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5. KAPITEL – Abschied und Ankunft

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Nach dem Abschied von unseren Familien Mitte Mai 1932 fuhren wir vier ziemlich still mit Ernsts Auto durch Hessen, Thüringen und schließlich nach Sachsen. Doch mit jedem neuen Gau wurden unsere Gespräche lebhafter. Die Mädchen hatten Zwenkau und die neue Wohnung noch nie gesehen und stellten jede Menge Fragen, wie es dort sein würde.

Als wir in unserer Wohnung eintrafen, erkundeten die Mädchen ihr Kinderzimmer, den großen Hof, an den sich ein Stück Garten mit Wiese und Bäumen anschloss, bewunderten das „Allerheiligste“ des neuen Vatis, die Arztpraxis, die große Veranda. Am Sonntag hatten wir alle Gelegenheit, auszupacken und uns einzurichten. Und am Montag kam der große Tag für Ellen – der Schulanfang. Leider sechs Wochen später als für die anderen Kinder. Natürlich holte ich sie an ihrem ersten Schultag persönlich ab, Klein-Ricarda an der Hand. Aber die große Freude meiner sechsjährigen Tochter blieb aus. Zu peinlich waren ihr die neugierigen Blicke der anderen Kinder und einiger Mütter oder Dienstmädchen, die die kleinen Schülerinnen abholten.

Wir gewöhnten uns schnell ein. Um den Haushalt musste ich mich nur organisatorisch kümmern, dafür half ich Ernst bei der Buchführung. So wusste ich Bescheid über die Einnahmen und Ausgaben in der Arztpraxis und in unserem Haushalt. Ich vertraute meinem Mann, wollte aber nicht noch einmal so ahnungslos bezüglich der Finanzen wie bei den Reinings sein. Ich genoss es, nicht mehr jeden Pfennig herumdrehen zu müssen und zu wissen, dass wir immer satt werden. Ab und zu gönnte ich mir auch extravagante Einkäufe wie eine teure handgeklöppelte Tischdecke oder Pelzmäntel für meine Mädchen und mich. Ich hatte inzwischen die Frau des Kürschnermeisters Henneberg kennengelernt, die ich sehr mochte. Dass es ab und zu Meinungsverschiedenheiten mit Ernst darüber gab, wie sein schwer verdientes Geld ausgegeben werden sollte, konnte ich nicht vermeiden. Wie schon bei meinem ersten Mann gab es stets wieder eine leidenschaftliche Versöhnung. Ich bemerkte allerdings, wie sehr die Kinder unter unseren Streitigkeiten litten. So sagte mir doch eines Tages Ellen, wenn sie überhaupt mal heiraten würde, dürfte es nie Streit um das liebe Geld geben!

Im Souterrain unseres Hauses wohnte eine Familie mit Hanna und Jutta, die im Alter zu Ellen und Ricarda passten. Die Kinder spielten gut zusammen. Ich drückte beide Augen zu, als die Mädchen ihr Vesper manchmal mit ihnen tauschten. Bei uns gab es Kuchen oder Wurstbrote und meine Kinder beneideten die ärmeren Spielkameradinnen um deren Fettbemmen! Im halb ausgebauten Dachboden wohnten noch zwei etwas ältere Kinder und zu diesen sechs Kindern gesellten sich in unserem Hof und Garten zahlreiche weitere Mädchen und Jungen aus der Nachbarschaft. Ich liebte diesen Trubel und dachte mir kleine Überraschungen aus, regte die Kinder zu Spielen an wie Pflasterhasche, Meister gib mir Arbeit auf, Eins zwei drei ins faule Ei. Eines Tages kaufte ich Holzkreisel und Peitschen und veranstaltete einen Kreiselwettbewerb. Siegerin wurde Hanna aus unserem Haus, die sehr glücklich über ihren neuen Holzkreisel war, den sie als Preis erhielt. Ernst empfing den ganzen Tag in seiner Praxis Patienten oder war auf den Dörfern unterwegs, oft bis spätabends. Ich hatte also freie Hand, den Alltag zu gestalten.

Ich hatte mich schnell mit einigen Ärzten, die im Krankenhaus arbeiteten, und ihren Frauen angefreundet. Sehr sympathisch fand ich Hilde Wortmann, die Gattin des Chefarztes Dr. Wilhelm Wortmann. Sie sollte eine lebenslange Freundin werden. Der Chirurg und Gynäkologe war 1924 von Berlin gekommen und leitete seitdem das Zwenkauer Krankenhaus. Im gleichen Jahr war Ernsts Dissertation über Erfahrungen mit Blinddarmentzündungen an der Frankfurter Chirurgischen Universitätsklinik erschienen. Der Chefarzt soll wohl auf diese Arbeit aufmerksam geworden sein. Es ist denkbar, dass er seine Kontakte in Ärztekreisen nutzte und den jungen promovierten Arzt zuerst nach Wiederau und später nach Zwenkau vermittelt hatte, als Ernsts Vorgänger Dr. med. Friedrich Theodor Freudenberg in Pension ging und die gut gehende Praxis in der Bahnhofstraße frei wurde. Doch das hatte sich ereignet, bevor ich Ernst kennenlernte. Ich hatte die genauen Zusammenhänge nicht hinterfragt, ich war zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt. Beeindruckt war ich, als die Ärzte über die Zeit der Weltwirtschaftskrise erzählten, deren Folgen ich für meine Familie in Frankfurt mit meinen musikalischen Auftritten zu lindern versucht hatte. In dem harten Winter 1929 breitete sich die Grippe in ungeahntem Ausmaß aus und Wilhelm Wortmann kämpfte in zahlreichen Briefen an die Amtshauptmannschaft Borna um finanzielle Unterstützung für die Verpflegung sozial schwacher Patienten. Diese Probleme hatten sich 1930 massiv verschärft, als es Massenentlassungen und Firmenzusammenbrüche im gesamten Land gab. Doch schnell beendeten wir diese ernsten Gespräche mit der erfreulichen Gewissheit, dass es in Deutschland nun wieder stetig aufwärts ging! Wir hatten Grund zum Feiern und Fröhlichsein!

