Читать книгу Das Dritte Reich - Richard Evans - Страница 8
1. Entwurf für den Völkermord?
ОглавлениеAuf der ganzen Welt verstreute Dinge gemahnen noch heute an die Tatsache, dass auch Deutschland neben anderen europäischen Mächten zwischen den 1880er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg ein überseeisches Kolonialreich besaß. Wer nach Windhoek in Namibia reist, kann noch immer eine Ausgabe der dortigen Allgemeinen Zeitung erstehen, einer Tageszeitung, die sich an die verbliebenen deutschsprachigen Bewohner der Stadt richtet. Wer Lust auf einen Abstecher an die namibische Küste hat, der kann in die Hafenstadt Lüderitz reisen, vorbei an zerstörten Bahnhöfen, deren Namen noch in Fraktur geschrieben sind, und Zeit am Agate Beach verbringen, die Brandung genießen und nach Pinguinen Ausschau halten. In Tansania liegt am Ostufer des Malawisees eine Stadt namens Wiedhafen, und wer Geschäftsmann ist und Palmöl en gros in Kamerun kaufen möchte, für den sind die Woermann-Plantagen nach wie vor die erste Adresse. In Ost-Ghana werden wiederum Häuser in deutschem Stil, die früher zur Kolonie Togo gehörten, als Touristenattraktion angepriesen.
Ebenso ist es möglich, im Pazifik durch den Bismarck-Archipel zu kreuzen und die Ritter-Insel zu besuchen (von der allerdings nicht mehr viel übrig ist, seit sie ein Vulkanausbruch im Jahr 1888 größtenteils in Schutt und Asche legte). Weiter östlich sind in Samoa beim Besuch einer Buchhandlung die Werke des führenden lokalen Dichters namens Momoe von Reiche zu erwerben. Und fast überall auf der Welt servieren Chinarestaurants ein nach deutscher Art gebrautes Bier, Tsingtao, das erstmals 1903 von der Germania-Brauerei in Tsingtau (heute als Qingdao transkribiert), der Hauptstadt des deutschen Pachtgebiets Kiautschau, hergestellt wurde. In der chinesischen Stadt selbst ist die imposante Kathedrale St. Michael im Stil der rheinischen Romanik zu bewundern, die aussieht, als sei sie an einem Ort irgendwo in Norddeutschland vor etwa einem Jahrhundert erbaut worden. Und in gewissem Sinne wurde sie das ja auch.
Alles in allem ist das nicht viel, verglichen mit den umfangreichen materiellen, kulturellen und politischen Hinterlassenschaften der größeren und langlebigeren europäischen Übersee-Imperien, die zusammen zeitweise den größten Teil der Landfläche unseres Planeten bedeckten. Das deutsche Imperium hatte bloß drei Jahrzehnte Bestand; nach seiner Auflösung am Ende des Ersten Weltkriegs wurden seine Bestandteile unter Großbritannien, Frankreich, Belgien, Australien und Südafrika neu verteilt. Obwohl nur von kurzer Lebensdauer und von kleiner Fläche, verglichen mit dem britischen Empire, erregten die ehemaligen überseeischen Herrschaftsgebiete dennoch in den Zwischenkriegsjahren erneut Aufmerksamkeit, als Kolonialpropagandisten für ihre Rückgewinnung warben. Doch nicht einmal die Nationalsozialisten interessierten sich ernsthaft dafür und bevorzugten es stattdessen, vorerst in Europa zu expandieren.
Über viele Jahre konzentrierte sich die einschlägige historische Literatur zum Thema – das Werk des anglodeutschen Wirtschaftshistorikers William Otto Henderson war ein herausragendes Beispiel – meist darauf, die Behauptungen über Gewalttätigkeit und Brutalität zu widerlegen, die zur Zerschlagung und Neuverteilung des deutschen Kolonialbesitzes auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 geführt hatten. Doch die Situation änderte sich durch das Werk von Helmut Bley, der in Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894–1914 (Hamburg 1968) die entsetzliche Geschichte des deutschen Krieges gegen die Stämme der Herero und Nama in den Jahren von 1904 bis 1907 rekonstruierte.
