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4. KAPITEL – Eine schwere Entscheidung

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Ein Arzt also! So richtig mit Doktortitel. Und seine Eltern besaßen ein Mehrfamilienhaus in der Diesterwegstraße, ganz in der Nähe von unserem Baugeschäft und dem Südbahnhof. Andere Verwandte betrieben eine Äppelwoi-Wirtschaft in Sachsenhausen. Das war nicht nur nach meinem Geschmack, sondern entsprach auch den Vorstellungen meiner Mutter für unsere gesicherte Zukunft. Drei Bedingungen stellte sie an ihren künftigen Schwiegersohn: Er sollte mich auf Händen tragen und treu wie Gold sein, er sollte meine beiden Töchter liebevoll wie eigene behandeln und er durfte kein armer Schlucker sein. „Praktiziert er im Krankenhaus oder betreibt er eine Praxis?“ fragte Mutter, als ich vom ersten Rendezvous nach Hause kam. Ernst hatte von seiner eigenen Praxis gesprochen, die in Zwenkau lag. Ich schämte mich meiner Unwissenheit, denn ich hatte noch nie etwas von diesem Ort in Hessen gehört, doch das würde ich bald genauer erfahren. An diesem ersten Abend gab es so viel Wichtigeres zu erzählen. Wir trafen uns fast jeden Abend, dann kam er am Sonntag zu uns nach Hause. Mutter hatte sogar Geselchtes ergattert – nicht einmal dieses hessische Fleischgericht gab es zu der Zeit immer zu kaufen und war deshalb besonders begehrt - und Kartoffelsalat zubereitet. Wir Frauen schauten entzückt zu, wie Ernst mit Ellen und Ricarda scherzte und vor allem Ellen laut über seine Späße jubelte. Ricarda versteckte sich zuerst hinter dem strammen Körper ihrer Oma, doch bald ließ sie sich auch kitzeln und lachte, versteckte sich wieder und jauchzte, als der Besucher sie fand und wieder kitzelte. Es schien alles perfekt zu sein. Nach dem Abendessen brachte Tante Lenchen die Kinder ins Bett. Ernst verbeugte sich und fragte: „Darf ich Sie und Ihre Tochter Lore nächsten Sonntag mit den Mädchen zu meinen Eltern einladen? Leider kann ich über Weihnachten nicht zu Hause sein, ich muss zum Bereitschaftsdienst zurück in meine Praxis“.

Mutti fragte nach, wo denn dieses Zwenkau überhaupt liegt. Kein Wunder, dass wir noch nie von diesem Ort gehört hatten. Die Kleinstadt mit zehntausend Einwohnern befindet sich keineswegs in der Nähe von Frankfurt, sondern in Sachsen zwanzig Kilometer südlich von Leipzig. In dieser Gegend kannten wir niemanden, denn unsere ganze Sippe lebte in oder um Frankfurt. Mutti musste sich erst einmal setzen. Streng fragte sie: „Junger Mann, wie stellen Sie sich das denn vor? Ich glaube, unter diesen Bedingungen hat es keinen Zweck, dass wir Ihre Eltern besuchen. Da setzen Sie meiner Lore solche Flausen in den Kopf, umgarnen sie und wir denken, dass Sie als Frankfurter Ihre Praxis hier in der Nähe führen!“ Doch zu spät. Ich hatte Feuer gefangen. Ich bekam Wut auf meine Mutter, weil Sie sich in meine Angelegenheiten mischte. Ich blickte in Ernsts betretenes Gesicht und verkündete stolz: „Natürlich, ich komme mit Ellen und Ricarda gern zu Besuch und freue mich, deine Eltern kennenzulernen!“ „Ohne mich“, rief meine Mutter und schlug die Tür hinter sich zu.

