Читать книгу NOLA Knights: His to Defend - Rhenna Morgan - Страница 5
Kapitel 1
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Evette packte den Scheck ihres ehemaligen Arbeitgebers fester zwischen ihren Fingern und starrte auf das Logo der Reinigungsfirma in der oberen Ecke. An jedem anderen Freitag hätte das Geld so etwas wie eine gewisse Sicherheit für sie und ihren Sohn Emerson bedeutet. Einen Schritt mehr aus dem Chaos, das sie in ihrem Leben verursacht hatte. Die unerwartete Entlassung heute, die mit ihrer wöchentlichen Bezahlung gekommen war, fühlte sich wie ein Schlag in den Magen an. Schon wieder eine Hürde, die es zu überwinden galt. Seit Jahren war es so, als würde sie einen Spießroutenlauf absolvieren, ohne die Ziellinie überhaupt sehen zu können.
Vielleicht sollte sie sich einen Reinigungsjob in einem der Hotels ergattern. Im French Quarter gab es bei Gott jede Menge davon, und sie könnte sichergehen, dass sie dort regelmäßige Schichten arbeiten könnte. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wie sie das vor Montag schaffen sollte, denn es war bereits sechzehn Uhr dreißig am Freitagnachmittag. Schnell etwas zu finden, war die einzige Möglichkeit, diesen Rückschlag wieder auszugleichen, sonst wäre sie gezwungen, an die Ersparnisse für Emersons Schulbildung zu gehen. Ebenso gab es da noch eine weitere Hürde: Wenn der neue Arbeitgeber bei ihrem ehemaligen anrufen würde, käme heraus, dass sie wegen eines Sicherheitsproblems gefeuert worden war.
Nicht. Gut.
Der Ziehharmonikabus schwang auf die Tulane Avenue und fuhr Richtung Stadtmitte. Evies Laune sank noch ein wenig mehr. Hätte ihr in jungen Jahren jemand erzählt, dass sie im Alter von achtundzwanzig als Alleinerziehende in einer der schlimmeren Gegenden von New Orleans leben würde, hätte sie demjenigen ins Gesicht gelacht. Sie würde als Mode-Einzelhändlerin arbeiten – oder wenigstens irgendeine Karriere in der Modebranche haben. Sie würde die Welt bereisen. Dinge sehen. Menschen kennenlernen. Als Abenteurerin durch ihr Leben gehen und alles in sich aufsaugen.
Doch dann war ihre Mutter gestorben und sie geriet auf die schiefe Bahn.
Evie seufzte und rutschte auf der harten Plastikbank etwas tiefer, während die heruntergekommenen Geschäfte, Bars und Restaurants wie verschwommen an ihr vorbeizogen und die Vibrationen des Busmotors sie bis ins Mark erschütterten.
Sieben Mal niedergeschlagen und acht Mal wieder aufgestanden.
Hätte sie jedes Mal einen Dollar dafür bekommen, wenn ihre Momma das gesagt und Evie selbst es in den letzten acht Jahren wiederholt hatte, würde sie jetzt in einem Porsche in den Garden District fahren statt mit dem öffentlichen Bus zu einem kaum bewohnbaren Apartment.
Aber ihre Momma hatte es immer irgendwie geschafft.
Meistens.
Sie hatte Evie, trotz ihrer turbulenten vorpubertären Teenagerzeit und Daddys Tod, allein großgezogen und hatte es so leicht aussehen lassen. Erst nachdem Emerson ein Jahr alt geworden war, hatte Evie den Mut aufgebracht, einige der Tagebücher ihrer Mutter zu lesen, und hatte festgestellt, wie groß die Herausforderung tatsächlich für sie gewesen sein musste. Wie viel sie aufgegeben hatte und wie allein sie sich in jeder Sekunde gefühlt hatte.
Jetzt verstand Evie es. Sie erlebte selbst, welche Opfer ihre Mutter für sie hatte bringen müssen.
Und sie hatte alles weggeworfen, während sie sich in ihrer Trauer verkrochen hatte.
