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3. Die Niederlage von 1918
ОглавлениеIm November 1918, nach mehr als vier Jahren in den Schützengräben, lag Adolf Hitler in einem Lazarett weit von der Front entfernt, durch einen Gasangriff vorübergehend erblindet. Noch rekonvaleszent, erfuhr er von Deutschlands Kapitulation und dem Sturz des Kaisers. „Während es mir um die Augen wieder schwarz ward“, schrieb er später, „tastete und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und Kissen.“ Er fuhr fort:
Es war also alles umsonst gewesen. Umsonst all die Opfer und Entbehrungen, umsonst der Hunger und Durst von manchmal endlosen Monaten, vergeblich die Stunden, in denen wir, von Todesangst umkrallt, dennoch unsere Pflicht taten, und vergeblich der Tod von zwei Millionen […]. Sanken dafür diese Knaben von siebzehn Jahren in die flandrische Erde? War dies der Sinn des Opfers, das die deutsche Mutter dem Vaterlande darbrachte, als sie mit wehem Herzen die liebsten Jungen damals ziehen ließ, um sie niemals wiederzusehen? (Adolf Hitler, Mein Kampf, S. 223f.)
Wie viele andere in Deutschland, hatte Hitler Mühe, eine Erklärung für Deutschlands scheinbar plötzlichen Zusammenbruch zu finden. Wie hatte alles so schnell und so gründlich fehlschlagen können?
Die Niederlage war umso rätselhafter, als erst wenige Monate zuvor, im Frühjahr 1918, der Sieg für den Kaiser zum Greifen nahe gewesen zu sein schien. Nach einem jahrelangen Patt hatte der Krieg damals eine plötzliche Wende zugunsten Deutschlands genommen. Anfang 1917 hatten die Deutschen beschlossen, einen uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu führen – was Angriffe auf zivile Schiffe einschloss –, und deutsche U-Boote versenkten monatlich im Schnitt mehr als eine halbe Million Tonnen Schiffsraum mit Nachschub für Großbritannien. Die Amerikaner waren daraufhin im April 1917 in den Krieg eingetreten, aber die Mobilmachung verlief schleppend. Die alliierten Truppen waren kriegsmüde, und weitverbreitete Meutereien im französischen Heer, an denen sich bis zu 40.000 Mann beteiligten, zeigten nur allzu deutlich, wie brüchig die Moral war.
Im Oktober 1917 ermöglichten deutsche Verstärkungen der österreichisch-ungarischen Armee bei Caporetto einen großen Sieg: In der Zwölften Isonzoschlacht (auch Schlacht von Karfreit) kapitulierten 265.000 Italiener und 400.000 flohen ungeordnet, während die nachsetzenden Streitkräfte in gerade mal zwei Tagen 80 Kilometer vorrückten.
Am wichtigsten war, dass die Oktoberrevolution und die Auflösung der zaristischen Armee Russland aus dem Krieg nahmen. Dies ermöglichte den Deutschen, gewaltige Truppenkontingente zu verlegen – ihre Streitkräfte an der Westfront wuchsen von 3,25 Millionen bis April 1918 auf mehr als vier Millionen an. Paul von Hindenburg, ein unerschütterlicher General, der als Symbolfigur der deutschen Kriegsanstrengungen den Kaiser wirkungsvoll vertrat und der, nachdem er aus dem Ruhestand zurückgeholt worden war, in den ersten Kriegsmonaten spektakuläre Siege an der Ostfront errungen hatte, und Erich Ludendorff, Erster Generalquartiermeister und tatsächlich die treibende Kraft hinter diesen Siegen, beschlossen gemeinsam, Kapital aus Deutschlands starker Position zu schlagen und einen letzten, überwältigenden Angriff auf die alliierten Armeen im Westen zu starten.