Die von Bley erzählte Geschichte ist nicht kompliziert: Das wachsende Tempo der Landnahme durch die Kolonialregierung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts führte zu Angriffen auf deutsche Bauern, die den Tod von etwa 150 Siedlern und die Entsendung von 14.000 Soldaten aus Berlin unter Befehl von General Lothar von Trotha, einem kompromisslosen preußischen Armeeoffizier mit Kolonialerfahrung, zur Folge hatten. Er wisse, so Trotha in einem Schreiben an den Generalstab vom 4. Oktober 1904, „dass sich der Neger keinem Vertrag, sondern nur der rohen Gewalt“ beuge. In einem Brief schrieb er: „Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik.“ Nachdem er eine Herero-Streitmacht am Waterberg besiegt hatte, verkündete er in einem „Aufruf an das Volk der Herero“: „Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen.“ Während des Feldzugs gefangene Viehhirten der Herero wurden auf der Stelle getötet. Frauen und Kinder wurden in die Wüste getrieben und dem Hungertod preisgegeben. Der Chef des Generalstabs in Berlin, Alfred von Schlieffen, wie alle preußischen Offiziere ganz im Banne der Clausewitz zugeschriebenen Doktrin, dass das Ziel eines jeden Krieges die vollständige Vernichtung der feindlichen Kräfte sein müsse, lobte Trothas Feldzug als „brillant“, vor allem seinen Einsatz der Wüste, um zu erreichen, was der Generalstab in einer offiziellen Publikation mit dem Titel Der Kampf als die „Vernichtung der Herero-Nation“ billigte.
Aber es wurden auch kritische Stimmen laut; Reichskanzler Bernhard von Bülow bezeichnete das Vorgehen missbilligend als unchristlich und warnte, es schädige den Ruf Deutschlands im Ausland. Politiker der Sozialdemokratischen Partei und der katholischen Zentrumspartei fanden deutlich verurteilende Worte. Der zivile Gouverneur Theodor Leutwein, vom Militär aufgrund seiner kompromissbereiten Politik gegenüber den Herero an den Rand gedrängt, protestierte bei Bülow und erklärte die Vernichtung zu einem „schweren Fehler“. Zum Dank wurde er zwar abgesetzt, aber seine Ansicht, es sei besser, die Herero als Arbeiter zu verpflichten, fand genügend Anhänger, um die Überlebenden des Stammes, größtenteils Frauen und Kinder, zusammen mit Angehörigen der Nama festzunehmen und in „Konzentrationslagern“ – der Begriff wurde hier zum ersten Mal offiziell verwendet – zu internieren.
Dort allerdings erwartete sie kein besseres Los. Im schlimmsten der Lager, auf dem felsigen Gelände von Shark Island vor der namibischen Küste, wurden die Gefangenen als Zwangsarbeiter eingesetzt, mit kleinsten Rationen abgespeist, ohne entsprechende Kleidung schneidenden Winden ausgesetzt und mit Lederpeitschen geschlagen, wenn sie nicht hart genug zu arbeiten vermochten. Jeden Tag wurden Leichen an den Strand gebracht, wo es den Gezeiten überlassen blieb, sie hinaus in die haiverseuchten Gewässer zu befördern. Selbst die südafrikanische Presse beanstandete die vorherrschende „schreckliche Grausamkeit“.
Die Lager wurden auch zu Stätten „wissenschaftlicher“ Forschung, als der Anthropologe Eugen Fischer, später im „Dritten Reich“ ein führender „Rassehygieniker“, in der Stadt Rehoboth einfiel, um deren „gemischtrassige“ Einwohner zu studieren, die sich selbst als „Baster“ (Afrikaans für Bastard) bezeichneten (Fischer nannte sie die „Rehobother Bastards“). Er und seine Kollegen verschafften sich Schädel für kraniometrische Untersuchungen verschiedener „Rassen“; bis zu 300 dieser Schädel fanden letztendlich ihren Weg nach Deutschland.
