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1. KAPITEL – Kindheit in Frankfurt

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Meine Mutter Elisabeth Klenk, geborene Müller, war einundzwanzig Jahre jung, als ich am einunddreißigsten Oktober 1902 in Frankfurt am Main geboren und auf den Namen Eleonore Henriette getauft wurde. Gerufen wurde ich Lore. Mutter war das jüngste von acht Kindern des Bauunternehmers Johannes Müller. Jedem seiner Kinder hatte mein Großvater ein Haus geschenkt. In ihr Häuschen in Frankfurt-Sachsenhausen zog meine Mutter mit ihrem Mann ein, dem Kunstglaser Ludwig Franz Klenk. Sein Vater Wilhelm Klenk, mein Großvater, war Vertreter einer Großhandlung für Spiegelglas.

Im Untersten Zwerchweg, im Haus mit einem großen Garten, ließ es sich damals gut leben. Frankfurt-Sachsenhausen war eine ruhige Gegend. Über hundert Jahre später hat sich meine Enkelin das neue Haus auf diesem Grundstück angesehen: Wo meine Eltern noch aus dem Fenster auf ihr großes Spargelfeld und in den großzügigen Garten schauten, war 2013 alles dicht zugebaut und zugeparkt. Flugzeuge starteten und landeten mit ohrenbetäubendem Lärm im Minutenabstand direkt über den Häusern, dem nahen Goetheturm und dem herrlichen Naturspielplatz.

Meine Großmutter wohnte in ihrem eigenen Haus schräg gegenüber. Großvater Johannes war leider schon 1894 gestorben, acht Jahre vor meiner Geburt. Auch an die Oma kann ich mich kaum erinnern. Als sie im April 1905 mit nur vierundsechzig Jahren starb, war ich erst zweieinhalb Jahre alt. Doch zahlreiche Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins lebten in der Nähe und auf der anderen Seite des Mains in Frankfurt. Die Verwandten hielten zusammen und halfen sich gegenseitig. Ich habe mein Elternhaus und die regelmäßigen geselligen Zusammenkünfte mit Familie und Freunden als schön und fröhlich in Erinnerung. Bei uns wurde viel gefeiert, Musik gemacht und gelacht. Mit drei Jahren bekam ich einen Bruder: Wilhelm. Vier Jahre später wurde 1909 meine Schwester Franziska geboren, die wir Fränzi nannten.

Doch nach dem dritten Kind verkündete meine energische Mutter: „Jetzt ist für mich endgültig Schluss mit lustig! Soll er doch im Wirtshaus schlafen, wenn er dort das mühsam verdiente Geld versäuft!“ Eines Nachts ließ sie meinen Vater, der meine Mutter mehrfach betrogen hatte, nicht mehr ins Haus. Er heulte und schrie und bettelte und bot der Nachbarschaft ein grandioses Schauspiel. Meine Geschwister und ich waren von dem Lärm aufgewacht, krochen zusammen unter meine Bettdecke und weinten mit dem Vater mit. Am nächsten Tag packte meine Mutter die nötigsten Sachen und flüchtete mit uns drei Kindern in die Seilerstraße. Dort wohnte ihre Schwester Margarethe mit Ehemann Max Grebenstein.


Kinderbild von Lore ca. sieben Jahre, Bruder Wilhelm vier

Es dauerte nur wenige Tage, bis unser Vater uns dort suchte. Und wieder erlebten wir dieses Theater: Vater schrie, tobte, jammerte, forderte, bettelte und versuchte mit allen Mitteln, seine Frau zur Rückkehr zu bewegen. Aber Mutter gab nicht nach, auch wenn ihre Schwester Mitleid mit dem Schwager hatte und fragte, ob Elisabeth nicht zu hart sei und es nicht noch einmal mit dem Vater ihrer Kinder versuchen wolle. Doch Mutter sagte nur: „Ludwig, ich glaube deinen Versprechen nicht mehr. Du hast mich immer wieder enttäuscht. Deshalb ein für alle Mal – nein!“ So schickte sie meinen Vater weg. Ich fand das alles schrecklich und hatte zum Glück keine Ahnung, was ich selbst einst mit Männern erleben sollte.