Beim Unternehmen Michael, wie die Operation genannt wurde, kamen neue und höchst wirkungsvolle Artillerie-Taktiken zum Einsatz: zunächst wurden feindliche Geschütze und Befehlsstände anvisiert, bevor dann eine „Feuerwalze“ den Gegner zwang, in Deckung zu bleiben, bis die unmittelbar hinter den Geschützeinschlägen vorrückende Infanterie der Deutschen die feindlichen Stellungen beinahe erreicht hatte. Mit einer Überlegenheit an Männern und Geschützen von mehr als zwei zu eins starteten die Deutschen ihren Angriff am 21. März 1918 und feuerten am ersten Tag mehr als drei Millionen Schuss ab. Zusammen mit Geschützstellungen wurden bei diesem größten Artilleriebeschuss des Krieges alliierte Befehlsstände noch etwa 50 Kilometer hinter der Front schwer getroffen. Als die deutsche Infanterie dann die alliierten Gräben stürmte, wobei ihr Vormarsch stellenweise durch dichten Nebel verborgen geblieben war, wurden Briten und Franzosen entlang eines 80 Kilometer breiten Frontabschnitts zurückgedrängt. Zu so hohen Verlusten, wie beide Seiten zu verzeichnen hatten, war es an keinem Tag zuvor im Ersten Weltkrieg gekommen.
Am 9. April war ein zweiter großer deutscher Angriff weiter nördlich ebenso erfolgreich, dem sich ein Vorstoß auf Paris anschloss, was Panik in der Stadt auslöste. In einem relativ kurzen Zeitraum war damit die lange währende Pattsituation an der Westfront aufgehoben. Die militärische Führung der Alliierten war traumatisiert, und bis Ende Juni feierten Hindenburg und Ludendorff noch eine Reihe weiterer überwältigender Siege. Wie hatte es also dazu kommen können, dass nun, kaum mehr als drei Monate später, die deutschen Führer plötzlich um Frieden ersuchten?
Eine erste Erklärung hat mit dem militärischen Geheimdienst zu tun. Beide Seiten bedienten sich in den Jahren von 1914 bis 1918 traditioneller Methoden: Man erhielt Informationen von Kriegsgefangenen sowie aus erbeuteten Dokumenten und Ausrüstungsstücken, behielt die feindliche Frontlinie sorgfältig im Auge und entsandte Spione, die Nachrichten hinter den feindlichen Linien sammeln sollten. Die Luftaufklärung spielte ebenso eine Rolle wie das Abhören von Telefonen und zunehmend auch das Abfangen von Funksprüchen, die gegebenenfalls entschlüsselt wurden. Obwohl sie die Frühjahrsoffensive nicht vorausgesehen hatten, waren die Alliierten auf den abschließenden deutschen Angriff am 15. Juli daher gut vorbereitet. Die Deutschen hingegen richteten nie ein wirkungsvolles Spionagenetz hinter den alliierten Linien ein, konnten alliierte Nachrichten nicht entschlüsseln und wurden leicht Opfer von Täuschungen und Finten.