Fischer kam zu dem Schluss, dass gemischtrassige Nachkommen von Buren oder Deutschen und Schwarzafrikanern Ersteren unterlegen, aber Letzteren überlegen seien, und bestimmte, sie seien als Hilfskräfte zum Einsatz bei der Polizei, im Postwesen und in anderen Bereichen des Staatswesens geeignet. Als nützliche, wenngleich minderwertige Rasse sollten sie im Gegensatz zu den Herero und den Nama einen gewissen Schutz genießen. Die Gesetzgebung entsprach jedoch eher Trothas Auffassung, dass alle Afrikaner Untermenschen seien, und spiegelte dieselbe beinahe pathologische Furcht, durch Rassenmischung könnten sich Krankheiten verbreiten. Im Jahr 1905 wurde die Mischehe gesetzlich verboten, und zwei Jahre später wurden alle bestehenden Ehen zwischen Deutschen und Afrikanern annulliert. Mit diesen Maßnahmen wurde der Begriff der „Rassenschande“ in die deutsche juristische Terminologie eingeführt, der dreißig Jahre später in den Nürnberger Gesetzen wieder auftauchen sollte. Der offizielle Status der deutschen Siedler war dem der übrigen Bevölkerung derart überlegen, dass es legitim erschien, Herero-Männer zur Zwangsarbeit heranzuziehen und sie zu nötigen, Erkennungsmarken zu tragen – eine weitere später von den Nationalsozialisten angewandte Maßnahme.
Die Herero-Bevölkerung, die vor dem Krieg schätzungsweise 80.000 Menschen umfasste, wurde bis zum Ende auf 15.000 dezimiert, während von den Nama bis zu 10.000 von insgesamt 20.000 vernichtet wurden. Von etwa 17.000 in den Konzentrationslagern inhaftierten Afrikanern überlebte nur die Hälfte. Angesichts der rassischen Überzeugungen Trothas kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich hier um das handelte, was später als Völkermord bezeichnet werden würde. Bley warf mit der Offenlegung des Völkermords die drängende Frage nach einer Kontinuität zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Nationalsozialismus auf. Andere Kolonialregimes waren zwar auch brutal, vor allem die belgische Herrschaft im Kongo, und zögerten nicht, sich des Massenmords zu bedienen, um Aufstände zu unterdrücken oder ihre Herrschaft zu errichten, von den Franzosen in Algerien in den 1870er-Jahren bis zu den Italienern in Äthiopien in den 1930er-Jahren. Rassendiskriminierung, Enteignung und Zwangsarbeit waren alles andere als ausschließlich deutsche Phänomene.
Aber nur die Deutschen führten die bereits so bezeichneten Konzentrationslager ein, in denen alles eindeutig und brutal auf Zwangsarbeit und Vernichtung ausgerichtet war. Es sollte zwar den Nationalsozialisten überlassen bleiben, den schrecklichen Ausdruck „Vernichtung durch Arbeit“ zu prägen, aber der Effekt war schon damals derselbe.
Und nur die Deutschen unternahmen ausdrücklich den Versuch, ein ganzes kolonisiertes Volk aus rassischen Gründen zu vernichten. Nur die Deutschen erließen ein gesetzliches Verbot der rassischen Mischehe in ihren Kolonien, und zwar nicht nur in Deutsch-Südwestafrika, sondern auch in Deutsch-Ostafrika (1906) und Samoa (1912). Nur die Deutschen starteten später einen rassischen Vernichtungsfeldzug, der nicht nur die Juden Europas, sondern potenziell die jüdische Weltbevölkerung umfasste. Besteht also ein Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen?