Entschlossenheit und eine Menge Sturheit gaben ihr einen neuen Energiekick und brachten sie dazu, sich in ihrem Sitz aufzurichten. Selbstmitleid war genau das, was sie erst in diese Situation gebracht hatte. Sie würde den Teufel tun, ehe sie wieder dort hineingeraten würde. Frauen der Labadie-Familie warfen niemals alles hin. Gaben nie auf. Sie stellten sich den Dingen, denen sie sich zu stellen hatten, und sie taten es mit einem Lächeln im Gesicht. Vielleicht würde sie einen Weg finden, Emerson und ihr selbst die Welt zu Füßen legen zu können. Möglicherweise musste sie nur eine Weile länger sparen und etwas kreativer werden, um es zu schaffen.
Die Bremsen des Busses quietschten und die alte Dame neben ihr fiel gegen sie.
Evie spannte sich an, um sie beide im Sitz zu halten, und lächelte auf ihre Mitfahrerin hinab. „Steigen Sie hier aus, Ms. Arnold? Sie wissen doch, Dorothy’s Freitagsangebote sind die Besten in der Woche.“
Ms. Arnold warf ihr ein strahlendes Lächeln zu und presste ihre Einkaufstasche fester gegen ihre Brust. Ihre blauen Augen mochten vielleicht in den letzten Jahren ein wenig trüber geworden sein und die Falten in ihrem Gesicht etwas tiefer, aber ihr liebevolles Herz war genauso stark wie eh und je.
„Nein, nein, Evette. Der Weg zum Lebensmittelladen ist nicht mehr so einfach, wie er einmal war. Es ist besser, wenn ich meine müden Knochen nach Hause schaffe, bevor es dunkel wird.“
Eine kluge Entscheidung. Besonders in diesem Teil der Stadt, wo eine Frau wie Ms. Arnold ein gefundenes Fressen für Räuber wäre.
Nachdem Evie sicher war, dass die ältere Frau ihre Balance wiedergefunden hatte, erhob sie sich, schulterte ihre Handtasche und unternahm einen weiteren Versuch, dieselbe Diskussion mit der Nachbarin zu führen, die sie seit einem Jahr mit ihr führte. „Sieht so aus, als sollten Sie diesen schicken Lebensmittelbringdienst nutzen, den alle anderen Anwohner verwenden, um ihre Besorgungen zu erledigen. Es wäre viel weniger stressig.“
Ms. Arnold hob ihr Kinn ein bisschen höher und wurde zum Inbegriff einer Südstaatenfrau mit eisernem Kern. „Selbstversorgung ist ein Privileg für mich. Das werde ich solange tun, wie der liebe Gott mich lässt.“ Sie nickte in Richtung der Bustüren. „Besser, Sie machen sich selbst auf den Weg zu Dorothy’s und ihrem gut aussehenden Jungen.“
Verdammt. Schon wieder mundtot gemacht worden. „Na gut, aber glauben Sie nicht, dass wir nicht auch das nächste Mal darüber reden werden.“
„Ich freue mich darauf, hübsches Mädchen.“
Evie schüttelte den Kopf und ging zu den Türen.
„Evette.“ Ms. Arnolds scharfer Tonfall brachte sie dazu, innezuhalten. Sie wartete, bis Evie ihren durchdringenden Blick erwiderte, ehe sie weitersprach. „Es wird alles gut werden. Was immer es auch sein mag … es wird Sie nicht kleinkriegen. Vergessen Sie das nicht.“
Evettes Kehle zog sich zusammen, und Tränen drohten ihr die Sicht zu vernebeln. Vielleicht würde sie nie mehr die Gelegenheit haben, Ms. Arnold die Anfahrt mit dem Bus zum Lebensmittelladen auszureden. Jedenfalls nicht, wenn ihr nächster Job nicht auch in derselben Gegend lag, in der sie bisher gearbeitet hatte. Sie umschloss das Geländer neben den steilen Stufen mit einer Hand fester und zwang sich zu einem Lächeln, das sie nicht im Geringsten fühlte. „Machen Sie sich keine Sorgen, Ms. Arnold. Es braucht mehr als einen oder zwei Tritte, um mich runterzuziehen.“
Die ältere Dame nickte, als hätte sie eine solche Antwort erwartet, und kehrte dann dazu zurück, aus dem gegenüberliegenden Fenster zu starren. „Gutes Mädchen. Und nun gehen Sie schon zu Ihrem Jungen und sagen Sie Dorothy ‚Hallo‘ von mir.“
Die Temperatur draußen lag bei fast neunundzwanzig Grad. Eigentlich gar nicht so unangenehm, dafür, dass es bereits Ende September war. Doch die Luftfeuchtigkeit des Golfstroms und der ergiebige Regen von letzter Nacht im Quarter machten das Ganze nicht wirklich zu einem angenehmen Spaziergang auf den Straßen. Sie eilte an dem albernen Souvenirgeschäft, einem Gemischtwarenladen und einem Pub vorbei. Letzterer entließ einen leichten Hauch von Zigarettengeruch auf den Bürgersteig, obwohl die Tür geschlossen war, um die kühle klimatisierte Luft drin zu behalten. Am Ende der Straße stand Dorothy’s Diner wie ein Leuchtturm im Viertel. Der Eingang lag direkt an der Ecke. Zwei große Fenster von etwa dreieinhalb Metern Länge erstreckten sich zu beiden Seiten, damit vorbeischlendernde Passanten einen guten Blick auf die Menschenmenge darin bekamen.