Zweitens beherrschten die Alliierten inzwischen den Luftraum, und das bis weit hinter die Frontlinien. Im Jahr 1916 hatte Flakfeuer die Deutschen zwar zunächst dazu veranlasst, die Angriffe auf London einzustellen, aber sie hatten daraufhin große Bomber entwickelt wie die Gothas und den Zeppelin-Staaken R. VI, einen viermotorigen Doppeldecker und mit 42,2 Metern Flügelspannweite ein wahres Monster, das so solide gebaut war, das keine einzige Maschine jemals abgeschossen wurde. Diese Riesenflugzeuge hatten 1917 beträchtlichen Schaden angerichtet und bis zu eine Viertelmillion Londoner gezwungen, jede Nacht in der U-Bahn Schutz zu suchen. Noch im Mai 1918 hatten 43 deutsche Bomber London angegriffen, aber dies sollte ihr letzter großer Angriff gewesen sein: Die Rohstoffknappheit in Deutschland war so gravierend geworden, dass neue Flugzeuge nicht in ausreichender Stückzahl gebaut werden konnten, und jene, die gebaut wurden, waren schlampig konstruiert und versagten oft. Auch von den kostspieligen Zeppelin-Staaken R. VI wurden insgesamt nur 18 Stück gebaut, und so produzierten die Alliierten spätestens im Sommer 1918 viel mehr Flugzeuge als die Deutschen. Die von Briten und Franzosen unterdessen begonnenen Bombenangriffe gegen das Rheinland blieben dennoch recht erfolglos, waren nicht wirklich effektiv oder wurden von den Deutschen abgewehrt. Im letzten Kriegsjahr warfen die Briten 665 Tonnen Bomben ab, von denen ein großer Teil sein Ziel verfehlte. Die wirkliche Bedeutung des Luftkrieges lag daher an der Front, in Italien ebenso wie in Frankreich und Belgien. Spätestens Mitte 1918 hinderte die dortige Luftüberlegenheit der Alliierten deutsche Aufklärungsflugzeuge daran, viel über gegnerische Angriffsvorbereitungen herauszufinden, während die Alliierten selbst sich präzise Informationen über feindliche Stellungen verschafften.
Dazu verschob sich das Kräftegleichgewicht im Gaskrieg. Nur wenige Statistiken, die David Stevenson in seinem Buch über die Kriegführung im Jahr 1918 mit dem Titel With Our Backs to the Wall (London 2011) anführt, sind so eindrucksvoll wie jene, die das Giftgas betreffen. Die Deutschen setzten an der Westfront 52.000 Tonnen Gas frei, doppelt so viel wie die Franzosen und dreieinhalbmal so viel wie die Briten. Dabei töteten oder verwundeten sie 300.000 Soldaten, während sie selbst „nur“ 70.000 Mann durch gegnerische Gasangriffe verloren. Die Deutschen produzierten 1918 fast 20 Millionen Gasgranaten; die Hälfte oder mehr der beim Unternehmen Michael abgefeuerten Granaten enthielten chemische Kampfstoffe. Bis zum Ende des Frühjahrs hatten die Briten allerdings nicht nur eine wirkungsvolle Gasmaske entwickelt, vielmehr verbreitete ihr eigener neuer und schneller „Livens projector“ – eine mörserartige Waffe, die große, mit Chemikalien gefüllte Gasflaschen verschoss – Angst und Schrecken unter deutschen Soldaten, deren Masken sich als nutzlos erwiesen, zumal sie ohnehin aufgrund der Gummiknappheit nicht in ausreichender Stückzahl hergestellt wurden. Auch die Alliierten produzierten massenweise Gas, und das Wissen darum war ein weiterer Faktor, der die Deutschen zum Frieden bewegte.
Bis zum Sommer 1918 hatten die Alliierten außerdem ihre Angriffstaktiken geändert. Sie setzten nun die Artillerie nicht mehr ein, um lokalisierte feindliche Stellungen zu vernichten, sondern um sie zu neutralisieren, schossen die Stacheldrahtverhaue in Fetzen, legten einen Feuervorhang hinter die feindlichen Stellungen, um Verstärkung zu verhindern, und setzten dann mobile Einheiten ein, um sie zu umgehen und zu überraschen. Inzwischen kamen auch Panzer in großer Zahl zum Einsatz, obwohl sie sich nur in Schrittgeschwindigkeit fortbewegten und ihnen schon nach 25 Kilometern der Treibstoff ausging. Auch wenn Panzer oft versagten und durch Artilleriefeuer leicht zu zerstören waren, lösten sie unter deutschen Soldaten Panik aus, und im Jahr 1919 nannte Ludendorff die Aussicht, mit Tausenden von ihnen rechnen zu müssen, als Hauptgrund für sein Waffenstillstandsgesuch, hatten die Deutschen auf diesem Gebiet doch allzu weit hinten gelegen.