Nachts fing ich an zu grübeln. Hatte meine Mutter vielleicht recht? Sie schaute nicht durch die rosarote Brille wie ich verliebtes Ding, das einen neuen Vater für seine Kinder suchte. Von Frankfurt würde ich natürlich niemals weggehen, so etwas kam gar nicht in Betracht. Fort von meiner Familie, von Mutti, von Tante Lenchen, den Cousins und Cousinen und den vielen Freunden – nein, undenkbar. Meine schöne, mit so viel Liebe eingerichtete Wohnung direkt am Main - hier wollte ich bleiben. Später würde ich das ganze Haus an der Schönen Aussicht erben. Vielleicht würde Ernst die Praxis in diesem komischen Zwenkau aufgeben und eine andere hier in Frankfurt aufmachen. Eigentlich wären doch die Räume im Erdgeschoss, in denen jetzt noch das Lederwarengeschäft vor sich hin dümpelte, wie geschaffen für eine Arztpraxis! Wenn er mich so liebte wie ich ihn, würde er das ganz bestimmt für mich tun. Mutter würde sich dann wieder mit ihm versöhnen, sie mochte Ernst schließlich auch vom ersten Augenblick an. Und wir würden in der Nähe unserer Verwandten und Freunde bleiben. Ernst war doch genauso Frankfurter wie ich, es könnte eine perfekte Lösung werden. Wir kannten uns noch keine drei Wochen, doch ich träumte schon von einer großen Hochzeit, bei der Ellen und Ricarda Blumen streuen und alle Freunde und Verwandten mit uns feiern würden.

Über die Feiertage sprachen wir nicht von Ernst, obwohl ich keine Minute aufhörte, an ihn zu denken. Am dreißigsten Dezember dachte ich wehmütig an Richard, mit dem ich an diesem Tag unseren achten Hochzeitstag gefeiert hätte. Plötzlich riss mich Ernst aus der trübseligen Stimmung. Er stand mit Blumen vor Muttis Tür und lud mich zur Silvesterfeier ein. Mutti und Tante Lenchen bespaßten meine Töchter und ich lernte Ernsts zwei Jahre jüngere Schwester Elly und ihren Mann Adolf Melzner kennen, die aus dem ostbayrischen Schwandorf zu Besuch gekommen waren. Wir verstanden uns auf Anhieb und hatten viel Spaß miteinander. Auch Ernsts Eltern waren herzlich und unkompliziert. Sein Vater Karl - zweiundsechzig Jahre alt - war in einer Führungsposition bei der Allianzversicherung angestellt. Mutter Margarethe war damals siebenundfünfzig Jahre und eine leidenschaftliche Hausfrau. Allerdings war Ernsts Vater auch streng und sparsam: Ernst musste sein Medizinstudium allein finanzieren, indem er bei einer Bank arbeitete. Das brachte ihn manchmal ans Ende seiner Kräfte, wenn er sich noch nachts auf Prüfungen vorbereitete und über den medizinischen Fachbüchern einschlief. Doch stolz erklärte er mir, von seinem Vater und dessen strengen Prinzipien hätte er Disziplin, Selbstüberwindung und Ausdauer gelernt – wichtige Eigenschaften für sein Studium und den Beruf. Seine Dissertation widmete sich dem Thema Blinddarmentzündung.

