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6. KAPITEL – Ernst, Lore und Ernelore

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Ich war zufrieden mit meinem Leben als geachtete Arztgattin in Zwenkau. Auch die Verwandtschaft hatte sich damit abgefunden, dass wir nun weit weg von Frankfurt wohnten. Manche beneideten uns sicherlich auch um unseren Wohlstand. Im Sommer 1933 waren wir zu Ernsts Schwester Elly und ihrem Mann Adolf Melzner eingeladen, die inzwischen in Bayreuth wohnten – die beiden, mit denen wir nach unserem Kennenlernen so unbeschwert Silvester gefeiert hatten. Wir feierten voller Freude die Taufe ihrer kleinen Elinor, die im August 1933 das Licht der Welt erblickt hatte, und das Treffen mit Ernsts Eltern und etlichen anderen Verwandten. Elinor sollte später ein Leben lang den Kontakt mit meiner Tochter Ellen halten – und nach ihrem Tod 2010 mit meiner Enkelin Ricarda fortführen, die Elinors Briefe in den geerbten Papieren von Ellen finden würde.

Ich war entzückt von dem süßen Baby und war kurze Zeit später unvergleichlich glücklich, als ich ebenfalls schwanger wurde. Wir fieberten unserem ersten gemeinsamen Kind entgegen. Mein Mann gab sich die größte Mühe mit Ellen und Ricarda und behandelte sie wie eigene Töchter: Verständnisvoll für ihre kleinen Wünsche, lustig, aber auch streng. Wenn er am Wochenende oder nachmittags zu Patienten auf die Dörfer fuhr, nahm er die beiden manchmal mit. Ich musste immer noch mein ambivalentes Verhältnis zum Autofahren überwinden. Wenn ich selbst mit unterwegs war, genoss ich die Fahrten und die Aufmerksamkeit ohne Bedenken. Doch wenn Ernst allein oder mit den Kindern fortfuhr, durchzuckte mich immer die Angst, es könnte wieder ein Unfall passieren. Das steigerte sich vor allem dann, wenn Ernst nach getaner Arbeit noch ein Bierchen in einem Gasthaus trank und mit den Bauern diskutierte. Es gab viel Neues im Lande, in dem seit 1933 unser neuer Führer Adolf Hitler wieder Hoffnung, Zuversicht, Arbeitsplätze und wachsenden Wohlstand versprach. Die Folgen des unseligen Krieges würden nun bald ganz verschwinden. Bei den Gesprächen kamen oft noch ein weiteres und noch ein Bierchen auf den Tisch. Manchmal vergaß Ernst bei den angeregten Diskussionen die Zeit, selbst wenn die Kinder mit dort waren. Es waren schlimme Stunden für mich, wenn ich ungeduldig auf die Rückkehr wartete, doch zum Glück kamen sie immer heil zurück. Meine Töchter warteten brav im Auto, wenn ihr Stiefvater seine Patienten besuchte. Wenn er dann in einer Wirtschaft einkehrte, spielten sie draußen mit anderen Kindern, schüttelten im Mai Maikäfer vom Baum, die sie an die Hühner verfütterten, entdeckten einmal junge Kätzchen in einem Schuppen und wollten sie am liebsten mit nach Hause nehmen, tobten herum und kamen meist furchtbar schmutzig, aber bis auf immer mal aufgeschlagene Knie unversehrt und glücklich nach Hause.


Ricarda und Ellen mit dem neuen Papa

Während wir mit dem Umräumen für das neue Kind beschäftigt waren, starb ein Großonkel von Ernst. Seine kinderlose und mittellose Frau Alma konnte sich die Wohnung in Frankfurt nicht mehr leisten. Ernst telefonierte mit seinen Eltern und bot an, dass Tante Alma zu uns ziehen könnte. Ich war nicht begeistert von dieser Idee, hätte ich doch lieber meine Mutter oder Tante Lenchen oder beide zur Unterstützung gehabt, wenn mein drittes Kind geboren würde. Doch Tante Lenchen arbeitete nach wie vor im Baugeschäft, in dem es mehr denn je zu tun gab, und meine Mutter wollte keinesfalls von ihrem Haus und von Frankfurt wegziehen. Sie hatte auch die Kinder meiner Schwester Fränzi in der Nähe sowie meinen Bruder Wilhelm mit Familie. Eigentlich wurde ich nicht wirklich gefragt, denn Ernst hatte bereits entschieden und der Großtante lebenslanges Wohnrecht bei uns versprochen. Während alle Verwandten unsere uneigennützige Hilfsbereitschaft lobten, konnte ich mich nicht quer stellen. Tante Alma war eine bescheidene, freundliche ältere Dame und erwies sich als passender Omaersatz für die Kinder. Das versöhnte mich halbwegs mit dieser Entscheidung. Der Platz reichte für alle. Wir konnten ihr ein Zimmer mit kleiner Küche unter dem Dach neben der Dienstmädchenkammer einrichten, als die Mieter dort weggezogen waren. Trotzdem nervte mich die Frau, wenn sie Bemerkungen über unseren Lebensstil und mir damit ein schlechtes Gewissen machte oder wenn sie sich in die Erziehung der Kinder einmischte. Dann war ich manchmal unfreundlich zu Tante Alma, bloß damit sie mich in Ruhe ließ und sich beleidigt zurückzog.

