Читать книгу NOLA Knights: His to Defend - Rhenna Morgan - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеSie sah ihn schon wieder an.
Immer, wenn Sergei ins Dorothy’s kam und Evette da war, musterte sie ihn, und sie gab nicht ein einziges Mal vor, schüchtern dabei zu sein. Ihre Kühnheit faszinierte ihn. Sie forderte ihn regelrecht heraus, wie ein Matador mit einem roten Umhang und Todeswunsch. Wäre sie jemand anders, hätte er es sich schon vor Monaten zur Aufgabe gemacht, sie zu erobern. Hätte seinen Hunger so lange an ihr gestillt, bis sie beide fix und fertig gewesen wären.
Aber sie war nicht irgendjemand.
Sie war Evette Labadie. Der Liebling der Nachbarschaft, den jeder verehrte und vergötterte. Sie auf jegliche Art, die er wollte, zu nehmen, stand im Widerspruch zu seiner Mission, nämlich die Loyalität derer zu gewinnen, die in den gefährlichsten Straßen von New Orleans lebten, die große Mehrheit der damit verbundenen Unternehmen zu kontrollieren und dabei die Konkurrenz auszulöschen. Eine so hoch angesehene Frau wie Evette zu besudeln, würde es erschweren, sich Respekt und Loyalität zu verdienen.
Außerdem war sie Dorothys Patentochter. Er mochte seinen Schutz gewährt haben im Austausch gegen einen öffentlichen Ort, an dem er seine Geschäfte erledigen konnte, doch er schätzte Dorothy auch. Er respektierte ihre hart erarbeitete Weisheit und ihre knallharte Unnachgiebigkeit. Er wollte diesen Respekt nicht entehren, indem er zuließ, dass die Hässlichkeit seiner Welt auf jemanden abfärbte, der so strahlend und offen war.
Kir lehnte sich auf seinem Platz so weit nach vorn, dass er Sergeis Fokus auf Evette unterbrach, und grinste. „Du solltest sie einfach endlich ficken.“
Wäre es jemand anderer gewesen, der das gesagt hätte, hätte Sergei ihn auf der Stelle und ohne zu zögern ausgeweidet. Glück für Kir, dass er einer der wenigen Männer war, denen Sergei blind vertraute, weshalb er sich mit einer Warnung begnügte. „Das Wort Fick oder etwas Ähnliches in Bezug auf Evette wird dir niemals wieder über die Lippen kommen oder auch nur in deinen Gedanken auftauchen. Und du wirst die Finger von ihr lassen.“ Er zwang sich dazu, seinen Blick von Evette abzuwenden, und starrte seinen Waffenbruder kalt an. „Sie ist sicher. Vor mir. Vor dir. Vor jedermann.“
Romans kehliges Lachen klang triumphierend. „Du hast bemerkt, dass die Warnung an dich sehr konkret war? Der Rest von uns hat bloß eine allgemein gültige Ansage erhalten.“
Einer von Kirs Mundwinkeln hob sich zu einem unbekümmerten und verschlagenen Grinsen. „Das liegt nur daran, dass er weiß, dass ich sie bekommen könnte, wenn ich mich ins Zeug legen würde.“
„Vielleicht.“ Sergeis Blick schweifte zurück zu Evette. Sie war ein zierliches kleines Ding, höchstens eins fünfzig, mit frechen Gesichtszügen und kurzem, aber modern gestyltem haselnussbraunen Haar, das ihn an eine Fee erinnerte, die gerade mit einem temperamentvollen Schwung aus dem Bett gesprungen war. Sergei hatte genug Details von Dorothy erfahren, um zu wissen, dass Evettes Vater aus einer hellhäutigen Familie stammte, während ihre Mutter tiefe kreolische sowie indianische Wurzeln hatte und ihre Persönlichkeit ebenso lebendig gewesen war. Es gab niemanden, den Evette wie einen Fremden betrachtete, und sie behandelte jeden gleich. Geschätzt. Wichtig.