Diese Frage wurde, vielleicht überraschend, nach dem Erscheinen von Bleys Buch über Jahrzehnte nicht thematisiert. Kritische Historiker der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich den Kontinuitäten zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem „Dritten Reich“ zuwandten, konzentrierten sich auf die innerdeutschen Wurzeln des Nationalsozialismus, auf Hitlers Herrschaft in Deutschland und auf den Holocaust. Der Antiimperialismus der Linken, der vielleicht auch Bley zu seinem Werk motiviert hatte, war durch den Vietnamkrieg befeuert worden und flaute ab, als die amerikanischen Truppen von dort abzogen und auch Europas verbliebene Kolonien ihre Unabhängigkeit erhielten. In Westdeutschland begann das Erbe des Kolonialismus im Alltagsleben mit der zunehmenden wirtschaftlichen Moderne zu verschwinden. Auch die „Kolonialwaren-Geschäfte“, die Kaffee, Tee, Gewürze, Reis und ähnliche Kurzwaren aus Übersee verkauften und die in deutschen Städten noch in den 1970er-Jahren zu sehen waren, wurden jetzt größtenteils umbenannt. Nur wenige, die heute ihren Kaffee beispielsweise in einem Edeka-Laden kaufen, wissen, dass der Name für „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler“ (ursprünglich E.d.K.) steht. Nach den 1970er-Jahren schienen Deutschlands ehemalige Kolonien bedeutungslos geworden zu sein und gerieten größtenteils in Vergessenheit.
Erst mit dem Aufkommen postkolonialer Studien in den 1990er- Jahren erwachte das Interesse allmählich wieder. Da Historiker nun vor allem Rassismus und Rassenideologie statt Totalitarismus und Klassenausbeutung als Erklärungen für den Nationalsozialismus heranzogen, gewann die Geschichte der deutschen Kolonisierungserfahrung erneut an Bedeutung. Ein Zeichen für das neuerliche Interesse war die Veröffentlichung einer überarbeiteten englischsprachigen Ausgabe von Bleys inzwischen klassischem Werk unter dem Titel Namibia under German Rule im Jahr 1996. Nach und nach erschienen Monografien und Aufsätze zum kolonialistischen Diskurs in Deutschland, zu den kolonialen Ursprüngen der Rassenkunde und zur Darstellung kolonialer Themen in der Literatur. Das wachsende Interesse an kultureller Erinnerung führte zu Studien über postkoloniale Erinnerungen und Gedenken in Deutschland. Sebastian Conrads Deutsche Kolonialgeschichte (2011) fasst diese neue Literatur zusammen und ordnet sie in den Kontext der Globalisierung ein, die zu einer Wiederbelebung des Interesses am deutschen Kolonialreich geführt habe. Mit ihren vielen ausgezeichneten Abbildungen und Karten, ihrer kommentierten kritischen Bibliografie und ihrem ausgeprägten Bewusstsein für historiografische Trends bietet sie eine einzigartige und unerlässliche Einführung in das Thema und kluge Hinweise für die weitere Forschungsarbeit.
Der deutsche Kolonialismus sei, wie Conrad feststellt, teils in der deutschen Kleinstaaterei begründet, da Kolonien schon zu einer Zeit als Projektionsfläche für den Traum von einem deutschen Nationalstaat dienten, da dieser noch lange nicht erreicht war. Wie der Komponist Richard Wagner 1848 erklärte: „Nun wollen wir in Schiffen über das Meer fahren, da und dort ein junges Deutschland gründen. Wir wollen es besser machen als die Spanier, denen die neue Welt ein pfäffisches Schlächterhaus, anders als die Engländer, denen sie ein Krämerkasten wurde. Wir wollen es deutsch und herrlich machen.“
Weit wichtiger jedoch war die globale Ausrichtung des deutschen Kapitalismus, der sich auf autonome Stadtstaaten wie Hamburg konzentrierte. Von führenden Hamburger Kaufleuten hieß es in den 1870er- Jahren, dass sie zwar „jede Stadt am Mississippi aus direkter Anschauung kannten, zwanzig Male in London, aber niemals in Berlin gewesen waren“. Auf das schnelle Wachstum der deutschen Industrie und Wirtschaftsmacht setzend, trieben Hamburgs Kaufleute in vielen Küstengebieten Afrikas und in anderen nicht kolonisierten Teilen der Erde Handel und unterhielten 279 Konsulate in Städten überall auf der Welt.