Anfang Januar 1931 hieß es Abschied nehmen. Ich sorgte mich, ob Ernst bei dem Regenwetter um null Grad herum heil mit seinem Auto nach Zwenkau kommen würde. Eine Ironie des Schicksals: Auch Ernst fuhr einen „Wanderer“ wie mein erster Mann. Wie sollte ich nach Richards Unfall die künftigen Abschiede und Ängste überstehen, wenn er auf vier Rädern unterwegs war? Doch Ernst lachte: „Wenn du mich nicht Autofahren lassen willst, kannst du mich ganz vergessen. Ich bin Landarzt und fahre selbst zu meinen bettlägerigen Patienten. Außerdem gefällt dir doch das Autofahren auch!“ Ich dachte nur, dass sich unbedingt etwas ändern müsse, aber nach einem Monat Bekanntschaft wollte ich ihn nicht schon mit meinen Ideen verschrecken. Ich hoffte also, dass sich das Problem irgendwie und irgendwann lösen würde. Ich trat weiter bei Konzerten und Liederabenden auf und besuchte manchmal Ernsts Eltern, die bereits ein Telefon besaßen – damals noch ein großes Privileg. So konnten wir ab und zu miteinander sprechen, denn natürlich verfügte Ernst in seiner Praxis auch über ein Telefon. Er war beruflich sehr eingespannt und offensichtlich beliebt in diesem Ort. Reinings versuchte ich meine neue Beziehung so lange wie möglich geheim zu halten. Deshalb traf ich mich lange Zeit mit Ernst nur auf neutralem Boden, bei meiner Mutter oder bei seinen Eltern. Die Schwiegereltern wussten, dass ich mich mit den Kindern manchmal tagelang in meinem Elternhaus aufhielt. So merkten sie gar nicht, dass ich am siebzehnten Februar 1931 allein mit der Bahn nach Leipzig reiste und meine Mädchen bei Mutti in Sachsenhausen in guter Obhut wusste. Ernst feierte seinen dreiunddreißigsten Geburtstag. Ich musste daran denken, dass mein erster Mann nur einunddreißig Jahre alt geworden war. Doch der liebe Gott hatte wohl auch bei diesem Unglück seinen Plan: Ich sollte Ernst kennenlernen!

Ich staunte über die Ähnlichkeit des Leipziger Hauptbahnhofes mit dem Frankfurter. Ernst empfing mich strahlend mit einem Strauß Blumen, obwohl er doch Geburtstag hatte – und das im Februar! Mit dem Auto fuhren wir nach Zwenkau. Als wir am Augustusplatz entlang rollten, wo ich die tollen Gebäude des Neuen Theaters und des Bildermuseums sah, und weiter durch die Südstraße nach Süden, dachte ich das erste Mal, dass man vielleicht genauso gut wie in Frankfurt auch in Leipzig leben und Kulturstätten besuchen könnte. Weiter ging es durch Markkleeberg, wo mir das schöne Fachwerkgebäude auffiel, das sich „Forsthaus Raschwitz“ nannte. Der Gedanke an das Forsthaus Unterschweinstiege, in dem mein Richard seinen letzten Abend im Leben fröhlich mit Freunden verbracht hatte, stimmte mich für einige Augenblicke sehr traurig. Ernst erklärte mir: „Es gibt noch viele Gastwirtschaften hier in der Nähe und in Zwenkau selbst. Für die Leipziger sind Zwenkau und der Harthwald mit mehreren Ausflugslokalen beliebte Wochenendziele. Wir haben hier eine richtig gute, saubere Luft. Es gibt sogar eine Lungenheilstätte in der Nähe“. Er erwähnte bei diesem ersten Besuch nicht, dass sich seit zehn Jahren in der Nähe Bagger in die Erde fraßen, um Braunkohle zu fördern, der Stück für Stück Zwenkaus grüne Lunge zum Opfer fiel. Doch noch hatte der Wald große Flächen, die die Tagebaulandschaft erst viel später besiegen würde.

Zwenkau war eine hübsche Kleinstadt. Schon auf dem Weg zeigte mir Ernst schmucke Wohnhäuser, in denen Bekannte wohnten, das Krankenhaus, in dem sein Freund als Leitender Arzt das Sagen hatte, die stattliche St. Laurentiuskirche, den Markt mit dem eindrucksvollen Ratskeller, das Rathaus und daneben den gewaltigen Schulbau. Am Rathaus begann auch die Albertstraße. Im Eckhaus Nummer 1, das wegen der verschiedenen Bauherren von den Zwenkauern das „Siebenmännerhaus“ genannt wurde, bewohnte Ernst ein Zimmer als Untermieter. Diese Straße würde in den nächsten Jahren in Straße der SA umbenannt werden und nach 1945 in Ebertstraße. Vor dem Haus Nummer sechsundzwanzig in der gleichen Straße blieben wir stehen: „Schau doch diesen neu gebauten Klotz an, noch nicht mal ein Jahr alt! Das ist doch kein Haus – so schmucklos und ohne ein richtiges Dach! Das hat sich ein anderer Zwenkauer Arzt bauen lassen, Dr. Rabe. Junge Leute bei dem sogenannten Bauhaus wollen unsere schöne Architektur revolutionieren – verboten gehört so etwas!“ Ich antwortete vorsichtig, dass ich den Mut dieser Leute bewundere, etwas ganz Neues zu wagen. Doch Ernst ging nicht darauf ein, sondern verkündete mit strahlendem Lächeln: „Warte nur, gleich wirst du etwas viel, viel Schöneres sehen!“