Er hob seine Kaffeetasse vom Tisch und nippte mit einer trügerischen Lässigkeit daran. „Wie dem auch sei, dein Erfolg wäre nur von kurzer Dauer.“
„Was?“, fragte Kir. „Denkst du wirklich, ich könnte sie auf Dauer nicht bei Laune halten?“
„Nein. Ich denke, ich würde dir den Schwanz abschneiden, ihn dir in den Rachen schieben und dir dabei zusehen, wie du daran erstickst.“
Das war keine leere Drohung, und die Geschwindigkeit, mit der Kirs Grinsen verblasste, zeigte eindeutig, dass sein alter Freund das wusste. „Zur Kenntnis genommen.“ Er lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere in einer Geste, die den kaltblütigen Mörder nicht erkennen ließ, und studierte Evette. Was auch immer das Thema war, über das sie und Dorothy diskutierten, führte bei Evette zu eindringlichen Gesten. „Wenn du meine Meinung wissen willst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis du deine eigene Warnung in den Wind schießt.“
Das würde er nicht.
Sosehr er die Berührung eines so guten Menschen ehren und genießen würde, die Dunkelheit in ihm war zu groß, mit Leichen gepflastert und mit Blut besudelt, um eines solchen Geschenkes würdig zu sein.
„Was wollte Smitty?“ Romans nicht gerade subtiler Themenwechsel zeigte, wie gut er in den letzten Jahren gelernt hatte, Sergei zu lesen.
Leider hatte er ein Thema gewählt, das Sergeis Stimmung noch mehr trübte. Vor allem, weil er den Besitzer des Lebensmittelladens nur einen Block nördlich von Dorothy’s Diner als positive Präsenz in der Gemeinde und soliden Familienvater kannte. „Steven Alfonsi hat seine Rekrutierung verstärkt.“
„Er hat sich für Smitty interessiert?“ Roman hob überrascht die Augenbrauen.
Sergei schüttelte den Kopf. „Er hat es auf Smittys Sohn, Jamie, abgesehen. Hat einen Kerl in dessen Alter auf ihn angesetzt. Smitty hat gesehen, dass der Junge ständig den Laden besucht, wenn Jamie arbeitet.“
Kir zog die Stirn kraus, beugte sich vor und verschränkte die Arme auf dem Tisch. „Das sieht Alfonsi gar nicht ähnlich. Jamie ist ein Collegejunge, klug und hält sich an die Regeln. Alfonsi mag keine intelligenten Schachfiguren. Sie sind schwer zu kontrollieren.“
„Er will engere Beziehungen zur Nachbarschaft“, antwortete Roman, ehe Sergei es tun konnte. „Wir haben fast die Hälfte seiner Geschäfte übernommen. Er will wissen, wie wir das gemacht haben. Dazu braucht er Leute im inneren Kreis, die ihm helfen, es herauszufinden.“
„Die wird er nicht bekommen.“ Diesbezüglich war Sergei absolut sicher. Diejenigen, die in der Stadtmitte, im siebten und achten Bezirk lebten und arbeiteten, wussten zweifelsohne, dass Sergei die Bestie unter ihnen war, aber er war ihre Bestie. Er war derjenige, der skrupellos genug war, um sie von den Tyrannen zu befreien, die ihre Welt überrannt hatten. Es war ihnen egal, dass er im Gegenzug Tribut verlangte. Was ihnen nicht egal war, war die Tatsache, dass er sie fair behandelte und beschützt hatte, als sie es selbst nicht konnten. Damit hatte er sich ihre Loyalität verdient.
„Und was will Smitty?“, fragte Roman.
Sergei tippte gegen den Rand seiner Tasse. „Was sich alle guten Väter für ihr Kind wünschen. Die Versuchung für den Jungen aus dem Weg räumen.“
Kir blickte zu Roman; die unausgesprochene Anweisung wurde von beiden sofort aufgegriffen. „Willst du das erledigen oder kann ich mich darum kümmern?“
Roman schwieg, aber die Bösartigkeit, die aus jeder seine Poren drang, war spürbar. Von ihnen dreien verabscheute er kozels- egoistische Idioten - wie Steven Alfonsi am meisten. Der Mann besaß keine Ehre, hatte sein Image um stereotypische Mafia-Filme und unnötige Machtspiele aufgebaut, um Angst einzuflößen. Er handelte mit Geheimnissen, benutzte sie, um gute Menschen seinem Willen zu unterwerfen.