Deutsche Wissenschaftler, Forschungsreisende und Missionare, wie etwa Gerhard Rohlfs, der Afrika als erster Europäer von Nord nach Süd durchquerte, gewannen in der fernen Heimat eine breite Anhängerschaft für ihre Heldentaten. Bismarck hingegen war wenig begeistert („Solange ich Reichskanzler bin“, sagte er 1881, „treiben wir keine Kolonialpolitik“), löste aber 1884 trotzdem den „Wettlauf um Afrika“ aus, indem er eine Reihe von Gebieten, in denen deutsche Wirtschaftsinteressen betroffen waren, „unter deutschen Schutz“ stellte. Sein Ziel war es dabei, die Franzosen zu ähnlichen Schritten zu provozieren, damit sie von einer Revanche für den Verlust Elsass-Lothringens im Deutsch-Französischen Krieg abließen. Vielleicht wollte er auch einflussreichen Nationalliberalen und deren Handelsinteressen entgegenkommen, weil er ihre Unterstützung bei den bevorstehenden Reichstagswahlen brauchte. Der Wettlauf um Territorium war in jedem Fall unvermeidlich geworden, nachdem die anglo-französische Rivalität in Nordafrika in den Jahren 1881/82 einen kritischen Punkt erreicht hatte. Und als dieser Wettlauf sich von Afrika über die ganze Erde ausdehnte, raffte Deutschland schließlich hinter Großbritannien, Frankreich und Holland das viertgrößte Imperium zusammen.
Zu den verstreuten Territorien, die von den Deutschen beansprucht wurden, gehörten zum einen das dünn besiedelte Trockengebiet des heutigen Namibia, wo sich schnell deutsche Viehzüchter niederließen und wo der Abbau von Kupfer und Diamanten Privatunternehmen von 1907 an einigen Profit bescherte; zum anderen die malariaverseuchten Küstenregionen Kameruns, wo die Handelsinteressen der Familie Woermann aus Hamburg vorherrschten (von Deutschen geführte Plantagen im Landesinnern produzierten Kautschuk und Palmöl); des weiteren Togo, wo der Handel, wiederum mit Palmöl, größtenteils von ortsansässigen afro-brasilianischen Eliten an der Küste kontrolliert wurde; darüber hinaus die bevölkerungsreiche Kolonie Deutsch-Ostafrika (das heutige Tansania minus Sansibar, aber einschließlich Ruanda und Burundi), wo deutsche Siedler Baumwoll- und Sisal-Plantagen errichteten; und schließlich Neuguinea und Samoa samt dazugehöriger Pazifikinseln, wo nur wenige deutsche Siedler lebten und Handelsinteressen vorherrschten, sowie der chinesische Vertragshafen Jiaozhou. Dieser war 1897 für 99 Jahre gepachtet und vom Reichsmarineamt geleitet worden, das eine energische Modernisierungs- und Verbesserungspolitik betrieb, welche die Stadt Qingdao mit elektrischer Straßenbeleuchtung und einer Universität ausstattete, an der chinesischen Studenten deutsche Wissenschaft und Gelehrsamkeit geboten wurden.
Bismarcks Vision von Schutzgebieten, die privatwirtschaftlich, ohne staatliche Unterstützung verwaltet wurden und sich in Grundzügen an der Britischen Ostindien-Kompanie auf dem Subkontinent orientierten, währte nicht lange. Gewaltsame Konflikte mit afrikanischen Gesellschaften, die sich der zunehmenden Ausbeutung durch deutsche Kaufleute und Siedler widersetzen, führten bald zur Errichtung einer formalen Herrschaft durch deutsche Bürokraten mit militärischer Rückendeckung. Dass der Staat anfing, zum Schutz von Plantagenbesitzern und Siedlern, die mit einheimischen Bauern und Händlern aneinandergeraten waren, Gewalt einzusetzen, rief nur breiteren Widerstand hervor und machte alles nur noch schlimmer.