Und es gab stets eine Menschenmenge bei Dorothy’s. Wenn es um Diners ging, war das hier eine Institution. Ein Zufluchtsort inmitten der Hölle und ein Stückchen Himmel voller Seelenfutter in einem.
Wie immer saß Emerson auf dem Barhocker, der der Eingangstür am nächsten war, an der Theke im Soda-Shop-Stil. Seine Schultern waren etwas nach vorn gebogen und seine Unterarme umrahmten seinen Teller, als wäre er ein Linebacker, der sein Essen verteidigen müsste. Sein dunkelblondes Haar rührte eher aus der Familienlinie ihres Vaters her, war ein wenig zu lang und wie bei allen siebenjährigen Jungs nach einem langen Schultag total zerzaust. Doch sein Gesichtsausdruck war leer. Seine haselnussbraunen Augen waren zu gleichgültig für jemanden, der so jung war wie er.
Sie zwang sich zu einem weiteren falschen Lächeln und schob die Glastür auf. Die Glocke oberhalb der Tür gab ein fröhliches Klingeln von sich und zwei oder drei Bedienungen riefen ihr eine Begrüßung zu.
Evie winkte ihnen freundlich zu, ging aber direkt zu ihrem Kind und verstrubbelte dessen Haar ein wenig mehr. „Hey, Champ. Wie war die Schule?“
Nur für einen kurzen Moment erwiderte ihr Sohn ihren Blick. Nur der Hauch eines Lächelns zeigte ihr, dass irgendwo tief da drin noch dieses kleine Kind steckte, das sich vor nicht allzu langer Zeit unschuldig auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte. Die Offenheit war mit einem Augenblinzeln wieder verschwunden, und mit einem mürrischen Blick, den sie wirklich zu hassen begonnen hatte, sah er zurück auf den Teller voller Putenfleisch mit Soße. „Ein Tag wie immer.“
„Ja, aber es ist Freitag, und jeder weiß doch, dass Freitage besser als alle anderen Tage sind.“ Sie ließ sich auf dem Barhocker neben Emerson nieder und stellte ihre Handtasche neben ihren Füßen auf der erhöhten Stufe ab. „Ist irgendetwas Besonderes passiert?“
Emerson schüttelte den Kopf.
„Irgendwelche überraschenden Tests?“
Wieder ein Kopfschütteln.
„Irgendwelche niedlichen Mädchen getroffen?“
Daraufhin hob er seinen Kopf und starrte sie an, als ob er hin- und hergerissen wäre, ohne sie nach Hause zu gehen oder ihr vorzuschlagen, dass sie ihr Gehirn mal untersuchen lassen sollte.