Auch wirtschaftlich erwiesen sich die Alliierten letzten Endes als stärker als die vereinte Produktionsmacht von Deutschland und Österreich-Ungarn sowie der Verbündeten Türkei und Bulgarien. Die Franzosen produzierten gewaltige Mengen an Rüstungsgütern und belieferten die American Expeditionary Force, das US-Expeditionskorps in Europa, mit beinahe allem Erforderlichen, während die Briten sowohl auf Ressourcen des Empire als auch auf Produktionsstandorte auf den Britischen Inseln zurückgreifen konnten. Doch es waren die Amerikaner, die über die bei Weitem leistungsstärkte Wirtschaft verfügten, und der US-Nachschub an Lebensmitteln, Stahl, Waffen, Munition und Ausrüstung war für die Alliierten in der Schlussphase des Krieges entscheidend.
Die beste Chance für die Deutschen lag darin, amerikanischen Schiffsraum im Atlantik zu versenken und damit zu verhindern, dass Männer und Nachschub Großbritannien erreichten. Die Briten probierten viele Methoden aus, um Schiffe vor U-Booten zu schützen. So bewaffneten sie Handelsschiffe oder camouflierten deren Umrisse mit einem geometrisch gemusterten „Tarnanstrich“. Aber mit Abstand am wirksamsten war das Konvoi-System: Schiffe, die in Verbänden fuhren und von Aufklärungsballons und mit Wasserbomben bewaffneten Zerstörern begleitet wurden, waren nur unter beträchtlichen Risiken zu versenken. Zumal U-Boote zu der Zeit noch keine echten Unterseeboote waren – sie hatten keinen Luftvorrat, konnten nur für recht kurze Zeitspannen unter Wasser bleiben und waren daher relativ leicht zu entdecken und zu versenken. Am Ende waren sie einfach nicht zahlreich genug, als dass sie einen entscheidenden Sieg hätten erringen können. Zu viele versagten oder wurden beschädigt und mussten sich zur Reparatur zurück in den Hafen retten. Zudem gab es auch nicht genug ausgebildete Besatzungen, um sie zu bemannen. Pläne für eine enorme Steigerung des U-Boot-Baus kamen zu spät, um etwas zu bewirken.
Dabei stellte die deutsche Regierung schon so viele Ressourcen wie möglich für die Rüstung und verwandte Industrien ab, sodass sie Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung vernachlässigte. Die alliierte Blockade stoppte zudem die dringend notwendigen Agrarimporte, weshalb 1918 etwa die Sterblichkeit unter Frauen in Deutschland fast um ein Viertel höher lag als vor dem Krieg. Die durch Mangelernährung geschwächten Frauen erlagen Lungenentzündungen und der Tuberkulose. Die Rationen lagen unter dem lebensnotwendigen Minimum, es entstand ein riesiger Schwarzmarkt, und im Winter 1915/16 erschütterten von Frauen und Kindern angeführte Lebensmittelkrawalle die Großstädte. Der nächste Winter, in Deutschland wegen des Ausfalls der Kartoffelernte allgemein als „Steckrübenwinter“ bekannt, war noch schlimmer. Schätzungsweise mehr als eine halbe Million deutscher Zivilisten starb an Unterernährung und damit zusammenhängenden Krankheiten. Diese Mangelsituation führte auch zu einer sinkenden Produktivität in kriegswichtigen Industrien.
Noch schlimmer waren die Zustände in Österreich-Ungarn, wo Soldaten nicht nur durch Hunger geschwächt waren, als die Italiener 1918 ihren abschließenden, erfolgreichen Angriff starteten, sondern auch mit kaum etwas am Leibe an der Front eintrafen und sich selbst mit den Uniformen der vor ihren Augen Gefallenen ausstatten mussten. Am schlimmsten war die Lage in Bulgarien, wo nur amerikanische Getreidelieferungen nach dem Waffenstillstand einen massenhaften Hungertod abwenden konnten. Nicht zuletzt diese Ereignisse sollten Hitler später dazu veranlassen, die Eroberung der Ukraine als Europas „Brotkorb“ zum zentralen Kriegsziel der Nationalsozialisten zu erklären. Und tatsächlich hungerten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg nicht wie im Ersten – stattdessen ließen sie Millionen Osteuropäer hungers sterben.
