Traum fühlte er sich bestärkt. Denn wie ja bereits erwähnt, gehörte er zu den wenigen Menschen, die schon sehr früh die metaphysische Dimension der sich ankündigenden Ereignisse erfasst hatten. Also sagte er zu ihr:
„Frohe Kunde, meine Cousine, frohe Kunde wurde dir zuteil! Dieser Traum ist ohne Zweifel ein Geschenk, das dir Gott in Seiner Freigebigkeit zukommen ließ. Sehr bald wird Gott dein Haus in Seinem hellen Licht erstrahlen lassen. Gott weiß es am besten, aber ich denke, bei diesem Licht könnte es sich um das Licht des Propheten gehandelt haben.“13
So sehr Khadidsche diese Interpretation ihres Traumes gefiel, so perplex war sie auch, dass ausgerechnet sie von Gott angesprochen worden sein sollte. Und als sie wie versteinert dastand, wurde Waraqa noch präziser: „Der letzte Prophet ist auf die Welt gekommen. Du wirst seine Frau werden. Solange du lebst, wird er Offenbarungen empfangen, und seine Religion wird das gesamte Universum umspannen. Du wirst die Erste sein, die an ihn glaubt. Dieser Prophet wird unter den Quraysch aus der Familie der Ḥāschim hervorgehen.“
Waraqa sollte Recht behalten. Nicht nur was das Erscheinen des Propheten betraf, sondern auch im Hinblick auf dessen Eheschließung mit Khadidsche. Durch ihn würde der Menschheit die letztgültige Religion überbracht werden – eine Religion, die tatsächlich die ganze Menschheit umspannen sollte. Waraqa hatte sogar erkannt, dass dieser Prophet aus dem Stamm der Quraysch und der Familie der Haschim hervorgehen würde. Er wusste also schon vorher, was in naher Zukunft geschehen würde. Am gleichen Tag ereigneten sich, wie Khadidsche später erfahren sollte, in Mekka und dem Hidschaz noch weitere ungewöhnliche Dinge.
Kurz darauf, an einem Festtagsmorgen, saßen die Frauen von Mekka beisammen und feierten. Unter ihnen auch Khadidsche, die zuvor die Kaabe umschritten und möglicherweise zu Gott gebetet hatte, Er möge ihren Traum Wirklichkeit werden lassen. Plötzlich tauchte ein Mann auf, den niemand von ihnen je gesehen hatte.14 Er kam näher und sprach sie direkt an: „O ihr Frauen von Mekka!“ Neugierig, was der Fremde ihnen zu sagen hatte, drehten sich alle Frauen nach ihm um. Was wollte er wohl von ihnen? Und während diese Frage in ihren Köpfen Gestalt annahm, fuhr er fort: „Es gibt keinen Zweifel daran, dass aus eurem Land ein Prophet kommen wird. Sein Name ist Ahmed. Wer von euch dazu auserkoren ist, seine Frau zu werden, sollte ohne zu zögern Ja sagen.“15 Die meisten der Frauen hielten den Mann für einen Verrückten. Einige forderten ihn auf, nicht so einen Unsinn zu erzählen, und nahmen dann nicht weiter Notiz von ihm. Andere warfen mit Steinen nach ihm und nannten ihn einen Irren.16 Diejenige aber, an die diese Worte gerichtet waren, nahm sie sehr ernst. Mit jedem neuen Tag fügten sich die fehlenden Teile des Puzzles zusammen, und mit jedem Tag sah Khadidsche ein wenig klarer. Was ihr schließlich bewusst wurde, war, dass das Schicksal ihr einen Weg ebnete. Und fest auf den Segen Gottes vertrauend, entschloss sie sich, diesen Weg Schritt um Schritt zu beschreiten.
Alles deutete darauf hin, dass der Prophet nun in Kürze erscheinen würde. Die Zeit nahte, da sich ihre Wege kreuzen würden. Der Prophet drückte es später einmal so aus: Die Menschen ähneln Edelsteinen. Sind sie wertvoll, so wird man ihren Wert früher oder später entdecken und ihnen den Platz zuweisen, der ihnen gebührt. Seelen, die zueinander passen, ziehen einander an und begegnen sich irgendwann, einfach weil sie viele Gemeinsamkeiten besitzen.17
Im Grunde genommen hätte sich Khadidsche in dieser Hinsicht gar keine Gedanken zu machen brauchen. Denn jene Zeit war derart geprägt durch Unmoral, dass nur noch eine Handvoll rechtschaffener und anständiger Menschen übrig war. Sie hatte es also nicht schwer, den Richtigen zu finden. Nur ein Mann entsprach sämtlichen Beschreibungen, von denen sie gehört hatte. Und eben dieser Mann erfüllte auch alle Erwartungen, die an den lange erwarteten Propheten gestellt wurden. Man ging nämlich davon aus, dass seine wichtigste Eigenschaft die Vertrauenswürdigkeit sein würde; und kein anderer verkörperte diese so perfekt wie Muhammed, der Vertrauenswürdige, der Sohn des ʿAbdullah.
13 Yamānī, Ummuʼl-Muʾminīn, S. 26.
14 Yamānī, ebenda, S. 27. Nach einigen Aussagen soll dieser Mann ein jüdischer Gelehrter gewesen sein.
15 Ibn Ḥadjar, El-Iṣābe fī Temyīzi’ṣ-Ṣaḥābe, 7/601.
16 Ez-Zurqānī, Scherḥuʼl-Mewāhib, 1/200.
17 Zuhrī, Eṭ-Ṭabaqātuʼl-Kubrā, 1/156; Eṣbehānī, Delāʾiluʼn-Nubuwwe, 1/178.