Ein Grund mehr, warum die Menschen aus den gefährlichsten Straßen Sergei freiwillig als einen von ihnen akzeptiert hatten. Sein Reich war eins der Wahl, nicht der Gewalt. Ein Tanz, der bereitwillig angenommen und mit einer Schuld honoriert wurde. Ein Akt des Vertrauens und der Ehrung.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis ganz New Orleans aus exakt diesem Grund hinter ihm stehen würde.
Sergei antwortete Kir, bevor Roman die Gelegenheit nutzen konnte, um seine Blutlust zu stillen. „Du wirst es regeln.“
Hinter dem Tresen wandte Dorothy sich um und warf Sergei einen Blick zu, den man nur als Resignation bezeichnen konnte, und sagte dann etwas zu Evette, bevor sie sich in die Küche verzog.
Evette starrte ihn an. Ihre Arme waren überkreuzt und ihr Gesichtsausdruck hatte nichts mehr von der gewohnten Leichtigkeit. Was auch immer die feya auf dem Herzen hatte, es schien ernst zu sein.
Das gefiel ihm nicht.
Kein Stück.
Er zwang sich dazu, seine Aufmerksamkeit wieder auf Kir zu richten. „Übertreib es nicht. Etwas Kleines. Gerade genug, um eine Botschaft zu senden, aber nicht genug, um einen Krieg anzuzetteln. Wir werden Alfonsi gegenübertreten, wenn die Zeit reif ist.“
Kir nickte nur einmal kurz und griff nach seiner Kaffeetasse.
Evette stieß sich vom hinteren Tresen ab, umrundete die Bar und kam mit langsamen, aber zielstrebigen Schritten näher. Ihr Weg führte sie direkt zu ihm. Er spürte den Drang, sich aufzurichten, doch bevor seine Muskeln in Aktion treten konnten, konzentrierte er sich darauf, sein Verhalten unbeeindruckt wirken zu lassen. Würde sich ein Mörder mit einer Waffe auf ihn zubewegen, wäre die Maske seine zweite Natur. Nur ein weiteres persönliches Gespräch mit dem Tod.
Aber als Evette auf ihn zukam, war es eine ganz andere Erfahrung. Hinter seinem Brustbein breitete sich ein unbekannter Druck aus. Ein Adrenalinschub machte seine Haut übersensibel und ließ die Umgebung bedeutungslos werden.
Beunruhigende Reaktionen.
Gefährlich für einen Mann wie ihn.
Romans tiefe Stimme drang kaum zu ihm durch, der russische Klang ihrer Muttersprache war wie ein beruhigendes Streicheln. „Zwei Audienzen an einem Tag. Und die hier ist mit einem Lamm.“
Kirs Mund zuckte. „Ich würde sie nicht unbedingt als Lamm bezeichnen. Aber das könnte interessant werden.“
„Nicht für euch beide“, sagte Sergei, als sie sich dem Tisch näherte. „Weil ihr nicht hier sein werdet.“
Dieses Mal machte sich Kir gar nicht erst die Mühe, sein Lächeln zu verbergen. Er wagte es sogar, zu lachen, während er aufstand und zu Roman sah, der bereits auf den Beinen war. „Wie ich schon sagte, nur eine Frage der Zeit.“
Evette blieb genau zwischen ihnen am Tisch stehen. So winzig, wie sie war, ließ sie Kir und Roman wie Riesen aussehen, aber sie beäugte die beiden mit einer bewundernswerten Furchtlosigkeit. „Unterbreche ich gerade etwas, das ich nicht unterbrechen sollte?“
Roman schenkte ihr etwas, das einem Lächeln bei ihm am nächsten kam, und bot ihr den Platz an, den er soeben frei gemacht hatte. „Nein, Madam. Bitte setzen Sie sich doch.“
Einige Sekunden lang inspizierte sie den ihr angebotenen Platz, die beiden Männer neben ihr und alle hinter ihr sitzenden Gäste. Dann, mit der gleichen Entschlossenheit, die er bereits während ihres Gesprächs mit Dorothy beobachtet hatte, straffte sie ihre Schultern und glitt auf den Platz rechts von ihm. „Danke.“
„Gerne.“ Roman neigte seinen Kopf Richtung Sergei und wechselte wieder ins Russische. „Viel Glück, moy brat.“