Der daraus folgende Krieg und der Völkermord in Südwestafrika mögen Exzesse gewesen sein, aber die Gewalt war auch darüber hinaus eine Konstante der deutschen Kolonialherrschaft. In Ostafrika beispielsweise veranlassten andauernde militärische Zusammenstöße, vielfach ausgelöst durch den skrupellosen kolonialen Abenteurer Carl Peters, die kaiserliche Regierung in Berlin 1891 dazu, die Verwaltung der Kolonie zu übernehmen. Aber der bewaffnete Konflikt ging weiter, und in den folgenden sechs Jahren fanden 61 große „Strafexpeditionen“ in Ostafrika statt. 1905 eskalierte der Konflikt wegen Landnahmen, Steuererhöhungen und Zwangsarbeit im Maji-Maji-Aufstand, bei dem etwa 80.000 Afrikaner durch die Hand des Militärs starben. Im Gegensatz zur Situation in Südwestafrika sahen die Deutschen darin keinen Rassenkrieg, und in der Tat gingen viele der Opfer auf das Konto afrikanischer Soldaten in deutschen Uniformen, aber die Zahl der Toten war gewaltig: Mehr als 200.000 Afrikaner gingen allein an der Hungersnot zugrunde, welche die systematische Zerstörung der Felder und Dörfer von Aufständischen zur Folge hatte.
Gewalt, wie die öffentliche körperliche Züchtigungen von Afrikanern, war in den deutschen Kolonien an der Tagesordnung: Die offiziell dokumentierte – und gewiss zu niedrig geschätzte – Zahl der Züchtigungen in Kamerun stieg von 1900 bis 1913 von 315 auf 8400 jährlich. Afrikanische Stammesführer brachten ihren Fall vor den Reichstag, aber die anschließende Abberufung des Gouverneurs hatte mehr mit den Einwänden von Händlern und Missionaren gegen seine Politik der großzügigen Vergabe von Landkonzessionen an Plantagenbesitzer zu tun als mit seiner unzweifelhaften Brutalität. Die Situation spitzte sich gegen Ende der deutschen Herrschaft zu, als ein ehemaliger oberster Stammesführer öffentlich hingerichtet wurde, weil er Maßnahmen zur Rassentrennung in der Hauptstadt Douala missbilligt hatte. Wie labil die deutsche Herrschaft stets gewesen war, wurde dabei offenkundig. Angesichts ihrer geringen Zahl – weniger als 2000 Siedler und Amtsträger in Kamerun – konnten die Deutschen lediglich hoffen, in ihren Kolonien „Inseln der Herrschaft“ zu errichten. Denn nirgendwo akzeptierten Afrikaner die deutsche Souveränität je ganz und gar. Mit deren Ausschluss aus den politischen und öffentlichen Lebensbereichen der Kolonien verurteilte sich die deutsche Herrschaft selbst dazu, immer ein Fremdkörper zu bleiben.
Häufig veranlasste sie sogar selbst die Afrikaner dazu, sich im Widerstand zusammenzutun; nach dem Maji-Maji-Aufstand räumte der Gouverneur von Ostafrika ein, dass sich, was als lokal begrenzter Aufruhr einiger weniger „halbwilder Stämme“ begonnen habe, schließlich in eine Art „nationalen Kampf“ gegen „Fremdherrschaft“ verwandelt habe. Manchmal schuf die deutsche Politik neue Identitäten wie in Ruanda, wo mit ethnografischen Handbüchern ausgestattete Kolonialbeamte die lockeren sozialen Unterschiede zwischen Hutu und Tutsi zu klar abgegrenzten rassischen Identitäten stilisierten, mit denen sie eine unterschiedliche rechtliche Behandlung rechtfertigten. Diese Ethnogenese, wie sie einige Historiker bezeichnet haben, war das Fundament für die völkermörderischen Massaker im Jahr 1994.
