Читать книгу Durch die Mauer – Als Anwalt für die Kirche - Reymar von Wedel - Страница 10
9. Der Pfarrer als Fluchthelfer
ОглавлениеDurch den Bau der Mauer am 13. August 1961 wurden viele Familien auseinandergerissen. Im Osten verbliebene Angehörige versuchten, zu ihren Ehepartnern oder Kindern im Westen zu gelangen. Aber der Weg durch die Mauer war sehr gefährlich.
Schon die Vorbereitung einer Flucht wurde mit hohen Strafen geahndet. Diese Härten hatte der evangelische Präses Kurt Scharf, der in der Berliner Marienkirche predigte, zusammen mit anderen leitenden Geistlichen in einem Telegramm an Walter Ulbricht kritisiert. Dafür hatten die Behörden der DDR ihn am 31.08.1961 ausgewiesen.
An der Marienkirche, im Zentrum Berlins, amtierte ein junger Pfarrer namens Werner Arnold. Er sah aus wie ein Jüngling, hatte aber keine Angst vor den Mächtigen der DDR. In seinen Predigten verurteilte er die Mauer und nannte die Todesschüsse Mord. Das MfS registrierte dies sorgfältig. In jedem Gottesdienst schrieb ein Spitzel mit. Die Berichte wurden später in den Akten gefunden.
Unter den Zuhörern des Pfarrers befanden sich Menschen, die seine Ansichten teilten und vom Staat verfolgt wurden. Manch einer dachte sogar daran, die DDR zu verlassen. Sie wandten sich nach der Predigt an den Pfarrer und baten um Rat und Hilfe. Damit geriet Werner Arnold in einen Gewissenskonflikt. Bekanntlich schreibt der Apostel Paulus am 13. Kapitel des Römerbriefes: »Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.« Das bezog sich primär auf das römische Reich, in dem der Apostel missionierte. Konnte dieser Satz auch auf moderne Staaten angewandt werden? War die DDR ein Staat in diesem Sinne?
Die EKD-Synode hatte 1956 in ihrer theologischen Erklärung festgestellt: »Das Evangelium rückt den Staat unter die gnädige Anordnung Gottes, die wir in Geltung wissen, unabhängig vom Zustandekommen der staatlichen Gewalt und ihrer politischen Gestalt.«
Das war eindeutig, aber allgemein formuliert. Wie sollte man sich in der konkreten Situation verhalten? Tat die DDR nicht häufig Unrecht? Konnte ein Christ die Schüsse an der Mauer, die Verfolgung Andersdenkender oder die Überwachung der Bürger billigen? Hatte Pfarrer Arnold sich nicht in seinen Predigten dagegen gewandt? Hatte nicht Kirchenvater Augustin erklärt, ein Staat, in dem das Recht nicht geachtet wird, sei nichts anderes als eine Räuberbande?
Bei dem Ausdruck »Räuberbande« fiel Arnold das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ein. Dieser hatte einem Menschen geholfen, der unter die Räuber gefallen war. Musste ein Pfarrer und Christ nicht den Opfern helfen? Das theologische Problem wurde schnell akut: Ein Ehepaar hatte erfahren, dass seine Festnahme bevorstand. Dem wollte es sich durch Flucht in den Westen entziehen. Sie baten Arnold um Hilfe, und schnell wurde es sehr konkret: In der Nacht kam ein Notruf. Sie waren vor dem Verhaftungskommando über den Dachboden in das Nachbarhaus geflüchtet. Aber dort konnten die beiden nicht bleiben, weil sie jederzeit entdeckt werden konnten. Arnold fuhr hin und brachte sie in ein Ferienhaus der Kirche am Berliner Müggelsee. Wie sollte es weitergehen?
Ihm fiel sein schwedischer Amtsbruder Heribert Janson ein, der als Gesandtschaftspfarrer diplomatischen Status besaß und einen Wagen mit CD-Zeichen fuhr. »Würdest Du die Eheleute in deinem Kofferraum über die Grenze mitnehmen?« fragte ihn Arnold. Der Kollege aus Schweden war ein bedächtiger Mann und wie alle Theologen in Schweden überzeugter Lutheraner. Er hatte die gleichen theologischen Bedenken wie Arnold. Die Zusage fiel ihm schwer. Aber er stellte die Bedenken zurück. Das Ehepaar passierte im Kofferraum des Volvo den Grenzübergang am Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße. In ähnlicher Weise half Arnold in der Folgezeit gemeinsam mit seiner Frau dreißig Menschen aus der DDR über die Grenze.