In der Endphase des Ersten Weltkriegs aber beeinträchtigten Unterernährung und Krankheit den Zustand der neuen deutschen Rekruten erheblich. Hitler erinnerte sich: „Der aus der Heimat kommende Nachschub wurde [im August und September 1918] rapid schlechter und schlechter, so daß sein Kommen keine Verstärkung, sondern eine Schwächung der Kampfkraft bedeutete. Besonders der junge Nachschub war zum großen Teil wertlos. Es war oft nur schwer zu glauben, daß dies Söhne desselben Volkes sein sollten, das einst seine Jugend zum Kampf um Ypern ausgeschickt hatte“ (Mein Kampf, S. 219).
Die deutsche Frühjahrsoffensive hatte zu viele Menschenleben gekostet. Allein im April 1918 wurden 54.000 Soldaten als gefallen oder vermisst gemeldet, und 445.000 mussten verwundet oder krank vom Dienst freigestellt werden. Im Juli war die Zahl der Männer im Feld um 883.000 niedriger als im März, und die meisten Einheiten kamen nicht mehr auf ihre volle Truppenstärke.
Eine genaue Untersuchung der Sanitätsdienste und ihrer Einsätze steht nach wie vor aus. Schützengrabenfieber, Typhus, Gasbrand und viele andere, oft tödliche Infektionen traten mit zunehmender Dauer des Krieges häufiger auf und dürften Kampfkraft und -moral zusätzlich geschwächt haben. Es wäre interessant, eine Einschätzung darüber zu bekommen, welche Seite besser damit fertigwurde.
Im Anfangsstadium des Krieges machten 18-bis 20-Jährige zehn Prozent der deutschen Todesopfer aus; 1918 lag die Zahl bei fast 25 Prozent. Unerfahren und schlecht ausgebildet, waren sie vom Scheitern der Frühjahrsoffensive demoralisiert. Alles wurde noch schlimmer durch die dürftigen Rationen, die Erich Maria Remarque in seinem Roman Im Westen nichts Neues anschaulich schildert. Von Mai an begann die Disziplin zusammenzubrechen, und von Juli an stiegen die Zahlen derjenigen, die desertierten oder sich gefangen nehmen ließen – insgesamt 34.000, beinahe so viele, wie im selben Zeitraum durch Feindeinwirkung oder Krankheit umkamen. Ihre Stimmung wurde nicht zuletzt durch Millionen von Propaganda-Flugblättern gedämpft, die aus alliierten Ballons oder Flugzeugen über den deutschen Linien abgeworfen wurden und jedem, der sich ergab, gute Verpflegung und behagliche Quartiere versprach.
Ganz anders erging es den alliierten Streitkräften. Als sie den deutschen Vorstoß zunächst abrupt stoppten und ihn dann zurückschlugen, fassten sie zum ersten Mal frischen Mut, der im Laufe des Sommers durch das Eintreffen großer amerikanischer Truppenkontingente noch verstärkt wurde. Spätestens im November waren die Mittelmächte den Alliierten an der Westfront im Verhältnis von beinahe eins zu zwei unterlegen.