Kir imitierte die respektvolle Geste, doch seine Augen glänzten mit genug Heiterkeit, um zu versprechen, dass er später auf Details drängen würde. „Glücklicher Bastard.“ Er deutete mit dem Kinn Richtung Bürgersteig und wechselte zurück in die Landessprache. „Wir warten draußen.“
Sergei ignorierte den Spott und wandte seine Aufmerksamkeit Evette zu, nachdem die beiden davongeschlendert waren. „Ms. Labadie. Ihr Besuch an meinem Tisch kommt unerwartet.“
„Sie kennen meinen Namen?“
„Sie holen Ihren Sohn jeden Tag nach der Schule hier ab, besuchen Dorothy auch bei anderen Gelegenheiten häufig und manchmal arbeiten Sie sogar für sie. Es wäre nachlässig von mir, Ihre Patentante nicht nach dem Namen einer schönen Frau zu fragen, die ich so oft hier sehe.“
Sie verzog ihren Mund auf einer Seite, gerade mit gerade genug Verärgerung und Ironie, um zu beweisen, dass sie Sinn für Humor besaß. „Dorothy hat vergessen zu erwähnen, dass Sie charmant sind.“
Er war also das Thema ihres Gesprächs gewesen. Interessant. Er vermutete außerdem, dass dies wohl auch die Resignation auf Dorothys Gesicht erklärte, bevor sie in der Küche verschwunden war – seine feya brauchte etwas. Etwas, das wichtig genug war, um sich mit dem Teufel einzulassen, und ihre Patentante hatte nichts getan, um es zu verhindern. „Das kann ich durchaus sein.“ Aufzuzählen, was für Fähigkeiten ihm häufiger nachgesagt wurden, war unnötig. Es schwebte zwischen ihnen wie ein schwankender Sensenmann im Wind, der nur auf seinen nächsten Auftrag wartete.
Evette zappelte auf ihrem Sitz herum und schob Romans verlassene Kaffeetasse an den Tischrand. „Wissen Sie, meine Momma hat hier früher gearbeitet. Fast von dem Tag an, als Dorothy und ihr Ehemann das Diner eröffnet haben.“ Sie sah zu dem Tresen, an dem Emerson saß und nun seine Hausaufgaben erledigte. „Ich habe immer genau dort gesessen, wo Emerson jetzt ist, während ich darauf gewartet habe, dass sie ihre Schicht beendete. Wenn ich keine Hausaufgabe aufhatte, ließ Dorothy mich arbeiten, Salz- und Pfeffersteuer befüllen, Zuckerpäckchen auffüllen oder das Besteck in Servietten einrollen.“
Sie war ebenso ein Einzelkind und nun eine Alleinerziehende; wer Emersons Vater war, wusste nicht einmal Evette selbst. Sie lebte in einem heruntergekommenen Wohnhaus, das Sergei in den letzten drei Monaten zweimal zu kaufen versucht hatte, aber jetzt, wo er neben ihr saß – ihre Stimme hörte und ihrer unerschütterlichen Güte so nah war –, befeuerte das nur seine Motivation, alles zu bezahlen, was nötig war, um das Geschäft endlich abzuschließen. „Das weiß ich.“
Echte Überraschung erhellte ihr Gesicht. „Wirklich?“
„Dorothy hat Sie sehr gern. Sie hat mir viele Dinge erzählt. Auch, wie Ihre Mutter ihr nach dem Tod ihres Mannes beigestanden hat.“
Etwas von der Vorsicht, die sie mit an den Tisch gebracht hatte, verschwand und eine Düsterkeit legte sich über ihre haselnussbraunen Augen. Sie stützte ihre Unterarme auf den Tisch und zeichnete mit dem Zeigefinger die Linie ihres Fingernagels nach. „Das war eine schwierige Zeit. Es war ungefähr ein oder zwei Monate nach dem Hurrikan Katrina und alle waren nervös. Ich glaube, niemand hätte gedacht, dass es so schlimm werden würde, dass jemand für Essen erschossen werden würde.“
Aber Dorothys Mann war genau das passiert. Sergei hatte die Details dazu selbst nachgeschlagen. Nach Geschäftsschluss war ein Mann eingebrochen, der verzweifelt seine Familie ernähren wollte. Dorothys Ehemann war der Einzige, der zwischen dem Schützen und der von ihm begehrten Ware gestanden hatte. „Sie waren damals fünfzehn.“
Dieses detaillierte Wissen erregte ihre Aufmerksamkeit innerhalb eines einzigen Herzschlags, und eine hart erlernte Vorsicht machte sich in ihrem strahlenden Blick breit.