„Nun, wenigstens das hat deine Aufmerksamkeit erregt“, sagte sie. „Weißt du, als ich in deinem Alter war, konnte meine Momma mich nicht dazu bringen, die Klappe zu halten.“
Emerson schob eine Bohne, die sich zu nah an seine Soße verirrt hatte, zurück in ihr Exil auf der anderen Seite des Tellers. „Gibt keinen Grund zu reden, wenn nichts los war.“
„Hmm.“ Sie kreuzte ihre Arme und tat so, als würde sie die anderen Gäste im Diner beobachten, während sie sich den Kopf darüber zerbrach, wie sie mit ihrem Sohn umgehen sollte. Er mochte erst sieben Jahre alt sein, aber er drückte sich kultivierter aus als mancher Erwachsene. Sprach fast keinen Slang. Ohne kreolische Eigenarten und definitiv ohne Obszönitäten. Eher wie ein Gentleman, der in dem Körper eines Jungen feststeckte. Also, wie kam sie nur auf die Idee, dass plötzlich eine schockierende Erkenntnis, wie sie mit ihrem Sohn auf dessen Level reden sollte, in ihrem Hirn auftauchen würde? Und das genau in dieser Sekunde, wo sie bereits seit einem Jahr danach suchte. „Wenn du nicht mit mir sprechen willst, macht es vielleicht Ms. Dorothy. Hast du sie gesehen?“
Höflich wischte sich Emerson mit der Serviette den Mund ab und nickte in Richtung der Küche. „Sie ist da drin verschwunden, gleich nachdem du reingekommen bist. Tisch sieben mochte das Tagesgericht wohl nicht.“
Evie blickte auf Emersons Teller mit Pute und Soße. „Jemand hat sich übers Essen beschwert? Sind die high?“
Wunder, oh Wunder, Emersons Mund verzog sich zu einem Lächeln, das sich nicht gänzlich durchsetzen konnte. „Nicht jeder hat einen guten Geschmack, Mom.“
„Das stimmt“, schoss sie zurück und wünschte sich mit allem, was sie hatte, dass sie ihr Kind dazu bringen könnte, lockerer zu werden und wieder Kind zu sein. Sie drehte sich zur Küche um und deutete auf ihre Handtasche. „Passt du bitte darauf auf? Wir wollen ja nicht, dass das Geld von unserem Zahltag plötzlich Beine bekommt und ohne uns davonrennt.“
„Ja, Ma’am.“
Ja, Ma’am.
Evie schlenderte zur Küche, während die perfekte Antwort ihres Sohnes in ihrem Kopf widerhallte. Wäre sie in diesem Alter so schicklich gewesen, hätte ihre Momma eine Straßenparty veranstaltet und an die Kirchenkollekte gespendet, was auch immer ihr Bankkonto zugelassen hätte. Stattdessen war sie ziemlich frech gewesen. Natürlich niemals respektlos. Denn dann hätte sie wohl den Hintern voll oder die Ohren lang gezogen bekommen. Aber ein Oki dokie oder ein Darauf kannste wetten war eher normal als ein Ja, Ma’am.
Das Kratzen von Metallfüßen eines Stuhls auf dem schwarz-weiß gefliesten Fußboden schallte durch das Diner. Evie hielt am Ende der Theke inne und drehte sich zu dem Geräusch.
Ein etwa vierzigjähriger Mann mit schütterem Haar in einem Kurzarmhemd, das kaum seine Plauze bedeckte, schob seinen Stuhl von der beliebten runden Sitzecke an der hinteren Wand zurück. Seine schwarze Hose war ein wenig zu kurz, doch sie war sauber und nicht billig. Er presste ein paar Papiere in seinen Händen zusammen und verbeugte sich auf eine Art, die man leicht als Angst oder großen Respekt interpretieren konnte.
Ein Blick auf denjenigen, der sich außerdem in dieser Sitzecke befand, und die angespannte Geste ergab Sinn.
Sergei Petrovyh.
Er war ihr beim Hereinkommen gar nicht aufgefallen. Das bewies, wie sehr sie von der neuen Entwicklung in ihrem Leben abgelenkt war, denn nur an seinen Namen zu denken, ließ sie normalerweise erröten. Ehrlich gesagt machte sein Anblick sie und drei Viertel der weiblichen Einwohner sprachlos. Das restliche Viertel warf sich ihm meist an den Hals und betete zu jedem Gott, der sie erhören könnte, darum, seinem starken russischen Akzent persönlich und aus direkter Nähe lauschen zu dürfen. Vorzugsweise natürlich in einer Situation, in der keine Kleidung erforderlich wäre.