Kurze Zeit später waren seine Schränke leer. Mein Vater war 1911 allein nach Amerika ausgewandert. Ich war damals neun, Wilhelm sechs und Fränzi erst zwei Jahre alt. Meine Mutter hatte die Trennung durchgesetzt, sich aber trotzdem nicht scheiden lassen. Sie kehrte in ihr Haus zurück und lebte allein mit uns drei Kindern weiter. Wir wurden unterstützt durch Tante Lenchen, ihre kinderlose Schwester. Sie war im Baugeschäft meines Großvaters Teilhaberin und sorgte dort für die Buchführung. Tante Lenchen, die eigentlich Magdalene hieß, war unsere gute Seele, die wir Kinder sehr liebten. Hausmusik und Verwandtentreffen veranstalteten meine Mutter und Tante Lenchen weiterhin und ich erinnere mich, welche Freude mir schon als Kind das gemeinsame Singen machte. An meinem neunten Geburtstag, dem ersten, den ich ohne meinen Vater feierte, brach Tante Lenchen ein Lied ab und brachte alle zum Lachen, als sie über sich selbst den Kopf schüttelte und sagte: „Also schee is was anneres! Lasst doch lieber mal die Lore allein singen, das Kind hat so eine schöne Stimme.“ Ich hatte ein hellgrünes Kleid zum Geburtstag bekommen und war stolz, außer dem Kleid nun auch meine Gesangskunst vorzuführen. Lenchen begleitete mich am Klavier und ich sang mein damaliges Lieblingslied „Ein Mops kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei…“ Den Beifall der versammelten Verwandten empfand ich als schönstes Geburtstagsgeschenk.

Mein Vater Ludwig nannte sich nun Louis Klenk und verdiente sein Geld weiterhin als Kunstglaser, aber im fernen New York, wo zahlreiche Auswanderer ihr Glück suchten. Ob er uns Unterhalt gezahlt hat, weiß ich nicht. Meine Mutter sprach nicht mehr von ihm. Wir sahen unseren Vater nie wieder. Allerdings schrieb er später manchmal Briefe an mich und andere Verwandte, nahm Anteil an der Entwicklung des Baugeschäftes, für das er wohl selbst gern wieder gearbeitet hätte. Erst 1936 kehrte er zurück in seine Heimat – in einer Urne auf den Frankfurter Südfriedhof.

Die Verwaltungsgebäude dieses Friedhofs hatten ihren Ursprung im Baugeschäft meines Großvaters, wie noch etliche andere wichtige Bauwerke der Stadt Frankfurt, die aus der Gründerzeit stammen. Auf diese familiengeführte Firma waren wir alle sehr stolz. Tante Lenchen nahm uns Kinder manchmal mit in das mehrstöckige Eckhaus in der Darmstädter Landstraße. Wenn wir in die erste Etage stiegen, wo sich das Büro befand, blieben wir gern am Treppenfenster stehen und bestaunten die Züge, die zum nahen Lokalbahnhof fuhren. Mehr noch als die Zeichenbretter im Büro, an denen zahlreiche Frankfurter Gebäude entstanden, beeindruckte uns Onkel Schorsch, der Chef. Die Angestellten schienen ihn zu fürchten, doch wir Kinder bekamen immer ein Stück Schokolade von ihm und Malpapier, auf dem wir selbst mehr oder weniger schöne Häuser zeichneten.