Im Mai 1934 kam mein drittes Mädchen zur Welt. Ernst schien ein klein wenig enttäuscht zu sein, dass unser erstes gemeinsames Kind kein Stammhalter geworden war. Doch schnell fasste er sich und versicherte mir, wie glücklich er über unser „Dreimäderlhaus“ sei. Wir hatten lange nach einem passenden Namen gesucht und nannten die Kleine in Anlehnung an unsere Namen Ernst und Lore Ernelore. Ellen und Ricarda waren stolz auf ihr Schwesterchen. Ich war froh, dass alle gesund waren und unsere wichtigsten Frankfurter Familienmitglieder zur Taufe nach Zwenkau reisen konnten. Ernsts Eltern waren gekommen, Ernsts Schwester Elly und ihr Mann Adolf Melzner, ebenso sein Bruder August mit Familie aus Schwandorf. Meine Mutter mit Tante Lenchen sowie weitere Tanten und Cousinen vervollständigten die Reihe der auswärtigen Besucher. Meine Cousine Änne war mit ihrem Auto angereist. Etwas wehmütig dachte ich an unsere fröhlichen Basentreffen im Frankfurter Zwerchweg bei meiner Mutter, die jedes Jahr stattfanden, seit ich achtzehn Jahre alt war. Die Jacklowsky-Familie freute sich, Tante Alma wieder aufgelebt und mit lächelndem Gesicht zu erleben, auch wenn sie noch immer ihr langes schwarzes Trauerkleid trug. Sie hatte sich offensichtlich bei niemandem über unsere kleinen Zwistigkeiten beklagt. Ich war glücklich, dass sich die ganze Familie über die kleine Ernelore freute, aber auch stolz, den Verwandten Obermedizinalrat Dr. Wilhelm Wortmann als guten Freund präsentieren zu können. Es war eine gemütliche Feier bei herrlichem Wetter, die ich nicht hätte missen mögen. Aber die Aufregung ließ meine Gedanken nächtelang um alles kreisen, was geredet worden war, und ich fand nicht den Schlaf, den ich notwendig gebraucht hätte.

Bei aller Freude wurde mir schmerzlich bewusst, dass die Familie nur kurz zusammen sein konnte und meine Mutter ihre Enkeltöchter viel zu selten erleben durfte. Ich versprach ihr, dass Ellen und Ricarda in den Sommerferien nach Frankfurt fahren könnten. Meiner achtjährigen Großen traute ich zu, mit ihrer fünfjährigen Schwester allein mit der Bahn zu fahren. Wir brachten sie bis zum Zug im Leipziger Hauptbahnhof und meldeten die Kinder bei der Schaffnerin an. Ricarda bekam zudem noch ein Pappschild um den Hals, auf dem Namen und Adresse, unsere Telefonnummer sowie die Frankfurter Zielanschrift bei der Oma vermerkt waren. Das klappte alles prima und schon beim Verabschieden registrierten wir erleichtert, wie liebevoll sich die Erwachsenen im Abteil meiner Töchter annahmen.

Ellen und Ricarda genossen mit verschiedenen Cousins und Cousinen die Augusttage in Frankfurt-Sachsenhausen sehr. Im Garten meiner Mutter reiften die Zwetschgen und die Kinder aßen bis zum Platzen davon. Ricarda und ihr Cousin aßen einmal eine ganze Tüte „letzte Pflaumen“. Ellen war später hinzu gekommen, da war die Tüte leer. Sie war wütend auf ihre kleine Schwester und rannte heulend zu meiner Mutter. Doch die gelassene Oma sagte bloß zu meiner Großen: „Ärgere dich nicht. Dafür wirst du wunderbar schlafen und deine Schwester wird ihre Strafe bekommen, wenn der Bauch weh tut!“ Und richtig, Ricarda rannte in dieser Nacht häufig laut jammernd auf die Toilette…

Die kleine Ernelore gedieh prächtig. Ich leider auch. Nach der Schwangerschaft gelang es mir nicht abzunehmen. Verzweifelt beschloss ich, eine Schlankheitskur zu machen. Ich bestellte eine größere Lieferung Säfte und begann tapfer, statt fester Nahrung nur noch Saft zu trinken. Eines Tages kippte ich einfach um, zum Schrecken der Dienstmädchen und der Kinder. Ernst wurde aus der Praxis gerufen. „Ich hab ja gleich gesagt, dass das der größte Blödsinn ist, nichts Richtiges zu essen, und das als dreifache Mutter. Gebt der Frau ein ordentliches Schinkenbrot, dann wird sie ganz schnell wieder gesund!“ Nie hat mir etwas so gut geschmeckt wie dieses von Herrn Dr. Jacklowsky verordnete Schinkenbrot! Und tatsächlich ging es mir schnell wieder besser. Die Kinder durften sich an den Säften laben.

Doch bald wurde mir jeden Morgen übel – ohne Hungerkur. Ich war schon wieder schwanger. Ernst jubelte: Er wollte nun endlich einen Jungen!

Sie nannten mich Mimi

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