Statt in die Küche zu platzen, während Dorothy mit dem Küchenchef schimpfte, wartete Evie an der Kasse und richtete die herumliegenden Menükarten gerade aus.
Der Mann mit dem schütteren Haar trat zwei Schritte rückwärts, drehte sich um und ging eilig zur Vordertür.
Ihr Blick glitt zurück zu Sergei und sie überspielte ihr genüssliches Mustern mit dem Durchblättern eines Bestellblocks. Dunkles, welliges Haar bis zu den Schultern, elegante Gesichtszüge, einer dieser höllisch sexy wirkenden kurz geschorenen Bärte und dazu ein köstlicher großer und fitter Körper. Aber es war nicht bloß sein Aussehen, das Frauen so anmachte. Es war seine Macht. Ein Charisma, das in diesen dunkelblauen Augen brannte und in seinen eleganten und gleichzeitig raubtierhaften Bewegungen lag. Kurz gesagt, Sergei Petrovyh war die Art von Mann, die jede Frau mit nur einem Blick dazu brachte, ihre Probleme für diesen kleinen kostbaren Moment zu vergessen.
Wenn sie ehrlich war, könnte Sergei alle ihre Probleme komplett ausradieren. Das war jedenfalls das, was er für eine lange Liste von Leuten in der Nachbarschaft getan hatte, seit er vor etwas mehr als einem Jahr nach New Orleans gezogen war. Er räumte untragbare Situationen aus dem Weg, dafür schuldete man ihm einen Gefallen.
Um auf den Punkt zu kommen … Sergei war ein Mafioso.
Ein verflucht gut aussehender, das lag auf der Hand, aber auch ein absolut gefährlicher Mann.
Schritte und leise gemurmeltes Fluchen ertönte einige Sekunden bevor Dorothys lustige Stimme Evies Liebäugeleien unterbrach. „Mädel, ich habe schon starbesessene Groupies wesentlich unauffälliger agieren sehen, als du es gerade tust.“
Evie weigerte sich, wie ein schuldiges Schulmädchen zusammenzuzucken, und ließ ihren Blick ein letztes Mal absichtlich zu Sergei schweifen, um ihn zu beäugen, nur um ihnen beiden zu beweisen, dass sie es konnte. Ernsthaft, dieser Mann war ein griechischer Gott. Vielleicht lag es an dieser olivfarbenen Haut. Oder daran, dass er sich wie ein Panther bewegte. Die maßgeschneiderten Anzüge, die er trug, brachten die Modeliebhaberin in ihr dazu, sich strecken und schnurren zu wollen.
Also, ja. Sie war alt genug, um zu liebäugeln, wann immer sie Lust dazu hatte, und sie würde sich nicht dafür entschuldigen. Ganz besonders nicht nach einem Tag wie diesem. „Hinzusehen ist doch nichts Verwerfliches.“ Sie drehte sich zur besten Freundin ihrer Momma um, lehnte eine Hüfte gegen die Theke und bedeckte eine Hand mit der anderen. „Und ihn anzusehen ist besser, als herauszufinden, wie ich zwischen heute und Montag ein großes Wunder schaffen soll.“
Dorothy steckte ihren Bestellblock in die Tasche ihrer weißen Schürze. Ihr Daddy hatte sie nach Dorothy Dandridge benannt, weil er total verschossen in die Schauspielerin gewesen war, als Dorothy das Licht der Welt erblickt hatte. Und sie war zu einer ebenso großen Schönheit herangewachsen. Mit achtundsechzig Jahren war ihre Haut faltig und ihr Haar grau, aber ihre nahezu schwarzen Augen waren scharf wie eh und je. Sie beäugte Evie auf die Art, wie es nur eine Mutter tun konnte.