Ja, malen’kaya feya. Ich weiß alles über dich.
Er musste es nicht sagen. Sie fühlte es und respektierte die Gefahr, die es repräsentierte.
Umso besser für sie beide. Wenn sie eine Bitte hatte, war es klug, sich daran zu erinnern, mit wem und mit was sie es zu tun hatte, bevor sie die Anfrage stellte.
Für einen Moment ließ er die unangenehme Stille zwischen ihnen schwelen, dann gab er ihr einen verbalen Schubs. „Wollten Sie über etwas Bestimmtes mit mir sprechen, Ms. Labadie?“
Sie hielt seinem Blick stand. Ihre Augen waren ausdrucksstark, durchlässig für all die Emotionen, die sich dahinter regten. Angst. Vorsicht. Verzweiflung und Hoffnung.
Ihr Blick kehrte zurück zu Emerson, und als sie sprach, lag da eine gewisse Ehrfurcht in ihrer engelsgleichen Stimme. „Haben Sie Kinder?“
Ein unerwarteter Schmerz breitete sich zwischen seinen Rippen aus. „Nyet.“
Sie wandte sich ihm wieder zu. „Eine Ehefrau?“
„Nyet.“
„Eine Freundin?“
Eine interessante Wendung. Er hatte keine Ahnung, wohin sie damit wollte. Eine Frau wie Evette würde sich nicht für einen Mann wie ihn interessieren. Jedenfalls nicht auf die Weise, wie es ihre Befragung anzudeuten schien. Und doch war seine physische Reaktion sofort und eifrig bei der Idee dabei.
Sein Schweigen und seine Mimik mussten wohl die Richtung seiner Gedanken verraten haben, denn sie richtete sich auf und plapperte drauflos. „Ich versuche herauszufinden, ob Sie jemand Besonderes in ihrem Leben haben. Jemand, für den Sie sich ein Bein ausreißen würden.“
Ah, also war es Emerson, um den sie sich Sorgen machte. Das ergab Sinn. Jeder, der sie mit ihrem Sohn sah, wusste, dass sie Berge versetzen würde, um Emersons Leben dadurch besser zu machen. Auch wenn es bedeutete, sich auf einen Tanz mit dem Teufel einzulassen.
Er nickte und dachte dabei an die Frau, die er als Schwester betrachtete, Darya, und an Anton, den Mann, der mehr ein Vater als sein eigener für ihn gewesen war. „Es gibt da einige.“
Sie studierte sein Gesicht, konzentrierte sich darauf, als ob sie die Ehrlichkeit seiner Antwort einschätzen wollte. Was auch immer sie gesehen hatte, musste wohl ihren Mut befeuert haben, denn sie schluckte den letzten Rest ihrer Angst hinunter und fuhr fort. „Emerson ist mein Ein und Alles. Die einzige Familie, die ich noch habe.“
„Die Familie ist in der Tat wichtig.“ Er wartete. Wenn sie etwas wollte, musste sie darum bitten. Er hatte bereits genug auf dem Gewissen, um ihn für immer in die Hölle zu verbannen. Ihren Untergang würde er jedoch nicht auf dieser Liste ergänzen.