Augenblicke später hielten wir vor einem dreistöckigen Haus in der Bahnhofstraße. Ernst half mir aus dem Wagen und führte mich zu seiner Arztpraxis im Erdgeschoss, wo mir besonders die verglaste Veranda gefiel, sein privater Pausenraum. Aus jedem Blick und jedem Wort, mit dem er mir die Räume präsentierte, spürte ich, wie stolz er auf sein berufliches Reich war. „Die Wohnung über der Praxis soll dieses Jahr frei werden. Ich möchte sie für uns mieten, wenn du mit nach Zwenkau kommst“. An diesem Tag begriff ich, dass mein neuer Freund in dem kleinen Zwenkau seit vier Jahren Wurzeln geschlagen hatte. Vorher hatte er in Wiederau seine erste Arztstelle bei einem anderen Doktor gehabt. Die Patienten schienen ihn zu mögen. Auf Schritt und Tritt wurde er ehrerbietig gegrüßt. Ich geriet innerlich in Panik, erwartete er doch Antwort auf seine Frage, ob ich ihn heiraten und in diese sächsische Kleinstadt folgen würde. Doch Ernst spürte wohl meine innere Zerrissenheit und wollte mir Zeit lassen. Dafür war ich sehr dankbar. Mir wurde schlagartig klar, dass meine Träumereien, die Arztpraxis später in der Schönen Aussicht einzurichten, wie Seifenblasen zerplatzt waren. Wir feierten Ernsts Geburtstag mit einer guten Flasche Wein allein zu zweit in seinem Zimmerchen, nachdem er mich in dem nicht weit von seiner Praxis entfernten Gasthof „Zum Goldenen Adler“ zum Essen eingeladen hatte.

Ostern verbrachten wir gemeinsam mit seinen Eltern und meinen Töchtern bei den Verwandten in Schwandorf. Vor allem Ellen fühlte sich im Trubel dieser lebhaften Familie wohl, während Ricarda jammerte, dass sie bei der Oma und Tante Lenchen in Frankfurt Ostereier suchen wollte, die der Osterhase ganz bestimmt dort im Garten versteckt hatte. Doch natürlich gingen die Kinder keineswegs leer aus, sondern wurden von Ernsts Verwandtschaft verwöhnt. Ich freute mich zu erleben, wie gut der Junggeselle mit den kleinen Mädchen umging und wie auch meine Kleine wieder lachen konnte. Mir gingen in diesen scheinbar unbeschwerten Tagen die sorgenvollen Worte meiner Mutter immerzu durch den Kopf, wie denn das weitergehen würde mit Ernst und mir. Sie wünschte sich so sehr, dass uns allen der Schmerz einer Trennung erspart bleiben würde. Doch es war klar, dass Ernst keineswegs die Zwenkauer Praxis aufgeben würde. Inzwischen war ich ihm restlos verfallen und malte mir heimlich aus, wie ich als Frau Doktor in dem Haus mit der großen Veranda aus- und eingehen und in der Praxis helfen würde. Außerdem wäre ich dann ein für alle Mal die Abhängigkeit von Richards Eltern los. Inzwischen klammerte ich mich nicht mehr an den Gedanken, ewig weiter bei ihnen in Frankfurt zu wohnen. Jetzt war ich bereit, dieses erste und kurze Eheleben auch innerlich abzuschließen und einen Neuanfang zu wagen.