„Von was für einem Wunder reden wir hier?“
„Die Art von Wunder, die mich einen Job finden lässt.“
„Ich dachte, du wärst kurz davor, eine Vorarbeiterposition bei der Reinigungsfirma zu bekommen. Was ist passiert?“
Evie warf die Hände in die Luft und kreuzte dann die Arme vor ihrer Brust. „Verdammt, wenn ich das wüsste. Irgendwas mit einer Sicherheitslücke und dass meine Schlüsselkarte nach Feierabend am Wochenende benutzt worden sei, um Zutritt zu einem Anwaltsbüro zu bekommen. Was absoluter Blödsinn ist. Abgesehen davon, dass ich und Emerson am Samstag auf dem Bauernmarkt und beim Kirchenessen waren, haben ich und meine Schlüsselkarte das gesamte Wochenende zu Hause verbracht. Die müssen da irgendwas vertauscht haben.“
„Hast du ihnen das gesagt?“
„Na klar habe ich das. Aber die wollten es nicht hören. Sie meinten, dass sie keine andere Wahl hätten, als mich wegen ihrer Sicherheitsbestimmungen zu entlassen.“
Dorothy zog die Augenbrauen zusammen und schlenderte hinter Evie zur Theke, wo das saubere Besteck darauf wartete, in Servietten gewickelt zu werden. Sie legte die erste Serviette aus und begann mit der Arbeit. „Keine Ahnung, wieso das gleich ein Notfall sein soll. Ich kenne dich, Evie. Du bist immer auf ein Unwetter vorbereitet. Erzähl mir also nicht, dass du keine Ersparnisse hast.“
„Die sind für Emersons Schulgeld.“
„Ich dachte, er steht auf der Warteliste. Es gibt demnach keinen Grund, gerade jetzt sparsam zu sein, wo du es brauchen kannst. Du kannst es doch später wieder zurücklegen.“
„Er ist nicht mehr auf der Warteliste.“ Evie stellte sich neben sie. Sie rollte Servietten bei Dorothy’s, solange sie denken konnte, und hatte schon so manche Krise mit dieser simplen Aufgabe durchlebt. „Der Direktor hat letzte Woche angerufen und gesagt, dass eins der Kinder woanders hinzieht. Ich kann ein Stipendium beantragen. Allerdings muss ich die Schulgebühren selbst berappen, damit sie den Platz so lange freihalten, bis sie den Antrag geprüft haben.“
„Wie viel ist es denn?“
„Neunhundert Dollar.“
Dorothys Kopf zuckte zu ihr, und ihre Stimme wurde so laut, dass einige Gespräche im Diner verstummten. „Neunhundert? Bist du verrückt?“
„Dorothy!“, schimpfte sie flüsternd und deutete mit ihrem Blick Richtung Emerson. „Emerson braucht das. All seine Lehrer sagen es. Sie meinen, er sei in der öffentlichen Schule total gelangweilt und dass eine Montessori-Schule perfekt für ein Kind wie ihn sei.“
„Pffff.“ Dorothy schüttelte den Kopf. „So viel Geld, nur um einen Platz freizuhalten. Dafür sollten sie ihm den Weg zum Himmel mit purem Gold pflastern und obendrein seinen Hintern abwischen.“ Sie pausierte lang genug, um eine angenehme Stille zwischen ihnen zu verbreiten, bevor sie Evie von der Seite ansah. „Und? Was willst du jetzt machen?“
„Nun ja, ich habe gehofft, ich könnte ein wenig für dich arbeiten, während ich mich nach etwas anderem umsehe.“
Dorothy gab ein Seufzen von sich. Es war ein ehrliches, das sagte, dass sie die folgenden Worte genauso ungern aussprach, wie Evie sie hören wollte. „Kann ich nicht machen, Schatz. Die Ladys, die ich jetzt habe, haben echt Qualität, und wenn ich ihre Schichten kürze, suchen sie sich woanders Arbeit. Das Beste, was ich für dich tun kann, ist, dich anzurufen, falls eine von ihnen krank werden sollte. Aber das wird nicht passieren. Sie brauchen das Geld zu sehr.“
Mist.
So viel zu Plan B.