Manchmal gaben wir Gesellschaften bei uns zu Hause und immer häufiger wurden wir von anderen eingeladen. Ich nahm dann meist die Gitarre mit und bereitete etwas zum Vorsingen vor, was stets gut angenommen wurde. Nur mein lieber Mann, der auch ein guter Unterhalter war, fühlte sich manchmal etwas ausgebremst. Wenn das Publikum wünschte, dass ich ein weiteres Lied vortragen solle, verkündete er energisch: „Nein, Lore braucht jetzt eine Pause!“ und dann nutzte er die Gelegenheit, Anekdoten von seinen Erlebnissen auf dem Land zu erzählen. Kranke und ihre Geschichten stellte er dabei nie bloß, das Arztgeheimnis wahrte er eisern. Es ging immer um lustige Begebenheiten am Rande. Zum Beispiel um einen Wirt namens Göttlich, den Ernst den „lieben Gott“ nannte. Doch aus ihm war ein „böser Gott“ geworden, weil er seinem Gast ein Bier zu viel berechnet hatte!

Es gefiel mir gut in Zwenkau und ich fühlte mich angenommen und angekommen in der sächsischen Kleinstadt. Ein besonderes Vergnügen waren für uns Kinobesuche. In den 1927 neu gebauten Wallhalla-Lichtspielen mit achthundert Plätzen – welche Kleinstadt besitzt schon ein so großes Kino? – lösten 1932 die ersten Tonfilme die Stummfilmzeit ab.

In den Sommerferien reisten wir nach Frankfurt, besuchten die Oma, spazierten zum 1931 neu gebauten Goetheturm und aßen daneben im großen Kaffeegarten Eis. Bei meiner Mutter im Garten trafen sich tagelang die verschiedenen Verwandten, um uns zu sehen. Auch bei diesen Besuchen ging es meist sehr lustig zu. Dann waren wir froh, die vertrauten hessischen Klänge zu hören, denn an den sächsischen Dialekt konnten wir uns immer noch nicht gewöhnen. Mutter und Lenchen hatten tagelang Kuchen gebacken, um uns und die vielen Gäste zu bewirten. Von Frankfurt fuhren wir nach Schwandorf zu Ernsts Schwester und von dort aus weiter in die Alpen. Ernst liebte die Berge. Allerdings machte er mit seinem schwarzen Humor der kleinen Ricarda Angst. „Warte nur, wenn wir erst zum Wilden Kaiser kommen – der bestraft dich, weil du immer so vorlaut bist!“ Ich konnte es nicht ausgleichen, Ricarda hatte schreckliche Furcht vor diesem drohenden Berg und hat ihr Leben lang Reisen ins Gebirge gehasst! So war vor allem die Kleinste froh, als es wieder nach Hause ging.

Ich hatte zahlreiche Wünsche und wartete immer noch auf die Auszahlung des mir von Reinings zustehenden Geldes. Richards Vater Ludwig feierte im Oktober 1932 seinen sechzigsten Geburtstag. Ich schickte ihm Glückwünsche und fragte noch einmal nach meinem Versicherungsgeld. Es kam keine Antwort.

Bereits im Herbst begann ich mit Weihnachtsvorbereitungen, denn Weihnachten und Fasching waren stets meine liebsten und größten Feste gewesen – und das sollte auch für die Kinder so bleiben. Der letzte Schultag vor Weihnachten war Ellens siebenter Geburtstag. Ich bastelte große Pappflügel und benähte Abende lang ein Nachthemd mit vielen goldenen Sternen. So schickte ich meine Tochter als Christkind in die Schule, wo sie selbst gebackene Plätzchen verteilen sollte. Später sagte sie mir, dieser Auftritt sei ihr noch viel peinlicher gewesen als die verspätete Zuckertüte. Hier wurde meine Tochter erstmals mit einem regionalen Unterschied konfrontiert: Während zu Hause in Hessen das Christkind die Weihnachtsgaben beschert, ist im sächsischen Zwenkau der Weihnachtsmann dafür zuständig. Das Christkind kennen viele nicht einmal. So war Ellen in ihrem kunstvollen Kostüm statt der erhofften Bewunderung dem Spott der anderen Kinder ausgesetzt. Ich war entsetzt, als sie mit zerknickten Flügeln tränenüberströmt nach Hause kam.

Das Christkind meinte es an diesem ersten Weihnachtsfest in Zwenkau sehr gut. Es gab neue Puppen und für Ellen und Ricarda je einen Puppenwagen. Das Größte war jedoch das Puppenhaus, das wir bei einem Tischler hatten anfertigen lassen. Fünf Zimmer hatten die Puppenkinder, dazu Gardinen an den Fenstern, Tapeten und Lampen mit richtigem elektrischen Licht. Stundenlang spielten Ellen und Ricarda damit, wobei allerdings meist Ellen der kleinen Schwester diktierte, was die kleinen Bewohner gerade tun sollten. Später spielte Ricardas Tochter viele Jahre mit diesem Puppenhaus, welches auch Klein-Ricardchen innig liebte. Als Einzelkind konnte die „kleine Ricarda“ ungestört nach ihrem Belieben den Alltag der darin wohnenden Püppchen gestalten.


Ellen und Ricarda zu Weihnachten 1932 in Zwenkau

Sie nannten mich Mimi

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