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Vorwort

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Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat sich unser Verständnis des nationalsozialistischen Deutschlands auf vielfache Weise gewandelt. Diese Aufsatzsammlung bietet sowohl einen Überblick über diesen Wandlungsprozess als auch einen kritischen Kommentar dazu. Es hat im Laufe der letzten 15 Jahre mehrere bedeutende Perspektivwechsel gegeben, die Forschung und Literatur angeregt haben. Den ersten Perspektivwechsel in der Geschichtswissenschaft brachten die Globalisierungsprozesse in Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert mit sich, die auch eine veränderte Wahrnehmung des Nationalstaats zur Folge hatten. So wird das „Dritte Reich“, das oftmals vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte seit Bismarck und der nationalstaatlichen Einigung im 19. Jahrhundert gesehen wird, heute zunehmend in einem weiter gefassten internationalen, ja sogar globalen Kontext als Teil des imperialistischen Zeitalters betrachtet und sein Drang nach Errichtung von Vorherrschaft in eine umfassendere Tradition des deutschen Weltmachtstrebens eingeordnet. So kann beispielsweise die vernachlässigte Rolle von Lebensmittelversorgung und Lebensmittelknappheit im Zweiten Weltkrieg nur auf globaler Ebene verstanden werden, stützte sich doch die NS-Politik in Osteuropa in hohem Maße auf Hitlers Vorstellung von der amerikanischen Besiedlung der great plains. Und Firmen wie Krupp und Volkswagen waren nie ausschließlich deutsche Unternehmen, sondern sie operierten weltweit. Auch der Nationalsozialismus insgesamt erscheint in jüngeren Forschungsarbeiten als eine Ideologie, die sich aus internationalen Quellen speiste, von russischen bis französischen, von italienischen bis zu türkischen, und nicht mehr als Kulminationspunkt ausschließlich deutscher intellektueller Traditionen.

Immer häufiger sehen Historiker sogar in der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten inzwischen kein einmaliges historisches Ereignis mehr, sondern einen Völkermord mit Parallelen und Ähnlichkeiten in anderen Ländern und zu anderen Zeiten. Auch hier hat dieser Perspektivwechsel zu Erkenntnisgewinnen geführt, aber er verursacht auch zunehmend Interpretationsprobleme, die einige der Aufsätze in diesem Buch zu identifizieren suchen. Dies gilt noch stärker für ein weiteres Feld der jüngeren Forschung, nämlich die Arbeiten, die sich mit der NS-Gesellschaft befassen. Im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrzehnte hat sich bei einer wachsenden Zahl von Historikern der Eindruck verfestigt, dass es sich beim nationalsozialistischen Deutschland um ein politisches System handelte, das nicht auf Polizeiterror und Zwang beruhte, sondern auf Billigung und Zustimmung in breiten Schichten der Bevölkerung. Mehrere der Aufsätze in diesem Buch ziehen ein kritisches Fazit aus diesen Arbeiten und halten dagegen, dass bei allen Erkenntnisfortschritten, die sie gebracht haben, die Zeit gekommen ist, sich daran zu erinnern, dass das nationalsozialistische Deutschland eine Diktatur war, in der Bürgerrechte und Freiheiten unterdrückt und Gegner des Regimes nicht geduldet wurden. Die Repression richtete sich nicht nur gegen gesellschaftliche Außenseiter, sondern auch gegen weite Teile der Arbeiterschaft und ihre politischen Vertreter. Auch prominente Juden in der Weimarer Republik, insbesondere Walther Rathenau, waren keine verachteten Randfiguren, sondern erfreuten sich enormer Unterstützung und Bewunderung der breiten Massen, die in der landesweiten Welle der Trauer über seinen Tod zum Ausdruck kamen. Man darf nicht vergessen, dass der Nationalsozialismus bis zum Ende der 1920er-Jahre eine Randerscheinung war. Doch sobald das Regime 1933 an die Macht gekommen war, unternahm es gewaltige Anstrengungen, um die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten zu gewinnen, und Gewalt spielte dabei eine ebenso große Rolle wie Propaganda. Auch Hitler und die Verbreitung seines Bildes beim deutschen Volk waren dabei zentral, und die neuere Forschung hat unser Wissen über den Mann hinter dem Bild und unser Verständnis vom „Dritten Reich“ erheblich vorangebracht.

Doch der vielleicht bemerkenswerteste Wandel in historischen Arbeiten über das nationalsozialistische Deutschland seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ist die zunehmende Verflechtung von Geschichte und Erinnerung. Es ist heute fast unmöglich, über das „Dritte Reich“ in den Jahren von 1933 bis 1945 zu schreiben, ohne zugleich darüber nachzudenken, wie die Erinnerung daran in den Nachkriegsjahren oftmals auf komplexe und erstaunliche Weise überdauert hat. Die Aufsätze in diesem Buch gehen der Frage nach, wie prominente Industrieunternehmen und einzelne Geschäftsleute, die, manchmal sehr stark, in die Verbrechen des Nationalsozialismus verwickelt waren, nach dem Krieg versuchten, jede Erinnerung an ihre Beteiligung zu unterdrücken. Die Umformung der Erinnerung nahm oft merkwürdige Formen an, wie beim Aufstieg des VW Käfers – des ursprünglichen „Kraft durch Freude“-Wagens der Nationalsozialisten – zur nationalen Ikone in Mexiko Ende des 20. Jahrhunderts. Manchmal allerdings hat das wachsende Bedürfnis, den Untaten des Nationalsozialismus ins Auge zu sehen und die Täter und Schuldigen zu enthüllen, zu plumper und pauschaler Verurteilung geführt, wo Historiker sorgfältige Unterschiede machen sollten. Die Entdeckung, dass ein wohlhabender Geschäftsmann seine Aktivitäten im „Dritten Reich“ verheimlicht hatte, führte zu massiven Übertreibungen hinsichtlich seiner angeblichen Verwicklung in die schlimmsten Verbrechen des Regimes. Nachdem etwa die Rolle, die Berufsdiplomaten bei der Ausgestaltung der NS-Außenpolitik spielten, jahrzehntelang sorgfältig verschleiert worden war, führte ihre Aufdeckung zu haltlosen Anschuldigungen, sie hätten die Vernichtung der Juden angestoßen und nicht bloß erleichtert (was an sich schon schlimm genug ist, aber nicht dasselbe, und obendrein eine Behauptung, welche die wirklichen schuldigen Gruppen aus der Verantwortung entlässt).