Neben dem möglichen Einsatz einer gewaltigen Panzerarmee war es dieses wachsende zahlenmäßige Missverhältnis, das Ludendorff am meisten Kopfzerbrechen bereitete und ihn veranlasste, die Frühjahrsoffensive zu starten. Stevenson hält diese Entscheidung wie auch die Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges gut ein Jahr zuvor für einen Kardinalfehler: Im Ersten Weltkrieg war Angriff selten die beste Verteidigung. Bei mutigerer und klügerer Führung hätte das Reich die Amerikaner möglicherweise davon abhalten können, in den Konflikt einzutreten. Aber Kaiser Wilhelm II. war dafür zu unberechenbar, und in der militärischen Krise hatten die Generäle ohnehin die politische Führung beiseitegeschoben und übten über die stellvertretenden Generalkommandos selbst die vollziehende Gewalt aus. Stevenson vermutet, dass Deutschland sogar nach dem Kriegseintritt der USA einen Separatfrieden noch hätte schließen können, hätte es Wilsons Vierzehn-Punkte-Programm akzeptiert, und dass es die Alliierten hätte zwingen können, sich zu arrangieren, indem es mit den aus dem siegreichen Osten verlegten Truppen an der Westfront ausharrte. Alternativ dazu hätten die Deutschen, wenn sie denn schon zum Angriff entschlossen waren, besser daran getan, ihre Feuerkraft gegen britische Nachschublinien in Nordwestfrankreich zu richten, statt einen ausgewachsenen Frontalangriff im Zentrum zu starten. Aber Ludendorff jagte selbst 1918 noch der Illusion des totalen Sieges nach.
Die Schuld an diesen Versäumnissen gibt Stevenson der Neigung Deutschlands, „von Hybris erfüllten schrecklichen Technokraten, übermäßigen Einfluss“ zuzugestehen, „die unzureichend von Politikern gebremst wurden, deren Urteile, wenn auch fehlerhaft, im Allgemeinen besser waren, die sich aber auf den Kaiser nicht verlassen konnten“. Aber Ludendorff war nicht bloß ein Technokrat: Er war ein höchst politischer General. Er verabscheute die Demokratie und hielt die Sozialisten – die größte politische Gruppierung in Deutschland, auch wenn sie inzwischen gespalten waren – für Verräter. Sein Chef der Abteilung II im Generalstab, der Artillerieexperte Max Bauer, verbrachte allerdings seine freie Zeit mit der Abfassung eines weitschweifigen Traktats, in dem er sich für Polygamie aussprach und den Krieg als den höchsten Ausdruck des männlichen Drangs, die Welt durch „Detumeszenz“, wie er es nannte, zu beherrschen. Ludendorff war ein moderner General, folgte aber auch einer modernen Form der Politik, die zu Recht als proto-faschistisch bezeichnet werden könnte.
Im August 1918, während eines alliierten Überraschungsangriffs bei Amiens, „ergaben sich“ deutsche Soldaten, alliierten Beobachtern zufolge, „freiwillig und in großer Zahl ohne ernsthaften Kampf“. Wie Stevenson feststellt, fürchtete Ludendorff allmählich, dass, wenn das so weiterginge, „bei der Unterdrückung im Innern auf die Armee kein Verlass mehr wäre“. Ihn „reizte der Plan, die Regierung zu erweitern und damit die Schuld jenen in die Schuhe zu schieben, die so lange gegen die Kriegsanstrengungen agitiert hatten“. Natürlich wäre dies nur ein vorübergehender Notbehelf: Sobald der Friede unterzeichnet wäre, würde das alte Regime an die Macht zurückkehren. Im Oktober wurde eine quasi-demokratische Regierung eingesetzt, an deren Spitze der liberale Prinz Max von Baden stand und die von den Mehrheitsparteien im Reichstag gestützt wurde. Ludendorff erklärte, er wolle den U-Boot-Krieg unbedingt fortsetzen, aber die neue Regierung erzwang seine Entlassung, indem sie selbst mit Rücktritt drohte – eine genaue Umkehrung jener Taktik, durch die der ehemalige Generalquartiermeister von früheren Regierungen bekommen hatte, was er wollte. Prompt begannen die Waffenstillstandsverhandlungen.