Die häufigen Besuche des schwedischen Pastors bei Arnolds fielen dem MfS auf. Der Schwede wurde observiert und einmal, als Fluchtwillige in seinem Kofferraum steigen wollten, wurden sie festgenommen. Dem Schweden konnte das MfS nichts tun, ihn schützte sein Diplomatenstatus. Er konnte lediglich zur unerwünschten Person erklärt werden, und ihm konnte dann künftig die Einreise verweigert werden.
Pfarrer Arnold hingegen wurde kurz darauf in seiner Wohnung festgenommen. Er kam in Haft. Der Vernehmer konfrontierte ihn nicht nur mit dem Vorwurf der Fluchthilfe, die er als »staatsfeindlichen Menschenhandel« bezeichnete, sondern warf ihm auch Staatshetze, Wirtschaftsvergehen und schließlich sogar Spionage vor. Arnold habe in seinen Predigten die Regierung der DDR diskriminiert und versucht, Bürger gegen die DDR aufzuwiegeln. Er sei auch an einem Kurierdienst der Kirche beteiligt gewesen und habe gesetzwidrig eingeführte Waren weitergeleitet.
Glücklicherweise wusste der Vernehmer nicht alles. Der Kurierdienst der Kirche, an dem Pfarrer Werner Arnold aktiv beteiligt war, schmuggelte vor allen Dingen Medikamente, die in der DDR nicht zu beschaffen waren. So brauchte beispielsweise ein junger Mann ein Präparat, das ihn vor geistiger Umnachtung bewahrte. Nach dem Mauerbau konnte es ihm nicht mehr zugestellt werden. Die legale Einfuhr scheiterte, weil die Regierung verlangte, sie über die Zusammensetzung des Präparats zu unterrichten. Die Auskunft wurde verweigert. Über den kirchlichen Kurierdienst wurde das Medikament binnen 24 Stunden, nun allerdings illegal, eingeführt. Ein andermal brauchte die Charité dringend Insulin und konnte es in der DDR nicht erhalten. Einige Patienten befanden sich in einer akuten Notlage. Über Arnold wurde das Insulin beschafft. Er übergab es dem behandelnden Arzt.
Nun befand sich Arnold schon 18 Monate im Gefängnis. Ich drängte auf eine schnelle Entlassung. Vogel meinte, es sei ein besonders schwerer Fall. Ihm werde vor allem vorgeworfen, dass er den schwedischen Pfarrer mit Diplomatenstatus zur Fluchthilfe verführt habe. Ich müsste schon ein besonderes Angebot machen. Er deutete an, dass es sich um Bargeld handele. Außerdem wollte man, dass Arnold in den Westen abgeschoben werde. Das schienen die Sowjets zu verlangen, die ihn als gefährlich ansahen.
Scharf an Arnold
Ich besprach die Sache mit Scharf. Dieser war bereit, auch Bargeld zu zahlen und Arnold zu raten, sich auf eine Entlassung in den Westen einzulassen. Er gab mir auch einen Brief für Arnold mit. Ich berichtete Vogel, beschrieb ihm die Situation und übergab ihm Scharfs Vorschlag. Wolfgang Vogel griff gleich zum Telefon und konnte mir fast sofort einen Gesprächstermin vermitteln. Im Gefängnis dann beschrieb ich Arnold die Situation. Innerhalb von Minuten sollte er sich jetzt entscheiden. Sollte er das Gefängnis verlassen und als freier Mann in die Bundesrepublik übersiedeln? Sollte er dabei aber mit seiner Familie ein völlig neues Leben beginnen und seine Gemeinde bzw. alles Vertraute verlassen? Er entschied sich für Freiheit und Neubeginn. Natürlich sollte seine Frau mitkommen. Wir holten sie ab und fuhren dann direkt über die Grenze zum Konsistorium, das war ja nur einige S-Bahnstationen entfernt. Dort erwartete uns Scharf. Es war ein großer Moment und alle Beteiligten waren glücklich.
Pfarrer Arnold wurde dann Pfarrer in Norddeutschland und hielt noch lange herzlichen Kontakt zu mir.