Sie fing erneut an, an ihren Fingernägeln herumzufummeln, während es so wirkte, als wäre ihre Aufmerksamkeit auf den Tisch gerichtet; dabei schien sie ganz woanders mit ihren Gedanken zu sein. „Die letzten Jahre waren hart für ihn. Es kommt mir vor, als wäre er über Nacht von einem Kind zu einem Erwachsenen geworden, der im Körper eines Jungen gefangen ist. Seine Lehrer sagen, es liege daran, dass er sich in der Schule langweilt. Oder unterfordert fühlt.“ Sie hob den Kopf und auf ihren Lippen zeichnete sich ein stolzes Lächeln ab. „Mein Emerson ist klug.“ Das Lächeln verrutschte. „Aber er hat es nicht leicht, und die Lehrer denken alle, wenn ich es schaffe, ihn in der Montessori-Schule im Stadtrand unterzubringen, würde ihm das helfen.“
Als hätte er gespürt, dass das Gespräch sich um ihn drehte, blickte Emerson von seinen Schulbüchern auf und erwiderte Sergeis Blick.
Schmerz.
Verwirrung.
Frustration.
Leere. Die Art, die entstand, wenn der wertvolle Teil im Leben eines Jungen fehlte.
Sergei kannte diese Leere, war den gleichen Weg voller Schmerz, Frustration und Verwirrung gegangen, bis Yefim ihn gefunden und Anton vorgestellt hatte. Evette konnte den Jungen in die beste Schule des Landes bringen, doch das würde nie die Lücke füllen, mit der ihr Sohn sich herumschlug. Er brauchte einen Mentor. Einen Mann, der ihn leitete, ihm half, sein Leben zu gestalten.
Es stand Sergei allerdings nicht zu, diese Weisheit mit ihr zu teilen. Ganz besonders, da es sich um ein Bedürfnis handelte, das Evette nicht erfüllen konnte. „Dann sollten Sie dieser Schule wohl eine Chance geben.“
„Das will ich. Ich werde es tun. Tatsächlich haben sie gerade einen Platz frei. Der Schulleiter sagte sogar, Emerson hätte gute Chancen, sich für ein Stipendium zu qualifizieren, allerdings muss ich das Geld für seinen Studiengebühren vorstrecken, um seinen Platz so lange zu halten.“
„Sie brauchen also Geld, um die Aufnahme zu sichern.“ Eine Bitte, die leicht zu erfüllen war und verhindern würde, dass sie die hässliche Seite seines Lebens sah.
„Nein. Keinen Kredit. Ich möchte Hilfe bei der Arbeitssuche. Eine Referenz oder einen Hinweis, wenn sie einen haben. Und je früher, desto besser.“
Interessant.
Wie oft waren die Menschen zu ihm gekommen und hatte ihn um Hilfe gebeten, aber nicht ein einziges Mal hatte jemand das Angebot von Geld abgelehnt.