Als bekannt wurde, dass Deutschland um Frieden ersuchte, zeigte das kaiserliche Heer Auflösungserscheinungen, und die Soldaten traten einfach den Heimweg an. In Kiel befahl die Seekriegsleitung der Hochseeflotte auszulaufen, um mit einem letzten Angriff auf die Royal Navy ihre Ehre zu retten, die arg kompromittiert war, weil die Flotte während des Krieges die meiste Zeit im Hafen gelegen hatte. Wie zu erwarten, erhoben sich die Matrosen, verhafteten ihre Offiziere und fingen an, Arbeiter- und Matrosenräte zu bilden: Die deutsche Revolution hatte begonnen. Sie führte binnen Kurzem zur Abdankung des Kaisers und zur Bildung eines revolutionären „Rates der Volksbeauftragten“, der nach ein paar Monaten der demokratischen Weimarer Republik den Weg ebnete. Die neue Regierung sah sich, wie Ludendorff gehofft hatte, gezwungen, den Versailler Vertrag zu unterschreiben, der weithin als nationale Demütigung empfunden wurde. Kurz danach, im März 1920, versuchte das alte Regime ein Comeback, mit schwer bewaffneten Soldaten, reaktionären Politikern und Bürokraten, die in Berlin vorübergehend die Macht übernahmen, nur um schmachvoll durch einen Generalstreik besiegt zu werden. Ludendorff beteiligte sich 1923 an dem von Adolf Hitler und seiner noch in den Anfängen steckenden NSDAP geführten und gleichfalls erfolglosen Putsch im Bürgerbräukeller.
In den alliierten Ländern herrschte allgemeiner Jubel über den Sieg. Dies, so glaubte man, war der Krieg gewesen, der alle weiteren Kriege verhindern würde, doch die Eingeweihten waren sich da nicht so sicher. Am Tag, als der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, sagte die Tochter des französischen Staatschefs Georges Clemenceau zu ihrem Vater: „Sag mir, Papa, dass du glücklich bist.“ – „Ich kann es nicht sagen“, erwiderte Clemenceau, „weil ich es nicht bin. Es wird alles zwecklos sein.“ Und genau so war es.
David Stevensons Darstellung dieser Ereignisse ist, obwohl sie nur wenige Zitate und nur merkwürdig blutleere biografische Skizzen liefert, maßgeblich und fesselnd, weil sie einen Eindruck davon vermittelt, wie Menschen den Krieg erlebt haben. Als Hitler in seinem Lazarettbett lag und sich bemühte, eine Erklärung für die Niederlage Deutschlands zu finden, gelangte er – nach seiner Darstellung in Mein Kampf – offenbar blitzartig zu der Überzeugung, Deutschland sei eigentlich gar nicht besiegt worden. Stattdessen seien jüdische Revolutionäre an der Heimatfront seinen siegreichen Armeen in den Rücken gefallen. Von Verrätern geschürte Streiks und Demonstrationen hätten die Kriegsanstrengungen untergraben und schließlich zunichtegemacht. „Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder- Oder“, folgerte er daraus. „Ich aber beschloß, Politiker zu werden“ (Mein Kampf, S. 225).
Wie vieles andere in Mein Kampf simplifizierte diese Aussage eine komplexere Situation, und es sollten noch viele Drehungen und Wendungen folgen, bevor Hitler im darauffolgenden Jahr als rechter Politiker in Erscheinung trat. Aber schon lange bevor er an die Macht kam, hatte Hitler es zu seiner Mission gemacht, den Ersten Weltkrieg noch einmal auszufechten, diesmal mit einem anderen Ende. Der „Geist von 1914“, die mythische nationale Gemeinschaft aller Deutschen zur Unterstützung des Vaterlandes, würde im „Dritten Reich“ wiedererschaffen und die Feinde Deutschlands, die Juden, würden vernichtet werden. Und beim nächsten Mal würde Deutschland kämpfen bis zum bitteren Ende.