Sie platzierte ein perfekt gerolltes Besteckset auf dem wachsenden Turm von Dorothy, drehte sich um, lehnte ihren Hintern gegen die Theke und kreuzte erneut die Arme vor ihrer Brust. „Das ist so eine Kacke.“ Angst versuchte, sich einen Weg in ihren Brustkorb zu suchen, angefacht von einer gesunden Dosis lang ignorierter Verzweiflung und Frustration. „Ich kann es Emerson nicht versauen. Er braucht es. Er braucht …“ Ein Lächeln. Spielen. Die Möglichkeit, ein Kind zu sein und einfach ein bisschen Spaß zu haben. „Er braucht irgendetwas. Wenn diese Schule ihm das geben kann, werde ich auch auf der Straße arbeiten, falls es nötig ist.“
„Dazu wird es nicht kommen“, sagte Dorothy mit der stillen Zuversicht einer Frau, die sich bereits ihren Weg durch die Erziehung ihrer Kinder gebahnt hat. „Der Herr wird dir geben, was du brauchst, wenn du es brauchst. Das tut er immer.“
„Hmpf.“ Evie kaute auf ihrer Unterlippe herum, um nicht auszusprechen, was sie dachte. Nämlich: Wenn der Herr ihr geben würde, was sie bräuchte, wäre es nett zu erfahren, dass er das eher früher als später zu tun gedachte.
Wie von einem Magneten angezogen, glitt ihr Blick wieder zurück zu Sergei. Die zwei Männer, mit denen sie ihn oft im Diner oder in der Stadt sah, saßen nun ihm am runden Tisch gegenüber in der Sitzecke. Kir Vasilek war genauso groß und einschüchternd wie Sergei, hatte aber wunderschöne blaue Augen und blondes Haar. Er benutzte beides zu seinem Vorteil und hatte sich in der Stadt einen Ruf als absoluter Playboy verschafft. Roman Koslov auf der anderen Seite beschäftigte sich selten mit irgendwem. Wahrscheinlich, weil sein großer und imposanter Körper und seine harten, bedrohlichen Gesichtszüge die Leute glauben ließen, er wäre der leibhaftige Teufel.
Sergei könnte ihre Probleme komplett ausradieren.
Der Gedanke war diesmal ein wenig subtiler. Ein Murmeln von der seidenen Stimme der Versuchung. „Was ist mit ihm?“, fragte sie Dorothy.
Dorothy drehte sich um und betrachtete Evies Gesicht, folgte dann ihrem Blick in Richtung Sergei. Da sie ihr Diner jahrelang in einem rauen Teil der Stadt in jeder nur denkbar schwierigen Zeit geleitet hatte, gab es nichts, was ihre alte Freundin runterziehen konnte. Doch in dieser Sekunde zeigte Dorothy echte Besorgnis. Sie verbarg sie so schnell, wie sie aufgetaucht war, und wandte sich wieder den Bestecken zu. „Ich denke nicht, dass du Schutz brauchst. Ich denke, du brauchst einen Job.“
„Na ja, vielleicht kennt er ja jemanden. Könnte mir einen Tipp oder eine Empfehlung geben. Ein Blick auf die Klamotten, die er trägt, und auf den schicken BMW vor der Tür, und du weißt, er hat Knete. Und das bedeutet, er muss auch andere reiche Leute kennen.“
„Er könnte welche kennen. Könnte dich sogar mit jemandem bekannt machen, aber falls du es vergessen haben solltest: Ein Mann wie er, der dir einen Gefallen tut, dem schuldest du am Ende auch etwas dafür.“
„Du hast es getan.“
Das war eine kindische Erwiderung. Eher passend für eine Sechzehnjährige, die mit ihrer Mutter und Dorothy darüber diskutierte, welche Klamotten für ein Mädchen ihres Alters schicklich waren und welche nicht. Aber nicht für eine Achtundzwanzigjährige, wenn es darum ging, einen Weg zu finden, ihre Rechnungen zu begleichen.