Er beugte sich vor und legte wie sie die Unterarme auf dem Tisch ab. Während seine Hände ruhig und locker blieben, waren ihre immer noch zappelig miteinander beschäftigt. „Ein Job.“
„Ja.“
„Was für ein Job?“
Sie drehte sich in ihrem Sitz neben ihm so, dass sie ihm ihren Oberkörper zuwandte. Ihr Bein, das ihm am nächsten war, hatte sie angezogen; es lag ruhig auf dem Sitz. Es wirkte, als ob sie sich für ein normales Gespräch mit einem unschuldigen Mann statt mit einem bekannten Subjekt aus der kriminellen Unterwelt wappnete. „Nun ja, Sie wissen, dass ich in einem Laden wie diesem arbeiten könnte. Zumindest hier vorne. Ich war noch nie in einer Küche tätig, also wäre das schwer zu verkaufen. Mein letzter Job war bei einer Reinigungsfirma. Wir haben in Geschäftsgebäuden gearbeitet, hauptsächlich in Büros. Das hat gut funktioniert, denn es ist Tagarbeit und ich hatte kurz nach Emersons Schulschluss frei. Ich denke jedoch, dass es schwierig sein wird, so etwas wieder zu bekommen, wenn der neue Arbeitgeber eine Referenz von meinem ehemaligen verlangt.“
„Und warum?“
„Weil sie mich wegen einem Sicherheitsverstoß gefeuert haben.“
Alles in ihm wurde still. Seine Raubtierinstinkte wurden mit der gleichen Eindringlichkeit ausgelöst, die er gespürt hätte, wenn einer seiner meistgehassten Feinde durch die Türen des Diners gekommen wäre. „Erklären Sie mir das.“
Evettes Augen verengten sich und sie neigte ihren Kopf ein klein wenig. Als sie antwortete, tat sie das mit der Vorsicht einer Frau, die sich sehr bewusst war, dass sie gerade über eine Art Auslöser gestolpert war, sich jedoch nicht ganz sicher war, was der Auslöser tatsächlich war. „Ich habe wirklich keine Ahnung. Sie haben gesagt, mein Ausweis sei am vergangenen Samstag in einem Anwaltsbüro benutzt worden, aber ich weiß, dass das nicht stimmen kann. Mein Ausweis war zu Hause. Emerson und ich waren am Samstag nur zweimal unterwegs – auf dem Bauernmarkt und in der Kirche. Ich kann es auf keinen Fall gewesen sein.“
„Und das haben Sie ihnen gesagt?“
„Natürlich. Aber es stand mein Wort gegen ein computergestütztes Trackingsystem, also wollte mein Boss mir nicht zuhören.“
Er würde darauf wetten, dass er ihren Boss dazu bringen könnte, zuzuhören.
Und ihn leiden lassen.
Für eine ganze Weile.
Allerdings würde das, auf lange Sicht gesehen, nicht gut für sie funktionieren, und in seinem Kopf nahm eine verlockende, aber gefährliche Idee Gestalt an. Vorteilhaft für sie beide, doch reine Folter für ihn.
Er lehnte sich erneut zurück und studierte ihr Gesicht.
Sie starrte zurück. Ihre Augen, mit Blau und Grün durchsetzte Goldflecken, wurden durch diesen unbezähmbaren Geist, der darin tobte, noch viel faszinierender. Einer hoch angesehenen Frau wie Evette und ihrem Sohn zu helfen, würde ihm bei den Einheimischen viel Vertrauen, Respekt und Loyalität einbringen. Und je mehr Loyalität und Respekt er erntete, desto schneller würde er seine Ziele erreichen.
Ein Gewinn für sie und ein Gewinn für ihn.
Dafür könnte er sicherlich ein wenig Folter verkraften.
Nachdem er seine Entscheidung gefällt hatte, machte er sich eine geistige Notiz, den Namen der Firma, in der sie gearbeitet hatte, herauszufinden und den angeblichen Sicherheitsverstoß zu untersuchen. Er zog eine Visitenkarte aus seiner Tasche, schrieb eine Adresse auf die Rückseite und schob sie über den Tisch. „Seien Sie am Montag um neun Uhr morgens dort.“
Mit einer bezaubernden Kopfbewegung nahm sie die Karte in die Hand und begutachtete den formellen Druck auf der Vorderseite – ein einfacher Hinweis auf Bogatyr Industries mit einer Telefonnummer, bevor sie sie umdrehte. Evette runzelte ihre Stirn und schaute auf. „Die werden mir helfen, einen Job zu finden?“
„Nein, sie werden Ihnen einen Job geben.“
„Aber die kennen mich doch gar nicht.“
Da war es wieder. Diese Unschuld. Diese Güte, die auf wundersame Weise von dem harten Leben, das sie führte, unberührt geblieben waren. Aber sie hatte auch einen eisernen Willen, eine Stärke, die er nur bewundern konnte.