Auch war es möglich, in den Kolonien wissenschaftliche Experimente durchzuführen, die sich in Deutschland verboten hätten. Der Bakteriologe und Nobelpreisträger Robert Koch hatte keine Skrupel, 1000 Afrikanern, die an der Schlafkrankheit litten, auf der Suche nach einem Heilmittel jeden Tag gefährlich hohe Dosen Arsen zu injizieren und dabei hohe Sterblichkeitsziffern unter den Versuchspersonen einzukalkulieren. Vorstellungen von Rassenunterschieden und erblicher „Minderwertigkeit“ erhielten durch eugenische Untersuchungen, die von Wissenschaftlern wie Eugen Fischer durchgeführt wurden, sogar gewaltigen Auftrieb und halfen, jene rassischen Vorstellungen zu erzeugen und populär zu machen, die später von den Nationalsozialisten in die Tat umgesetzt wurden. Darbietungen wie die Berliner Kolonialausstellung von 1896 oder die Präsentation eines afrikanischen Dorfes im Hamburger Tierpark Hagenbeck trugen ihren Teil zum Aufbau eines weitverbreiteten Gefühls rassischer Überlegenheit unter den Deutschen bei.
Manche sahen in den Kolonien Versuchslabore der Moderne, wo ohne Rücksicht auf die Rechte indigener Landbesitzer neue Städte und Großstädte erbaut werden konnten, wo eine Rassenkunde angewendet werden konnte, um eine neue soziale Ordnung anstelle überholter europäischer Standeshierarchien zu schaffen, und wo neue Mustergemeinschaften gegründet werden konnten, die auf den traditionellen patriarchalen Prinzipien fußten, die damals durch eine zunehmend lautstarke feministische Bewegung in der Heimat untergraben wurden. Das Vokabular und die Ziele kolonialer Missionstätigkeit wurden nach Deutschland zurückimportiert. So beabsichtigte etwa eine protestantische „Innere Mission“, die Mittellosen und „Arbeitsscheuen“ in den Slums der großen deutschen Städte aus einem „dunklen Kontinent“ der Armut und Unwissenheit zu erretten. Im Jahr 1913 griff ein neues Gesetz, das die deutsche Staatsangehörigkeit auf der Grundlage ethnischer Abstammung und nicht des Geburtsortes verlieh (wie im übrigen Europa üblich) und das direkt auf Rassenlehren zurückging, die in den Kolonien ausgearbeitet worden waren. Nationalgesinnte Deutsche fingen an, sich Polen und „Slawen“ als rassisch minderwertig vorzustellen, und gaben es auf, von Deutschlands „zivilisierender Mission“ in Osteuropa zu reden. Die Auffassung, dass Polen in nützliche Deutsche verwandelt werden könnten, wich allmählich der Überzeugung, sie wären, wie die Afrikaner, aufgrund ihrer rassischen Beschaffenheit nicht mehr zu retten.
Bedeutet all dies, dass ein direkter Weg vom deutschen Kolonialreich zum Holocaust führte? Bei allen offenkundigen Ähnlichkeiten zwischen dem Völkermord an Herero und Nama und der Vernichtung der Juden Europas weniger als 40 Jahre später gab es doch bedeutsame Unterschiede. Obwohl es in Südwestafrika zweifellos Konzentrationslager gab, waren sie nicht wie Treblinka einzig dafür bestimmt, Angehörige ethnischer, religiöser oder devianter Minderheiten zu töten. Juden erschienen den Nationalsozialisten als globale Bedrohung; Afrikaner waren, wie Slawen, ein lokales Hindernis, das es zu unterwerfen oder zu beseitigen galt, um Platz zu machen für deutsche Siedler. Die koloniale Erfahrung, vor allem auf dem Gebiet der Rasse, durchtränkte die Ideologie des Nationalsozialismus, aber es gab nur wenige personelle Kontinuitäten, trotz der Beispiele von Hermann Görings Vater, dem ersten Gouverneur von Südwestafrika, oder Franz Ritter von Epp, der mit Trotha im Herero-Krieg diente und später, im April 1933, nationalsozialistischer Reichsstatthalter in Bayern wurde, oder Viktor Böttcher, stellvertretender Gouverneur von Kamerun und später, von 1940 bis 1945, Regierungspräsident des Regierungsbezirks Posen im Reichsgau Wartheland.