Als Elfjährige beeindruckte mich der zehnte März 1913. Frankfurt feierte mit reichem Flaggenschmuck ein Jubiläum: Hundert Jahre Nationalversammlung in der Paulskirche und den Beginn der Befreiungskriege gegen Napoleon. Das Beste daran war, dass wir schulfrei hatten und die große Parade auf dem Opernplatz ansehen durften. Wie schlugen unsere Mädchenherzen mit patriotischen Gefühlen, obwohl wir die geschichtlichen Zusammenhänge überhaupt nicht begriffen. Gern wäre ich am Abend mit zur Gedenkfeier in die Paulskirche gegangen und hätte die Auftritte des Frankfurter Männergesangvereins und der vereinigten Kirchenchöre erlebt. Es gab für mich nichts Schöneres als die Gemeinschaft eines Chores – das hat mich für mein Leben geprägt. Ein Höhepunkt war stets, wenn Mutter, Tante Lenchen und weitere Verwandte mit uns größeren Kindern Liederabende oder Konzerte im Saalbau besuchten. Dort in der Junghofstraße betrieb die Frankfurter Museumsgesellschaft einen riesigen Konzertsaal, der mit seiner wunderbaren Akustik die Zuhörer beeindruckte. Da träumte ich mich oft in die Rolle einer schön angezogenen Sängerin, die mit ihrem Charme und ihrer herrlichen Stimme das Publikum bezaubern konnte.

Bei uns zu Hause ging weiterhin die sogenannte „Bessere Gesellschaft“ aus und ein. Wir trafen uns zur Hausmusik und zu vielen Festen in unseren Häusern sowie in einer nahen Klubgaststätte. Im Weltkrieg wurde es ruhiger und die Euphorie bei Kriegsausbruch wich bald der Sorge um Söhne und Väter an der Front. So waren „Kriegspfingsten“ und der traditionelle „Wäldchestag“ im Mai 1915 sehr stille Feste ohne die beliebte Musik. Auch die Jahreswechsel im Krieg waren sehr still und ohne Feuerwerk, begleitet von Gebeten für Frieden im Neuen Jahr.

Ich bin meiner Mutter und Tante Lenchen heute noch dankbar, dass sie mir sogar in dieser Zeit eine niveauvolle musikalische Ausbildung ermöglichten. Mit Begeisterung übte ich in jeder freien Minute, spielte Gitarre und sang Opernarien. Oft hörten meine Geschwister andachtsvoll zu. Dabei konnten wir sogar das gegen Ende des Krieges immer spärlicher geheizte Haus und den häufig knurrenden Magen vergessen.

Doch wir überstanden die Kriegsjahre 1914 bis 1918 weitgehend unbeschadet. Meine Mutter musste ja schon vorher ohne Mann auskommen und wir Kinder waren zum Glück noch zu jung für einen Kriegseinsatz. Im März 1915 bestaunten wir, wenn wir mit der Straßenbahn zu einem Verwandtenbesuch fuhren, die ersten Frauen als Schaffnerin mit ihren feschen Trambahnermützen! Immer mehr Frauen mussten die Männer ersetzen, die an der Front für unser Vaterland kämpften.

Meine Mutter Elisabeth war praktisch veranlagt und konnte aus allem etwas herstellen. Sie nähte gern und putzte ihre Kinder heraus. Jedes Jahr zum privaten Faschingsfest (solche Feste ließ sich unsere Familie auch in schweren Zeiten nicht nehmen – zumindest in den ersten beiden Kriegsjahren und später in der Nachkriegszeit!) bekamen wir neue Kostüme – und wenn als Stoff eine alte Tischdecke daran glauben musste. Das Nähen habe ich von ihr gelernt, ebenso Kochen und Backen mit einfachsten Zutaten. Ich lernte, was man aus dem Garten und dem nahen Wald zum Essen verwerten konnte: Außer Obst und Gemüse zahlreiche Kräuter, Pilze, Beeren, aber auch Giersch, Rübenblätter und Brennnesseln. Diese Fähigkeiten sollten sich später für meine Kinder und mich als lebensnotwendig erweisen.

Sie nannten mich Mimi

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