Falls Dorothy gekränkt war, zeigte sie es nicht. Stattdessen sprach sie weiter. „Es war das kleinere Übel, Kind. Es gab Schläger, die mein Diner übernehmen wollten. Sergei hat sich darum gekümmert, und ich gebe ihm als Gegenleistung einen Ort, an dem er seine Geschäfte erledigen kann. Es ist ein kleiner Preis, den ich zahlen muss, damit mein Laden sicher ist, aber lass dich nicht von diesem gut aussehenden Gesicht täuschen. Er hat Dunkelheit in sich. Eine Menge davon. Und er hat keine Angst davor, sie rauszulassen.“ Sie pausierte einen Moment lang und wirkte wie eine Frau, die nach den richtigen Worten suchte, die sie als Nächstes sagen wollte. Sie drehte sich zu Evie. „Jetzt hast du nur Geldprobleme. Wenn du ihn in dein Leben lässt, löst du ein Problem, aber hast am Ende womöglich ein viel größeres.“
„Vom Regen in die Traufe, oder?“
Ihr Blick wurde sanfter, und eine Fülle an Weisheiten, die Evie nicht einmal im Ansatz begreifen konnte, starrte ihr entgegen. „So etwas in der Art.“
Evette seufzte und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Die einzige andere Möglichkeit, die ihr einfiel, würde dafür sorgen, dass Momma sich in ihrem Grab umdrehen würde. Dennoch brachte sie sie ins Gespräch ein. „Ich schätze, ich könnte Onkel Carl nach Geld fragen. Erst vor Kurzen hat er mit einem ganzen Bündel hier herumgewedelt. Er ist so verrückt, wie der Tag lang ist, aber er hat immer angeboten, mir und Emerson zu helfen.“
„Nein.“ Dorothys Erwiderung klang so hart und kam so schnell, dass Evette sie wie einen Ruck empfand. Obwohl sie ihren Tonfall fast ebenso eilig milderte, zitterten ihre Hände, als sie die Arbeit mit den Servietten wieder aufnahm. „Deine Momma hatte ihre Gründe, sich von Onkel Carl zu distanzieren. Es ist das Beste, wenn du es auch tust.“
Es war nicht das erste Mal, dass Dorothy ihre Abneigung gegen Carl zum Ausdruck brachte. Warum sie und ihre Mutter ihn nicht mochten, hatten sie nie erzählt. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass sich Evette selbst nicht gern in seiner Nähe aufhielt, hatte sie auch nie eine Erklärung forciert.
Evette stützte die Hände hinter sich gegen die Theke und starrte Sergei an.
Sergei drehte sich um und fing ihren Blick auf.
Hielt ihn gefangen.
Die Verbindung war so besitzergreifend, dass Evie hätte schwören können, er hätte die komplette Konversation mit angehört.
Was natürlich totaler Quatsch war. Das konnte er gar nicht. Er war bloß ein einschüchternder Mann mit einer guten Intuition.
Aber er könnte ihr helfen.
Viel schneller als jeder andere in dieser Gegend.
Sie verlagerte ihre Aufmerksamkeit auf Emerson, der nun mit seinem Abendessen fertig war und aus dem Fenster auf die Straße dahinter starrte.
„Besteht die Chance, dass ich dich zu einem Eis mit heißer Schokoladensoße für Emerson überreden kann?“, wandte sie sich an Dorothy.
„Besteht die Chance, dir das auszureden, was du vorhast zu tun?“
„Nur wenn du mir sagen kannst, wie ich bis Montag einen neuen Job bekomme und rechtzeitig weitere fünfhundert Dollar auftreibe, um den Platz für Emerson zu halten.“
Dorothy schwieg.
„Komm schon, Dorothy. Du hast selbst erzählt, dass er kein absolut schlechter Typ ist. Verdammt. Ich erinnere mich sogar daran, dass du mal eingeräumt hast, ihn zu mögen. Das hast du nicht einmal über Pastor Manny gesagt, und den mag jeder.“
„Ja, aber dich liebe ich. Ebenso, wie ich deine Mama geliebt habe. Merk dir meine Worte: Wer sich mit Sergei einlässt, der weiß nicht, was ihn am Ende erwartet.“
„Wenn es meinen Jungen ausnahmsweise zum Lächeln bringt, glaube ich, dass es das wert sein wird.“
Dorothy schüttelte ihren Kopf, hob den Besteckkasten hoch, als würde er nichts wiegen, und schob ihn unter die Theke. Sie drehte sich zu Evie, betrachtete sie einige Sekunden lang, nickte dann und begab sich auf den Weg in die Küche. „Ich mache zwei Eisbecher. Ich habe das Gefühl, der Junge ist nicht der Einzige, der einen Muntermacher braucht, bevor der Tag zu Ende geht.“