Trothas völkermörderischer Krieg war eine Ausnahme in der deutschen Kolonialgeschichte, und er verdankte sich mehr den Militär- und Rassedoktrinen seines Urhebers als dem deutschen Kolonialismus allgemein. Die selbst ernannte Mission der Modernisierung und Zivilisierung, wie sie in der Bildungs-, Wirtschafts- und Religionspolitik verankert war, die in der Endphase der deutschen Kolonialherrschaft verfolgt wurde, hatte in Osteuropa zwischen 1939 und 1945 keine Entsprechung. Es brauchte den verrohenden Einfluss des Ersten Weltkriegs – der selbst zu den Auswirkungen des Kolonialismus auf Europa gehörte –, um politische Gewalt zu einem Grundzug des Lebens in Deutschland in den 1920er- und 1930er-Jahren zu machen und Männer wie Böttcher in Nationalsozialisten zu verwandeln. Der deutsche Kolonialismus scheint systematischer einen rassistischen Ansatz verfolgt zu haben und in der Durchführung von schonungsloserer Brutalität gewesen zu sein als der Kolonialismus anderer europäischer Nationen, aber das heißt nicht, dass er zwangsläufig zum Holocaust führte.
Nichtsdestotrotz ist der Herero-Krieg weit stärker als jeder andere Aspekt des Kolonialismus als bedeutsame Parallele und als Vorläufer des Holocaust in die öffentliche Erinnerung des heutigen Deutschlands eingegangen. Er hat zu leidenschaftlichen Debatten darüber geführt, wie seiner am besten zu gedenken sei. Nirgendwo wurden solche Diskussionen engagierter geführt als in der Hansestadt Bremen, wo im kleinen Deetjen-Park hinter dem Hauptbahnhof ein zehn Meter hoher Elefant aus Backstein steht; Pendler und Touristen gehen jeden Tag daran vorbei. Aufgestellt gegen Ende der Weimarer Republik, war das stilisierte Denkmal konzipiert als Mahnmal für und Erinnerung an die Geschichte des deutschen Kolonialismus. In den Sockel wurden Terrakottatafeln eingelassen, jede mit dem Namen einer ehemaligen Kolonie versehen. Bei der Einweihung des Denkmals am 6. Juli 1932 feierten Redner vor gewaltigen Menschenmassen die Errungenschaften des Kolonialismus und forderten die Wiederherstellung der verlorenen Kolonien.
Kaum zu glauben, dass der Elefant den Zweiten Weltkrieg unversehrt überstand, obwohl die verschiedenen Inschriften rings um den Sockel nach 1945 rasch entfernt wurden. Bis zum 50. Jahrestag seiner Errichtung im Jahr 1982 war er zu einer Peinlichkeit geworden, vor allem in Anbetracht der andauernden Herrschaft des südafrikanischen Apartheidsregimes über Namibia. Im Jahr 1988 stellte die örtliche IG-Metall-Jugend neben dem Sockel eine Gedenktafel auf: „Für Menschenrechte gegen Apartheid“. Zwei Jahre später wurde der Elefant offiziell zum „Antikolonialdenkmal“ erklärt, seinem ursprünglichen Zweck zum Trotz, so offensichtlich der auch war. Als Namibia 1990 seine Unabhängigkeit erlangte, veranstaltete die bremische Bürgerschaft eine offizielle Feier rings um den Elefanten, und im Jahr 1996 enthüllte Sam Nujoma, der namibische Staatspräsident, während eines Staatsbesuchs in Deutschland eine neue Tafel mit der Inschrift: „Zum Gedenken an die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia, 1884–1914“. Heute kümmert sich ein gemeinnütziger Verein „für Vielfalt, Toleranz und Kreativität, Der Elefant!“ um das Denkmal. Eine Bronzetafel erinnert Besucher an die Vergangenheit des Monuments, und als eine Art „Anti-Denkmal“ wurde in der Nähe ein kleines Mahnmal für die Herero und Nama errichtet.