Wenn er das durchziehen würde – wenn sie die Unterstützung akzeptierte, die er ihr zu geben beabsichtigte –, wäre er wohl ständig der Verführung ausgesetzt.
Doch sie würde sehr davon profitieren. Vielleicht würde sie endlich den Halt finden, den sie brauchte, um ihre Karriere im Modegeschäft zu starten, die sie wegen ihrer plötzlichen Schwangerschaft mit Emerson aufgegeben hatte. Dorothy hatte ihm das erzählt.
Er rutschte aus der Sitzecke, richtete seine Anzugjacke und knöpfte sie zu. „Sie haben mich um Hilfe gebeten, Ms. Labadie. Seien Sie morgen früh um neun Uhr da und Sie werden sie erhalten.“
Sie starrte zu ihm empor, ihre hübschen rosafarbenen Lippen leicht geöffnet und ihre Augen vor Staunen weit aufgerissen. Als hätte sie gerade einen Ritter auf einem Einhorn durch das Diner reiten sehen. Nach ein paar Sekunden voller Verblüffung schüttelte sie ihre Benommenheit ab und stand ebenfalls auf. Sie streckte ihre Hand aus. „Danke.“
Bozhe, aber sie war winzig. Bei seiner Größe von einem Meter dreiundneunzig reichte ihr Scheitel kaum bis an seine Brust. Und dank des Staunens und der aufrichtigen Dankbarkeit in ihrem Gesicht, die ihn anstrahlten, fühlte er sich erst recht wie ein Riese. Sergei nahm ihre Hand in seine, wobei deren schiere Größe die ihrige vollständig verschlang.
Zieh sie näher.
Lass sie deine Kraft spüren.
Zeig ihr, wie sicher sie sich bei dir fühlen kann.
Er schüttelte die ungewollten Gedanken ab und löste seinen Griff. „Danken Sie mir noch nicht, malen’kaya feya.“ Er drehte sich um und ging auf die Tür zu und auf seine Männer, die draußen auf ihn warteten.
„Warten Sie.“
Beim Klang der Dringlichkeit in ihrer Stimme blieb er in der halb geöffneten Tür stehen und drehte sich zu ihr um.
Sie eilte zu ihm. „Was bedeutet das? Dieses feya-Ding.“
Emerson saß auf dem Barhocker; seine Hausaufgaben waren wegen der Interaktion zwischen Sergei und seiner Mutter längst vergessen.
Sergei richtete seinen Blick auf Evette, und zum ersten Mal seit langer Zeit, konnte er sich gegen ein Lächeln nicht wehren. „Malen’kaya feya bedeutet ‚kleine Fee‘.“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, nickte er Emerson zu und ging nach draußen.
Umgehend flankierten seine Männer ihn rechts und links, und die drei machten sich gemeinsam auf den Weg zu dem marineblauen BMW, der am Ende des Blocks geparkt war.
Kir schaffte es bis zum Öffnen der Hintertür für Sergei, ehe seine Neugier siegte. „Und, was hat sie gewollt?“
„Einen Job. Sie braucht einen ab Montag.“ Sergei rutschte auf den Rücksitz, wohl wissend, dass er mit einer solch vagen Antwort niemals durchkommen würde. Sie waren zu lange zusammen, um Geheimnisse voreinander zu haben. Sie kämpften schon zu viele Jahre Seite an Seite, um nur mit dem absoluten Minimum an Antworten abgespeist zu werden.
Sobald Kir sich hinter das Lenkrad gesetzt hatte, torpedierte er ihn mit einer Nachfrage. „Wirst du einen für sie finden?“
„Das habe ich bereits.“
Kir und Roman wechselten einen Blick.
Roman drehte sich auf dem Beifahrersitz so weit, dass er Sergei über die Schulter hinweg ansehen konnte, und hob eine Augenbraue.
„Sie hat Erfahrung im Putzen“, sagte Sergei. „Sie ist kompetent und vertrauenswürdig, deshalb wird sie ab Montagmorgen mein Anwesen verwalten.“