Das nationalsozialistische Deutschland fand seinen Höhepunkt und seine Erfüllung und erlebte letztendlich auch seinen Untergang im Zweiten Weltkrieg, und hier hat es seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ebenfalls einen Perspektivwechsel gegeben. Das globale Ausmaß und die globalen Verbindungen des Krieges sind inzwischen bekannt. So gab es keine zwei getrennten Kriege in Ost und West, sondern vielmehr einen einzigen Krieg mit mannigfachen Verbindungen zwischen den verschiedenen Schauplätzen. Militärgeschichte an sich kann, wie dieser Band zeigt, erhellend sein, muss aber auch in einem größeren ökonomischen und kulturellen Kontext gesehen werden. Worauf auch immer wir unser Augenmerk richten, ob auf die Entscheidungsprozesse an der Spitze oder auf den Einfallsreichtum und den Unternehmungsgeist zweitrangiger Figuren, stets ist ihr weiteres Umfeld zu beachten.

In den letzten Jahren hat sich die Forschung schließlich zunehmend auf Nachkriegsdeutschland konzentriert, wo die unterschwelligen Kontinuitäten der NS-Zeit immer offensichtlicher wurden. Die „ethnische Säuberung“ von Millionen unerwünschter Bürger endete nicht mit den Nationalsozialisten, sondern setzte sich bis weit in die Jahre nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ fort, wenngleich diesmal Deutsche die Opfer und nicht die Täter waren. Stadtplaner entwickelten Utopien, die bereits in der Idee der Nationalsozialisten von der enturbanisierten Stadt Ausdruck gefunden hatten, deren Grundannahmen aber auch vielfach in Stadt-Utopien aus anderen Teilen der Welt zu finden sind. Und die immer energischer betriebene Kampagne zur Rückgabe von Kunstwerken, die von den Nationalsozialisten geraubt oder ihren ursprünglichen, oftmals jüdischen Besitzern gestohlen worden waren, thematisiert eine Problematik, die nicht mit dem „Dritten Reich“ begann und nicht mit seinem Untergang endete. Einmal mehr hilft uns hier die Langzeitperspektive, das vorhandene Problem zu verstehen, das zugleich ein Problem von globalen Ausmaßen ist. Die Ausweitung der historischen Forschung auf die Nachkriegszeit hat die engen wechselseitigen Beziehungen zwischen Geschichte und Erinnerung weiter gestärkt. Die hier versammelten Aufsätze zeigen unter anderem, dass jede Erinnerung, soll sie standhalten, der genauen Prüfung durch die Historiografie unterzogen werden muss, während die Bedeutung der Geschichte für das kollektive kulturelle Gedächtnis des Nationalsozialismus in der Gegenwart ebenso präzise wie leidenschaftlich verdeutlicht werden muss.

Alle folgenden Kapitel sind in den letzten 15 Jahren geschrieben worden und spiegeln diese bedeutenden Veränderungen in der Wahrnehmung des nationalsozialistischen Deutschlands wider, weshalb ich sie in einem einzigen Buch zusammenführe, das sich hoffentlich auf mehr beläuft als auf die Summe seiner Teile. Die meisten Kapitel nehmen Rezension zu neueren Studien über den einen oder anderen Aspekt des „Dritten Reiches“ als Ausgangspunkt für weitergehende Betrachtungen, und aus diesem Grund ist ein gewisses Maß an Überschneidung und Wiederholung unvermeidlich. Ich habe versucht, beides auf ein Minimum zu reduzieren. Mit Quellenverweisen in Anmerkungen habe ich nur Stellen versehen, wo originäre Forschung ins Spiel kommt, wie in den Kapiteln 6 und 7, oder wo der Artikel ursprünglich in einer wissenschaftlichen Zeitschrift erschienen ist, wie in Kapitel 17; drei der Kapitel – 14, 17 und 24 – habe ich um ein kurzes Nachwort ergänzt, wo ich auf Argumente eingehe, die von Kritikern bei der Erstveröffentlichung vorgebracht wurden, oder den Leser auf weiterführende Literatur hinweise. Für die Erlaubnis zum Wiederabdruck danke ich den Herausgebern der Hefte und Zeitschriften, in denen diese Aufsätze zuerst erschienen sind. Besonderen Dank schulde ich Victoria Harris für ihre Zusammenstellung der Kapitel aus sehr zerstreuten Quellen.

Richard J. Evans, Cambridge im März 2014

Das Dritte Reich

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