Politik interessierte mich überhaupt nicht. Es hatte für mich keinerlei Bedeutung, dass die bürgerlichen Parteien bei der hessischen Landtagswahl im November 1931 große Verluste erlitten, von denen die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) profitierte. Doch die neue Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) wurde stärkste Partei. Was scherte mich das Parteiengezänk, ich war nicht zur Wahl gegangen, hatte den Kopf voll mit der Frage, ob ich meinem Leben – und dem meiner Kinder - die richtige Richtung geben würde. Während der Kopf noch grübelte, zeigte mir das Bauchgefühl schon lange den Weg zu dem einen neuen Mann: Ernst Jacklowsky. Als er mir erzählte, dass die Wohnung in der Bahnhofstraße zum Jahresende frei würde, fiel ich ihm um den Hals. „Ja, Ernst, wir fangen in Zwenkau noch einmal als Familie an!“

Doch diese neue Entwicklung musste ich meinen bisherigen Schwiegereltern beichten. Bis Weihnachten 1931 schob ich das Gespräch auf, dann besuchte mich Ernst in meiner Wohnung. Wir schmiedeten ernsthafte Heiratspläne und es ging ganz praktisch darum, welche Gegenstände, die nicht von Richards Eltern stammten, wir nach Zwenkau mitnehmen wollten. Ich war äußerst überrascht, dass mir plötzlich Verständnis gezeigt und mein künftiger Gatte mit großer Höflichkeit behandelt wurde. Offensichtlich waren die Schwiegereltern froh, die Witwe ihres Sohnes und deren Kinder loszuwerden und zahlende Mieter für die schöne Wohnung zu finden. Ernst forderte, dass mir nun endlich Richards Lebensversicherung ausgezahlt würde. Vater Reining versprach das, aber er bat um Geduld: Es sei kompliziert, da er das Geld in das Geschäft gesteckt und in diversen Wertpapieren angelegt hätte. Er würde einen Finanzfachmann beauftragen und der würde für die Auszahlung sorgen. Inzwischen war in Frankfurt jeder Zweite im erwerbsfähigen Alter arbeitslos. Etliche „Erwerbslosenküchen“ versorgten täglich mehr als fünfzehntausend Menschen mit einem warmen Mittagessen.

Wir heirateten am Mittwoch nach Ostern, am dreißigsten März 1932, im kleinen Kreis auf dem Standesamt und in der St. Laurentiuskirche in Zwenkau. Meine Mutter war unheimlich traurig, dass ich mit den Kindern von Frankfurt fort ins ferne Sachsen zog, aber sie zeigte sich verständnisvoll. Sie hatte begriffen, dass Ernst meine große Liebe war und er auch meine beiden Mädchen liebte wie eigene Kinder. Mit der gut gehenden Arztpraxis würde nun besser für unsere Existenz gesorgt sein als in Frankfurt. Sie fügte sich in das Schicksal und half ganz praktisch dort, wo sie helfen konnte: Sie kümmerte sich um Ellen und Ricarda, während Ernst und ich Umzugsvorbereitungen trafen und die gemeinsame Wohnung in der ersten Etage neben Ernsts Vorgänger Dr. Theodor Freudenberg einrichteten. Wir hatten den Hochzeitstermin so gelegt, dass Ellen nach den Osterferien gleich in ihrer neuen Schule in Zwenkau eingeschult werden sollte. Doch die kleine Schwester Ricarda hatte uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie war wieder einmal krank und nicht reisefähig. Mit Mittelohrvereiterung war nicht zu spaßen! So verzichtete meine Mutter schweren Herzens auf die Hochzeit in Zwenkau und hütete die Kinder.

Ernsts Eltern kamen mit dem Zug nach Leipzig und bewunderten die neue Wohnung ihres Nun-Endlich-Nicht-Mehr-Junggesellen. Sie waren glücklich, dass ihr Sohn mit vierunddreißig Jahren in den Hafen der Ehe einlief und nicht mehr nur für seinen Beruf lebte. Ich wusste meine Mädchen in bester Obhut und genoss die Hochzeit in Zwenkau, wenn sie auch in wesentlich kleinerem Rahmen stattfand als meine erste mit Richard. Ernst machte mir die größte Freude, als er mit mir im offenen Wagen die nur fünfhundert Meter bis zum Fotografen Rosenberg fuhr, damit dieser auf künstlerischen Hochzeitsfotos das große Ereignis und mein schönes Kleid für die Ewigkeit festhielt. Für weitere Fotos kam der Fotograf mit zu Ernsts bisheriger Bleibe und wir bekamen stimmungsvolle Bilder von uns beiden und dem „Wanderer“ im Hof des „Siebenmännerhauses“. Ich hatte auch nichts dagegen, dass wenige Tage später eine Vergrößerung des Hochzeitsbildes im Schaufenster des Fotografen prangte – im Gegenteil.


Hochzeit von Ernst und Lore 1932 in Zwenkau

Ernsts Sprechstundenhilfe hatte mir verraten, dass Ernst für viele junge Frauen in Zwenkau als gute Partie galt. Es sollen Mädchen mit Bagatellen in die Sprechstunde gekommen sein, um sich dem Doktor nähern zu können. Ich erfuhr, dass mein Mann als Arzt sehr konsequent war. Er fuhr noch nachts und am Wochenende zu Patienten, denen es schlecht ging, aber Drückeberger oder solche, die es seiner Meinung nach waren, schrieb er prinzipiell nicht krank. So ließ er offensichtlich auch die jungen Mädchen abblitzen, die ihre Wehwehchen nur erfunden hatten. Unser Hochzeitsfoto war in Zwenkau eingeschlagen wie eine Bombe.

Voller Stolz spazierte Ernst zwei Tage später mit seinen Eltern und mir in die Lomlerstraße und zeigte uns einen außer Dienst gestellten Eisenbahn-Lazarett-Wagen, der im Garten neben der ehemaligen Feuerwehr stand. „Das ist das Domizil unserer Zwenkauer Sanitätskolonne und damit fast so etwas wie meine Zweitwohnung“, scherzte er und stellte uns Hilde Ullmann vor, die mit meinem Mann 1927 zu den Gründern der „Freiwilligen Sanitätskolonne vom Roten Kreuz Zwenkau“ gehörte. Es war eine seiner ersten Aktivitäten am neuen Wohn- und Arbeitsort, die ihn mit einem Schlag in der Region bekannt gemacht hatte und noch viele Jahre später bei Jubiläen gewürdigt werden sollte. Ernst hatte Frauen und Männer aufgerufen, die sich freiwillig für einen viermonatigen Erste-Hilfe-Lehrgang meldeten und nach erfolgreicher Prüfung im November als freiwillige Gesundheitshelfer zur Verfügung standen. Ernst war von Anfang an ihr Kolonnenführer und wurde bereits 1928 zum Kreiskolonnenarzt berufen. Ich war beeindruckt vom Engagement meines zweiten Ehemannes.

Es war so schade, dass Ellen wegen ihrer kranken Schwester den Schulanfang nach Ostern verpasste. Meine Mutter und Ernsts Eltern kümmerten sich rührend um die Kinder, wollten sie doch vor dem Abschied Ellen und Ricarda so viel wie möglich um sich haben. Mit Antibiotika wurde die Krankheit nicht behandelt. Das Penicillin war erst 1929 entdeckt worden und mein Mann befürchtete zu dieser Zeit noch unerforschte Nebenwirkungen des neuen Wundermedikaments.

Die Großeltern taten mir ehrlich leid, ebenso Tante Lenchen, meine Schwester Fränzi und mein Bruder Wilhelm. Ich selbst schwankte zwischen der Himmelhochjauchzend- und der Zu-Tode-betrübt-Stimmung. Die Trennung von Frankfurt und der Großfamilie tat mir weh, doch die Zukunft als Arztgattin in Zwenkau verlockte mich gleichermaßen. Ich freute mich auf weitere Kinder mit Ernst und das kommende, aufregende Leben. So tröstete ich mich selbst, dass wir mit dem Auto häufig nach Frankfurt und Schwandorf zu Besuch kommen würden und dass uns auch die Verwandten in Zwenkau besuchen könnten. Letzten Endes siegten mein Optimismus und die Vorfreude auf ein neues, wunderbares Leben.

Sie nannten mich Mimi

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