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Interkulturelle Überlegungen zum Einstieg

Die vielfältigen Kulturen geben auf die zentralen Fragen des Lebens (auch wenn die Grundbedürfnisse des Menschen – kulturunabhängig – überall die gleichen sein dürften) sehr unterschiedliche Antworten. Das läuft der verbreiteten Meinung zuwider, wonach es nur eine, eben die Wahrheit geben kann. Und so stellt sich die Frage nach der Gültigkeit, der Wahrheit dieser Aussagen. Hat dabei eine Kultur recht? Die andere unrecht? Und wer möchte als Richter auftreten?

Welche Erkenntnisse, Einsichten und welche Wahrheiten vermitteln die Antworten? Besteht nicht zumindest ein Grundkonsens beispielsweise in puncto Respekt/Achtung vor dem Nährboden des Lebens, der Natur und damit (auch) der Menschheit auf diesem Planeten ungeachtet der Hemisphäre, der Hautfarbe etc.? Ist das verbindende Element für solch einen Grundkonsens die Frage nach der Gerechtigkeit (vgl. John Rawls) oder nach dem Verhältnis zwischen einer gerechten und einer anständigen Gesellschaft (wie z.B. bei Avishai Margalit) oder die damit verbundene Wertediskussion an sich (vgl. Hans Joas)?

Fragen nach dem Leben, seiner Entstehung, seiner Wesenheit und seiner Deutungshorizonte werden in einer uns so fremden Kultur wie der indischen in einem kontrastiven Ansatz zu europäischen epistemologischen Ansätzen unterschiedliche bis völlig gegenteilige Antworten finden, schon weil sie im abendländischen Vergleich auf anderen Grundüberzeugungen fußen, indem sie zunächst einmal nicht von einem einmaligen (nur dieses eine Leben) sondern von bis zu 1 Million Leben (im Hinduismus) ausgehen, von einer Seele, die ihren Segen und ihre Erfüllung nicht in einem Tempel aus Stein, Stahl und Glas, sondern im eigenen Körper sucht, eine Kultur, in der auch ein (Weiter) Leben in anderen Dimensionen, in einem anderen Zeit-Raum-Gefüge denkbar ist. Davon sind folgerichtig auch weiterführende Fragen betroffen wie z.B.: Was war vorher und was geschieht danach? Oder: Welches ist das Ziel, der Zweck, der Sinn des individuellen Lebens?

Wie faszinierend und bereichernd, was für eine Inspiration und manchmal auch was für ein Trost (wie Schopenhauer es formulierte) sind daher tiefere Einblicke in eine andere, hier, in die indische Kultur!

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Für Nicht-Inder, und in meiner subjektiven Wahrnehmung erlebe ich das in Deutschland in ausgeprägter Form, scheint Indien stark zu polarisieren, jedenfalls kaum jemanden unberührt zu lassen: man steht ihm ablehnend gegenüber, ja, man schaudert davor zurück (dramatisch soziales Gefälle, Kastenwesen, Witwenverbrennung etc.) oder liebt es inniglich (wegen Yoga und Vegetarismus, Exotik oder Ayurveda, dem Taj Mahal oder zumindest wegen Mahatma Gandhi). Und zudem gibt es auch und vor allem die kultische Verehrung1, oft ausgehend vom Umwerben durch das unbekannt faszinierende Weisheitsversprechen Asiens, von dessen Mystik und einer verheißungsvollen Erlösung. Die Spanne der Informationslektüre über diesen Subkontinent ist unüberschaubar, sie umfasst von der landeseigenen Literatur in den zahlreichen Amtssprachen2, vom gängigen Reiseführer, z.B. „Lonely Planet“ mit seinen praktischen Hinweisen und preiswerten Schlaf- und Essgelegenheiten, über herrliche Bildbände bis hin zu einer enorm angewachsenen Fachliteratur insbesondere der Indologen (in fast allen Sprachen der Welt). Darunter gibt es auch Bücher zum Schmunzeln (vor allem für jene, die dort gelebt haben und durch diese Lektüre in eine Art Spiegel schauen3) und eine indische Selbstreflexion, die für ein indisches wie auch für ein außerindisches Publikum gedacht ist. Hinzu kommt schließlich eine indische Exilliteratur.

Vielleicht ist es aber gerade die unüberschaubare Vielfalt in der Einheit des indischen Kulturraums (und ich meine damit nicht nur den Staat Indien sondern auch den umliegenden geographischen Raum, Pakistan, Bangladesch, Afghanistan, Nepal, Bhutan, Tibet und sicher Sri Lanka, ja vielleicht auch den westlichen Teil Myanmars4), eine Vielfalt, die uns dazu bewegt, vielleicht auffordert, im alltäglichen Widerspruch und den erkennbar unvereinbaren Gegensätzen Position zu beziehen. Nicht-Inder werden in Sachen Indien daher gerne Partei ergreifen. Inder, so scheint es mir, können hingegen aus den Gegensätzen viel eher eine Ganzheit formen. Sie folgen einem monistischen Ansatz und womit sie auch die Dualität überwinden (sowohl die monotheistische Dualität zwischen Gut und Böse wie auch die zoroastrische zwischen Licht und Schatten), indem sie diese Gegensätze nicht nur als gegeben sondern als notwendige Teile ein und desselben Ganzen akzeptieren.

Heute denke ich mit leichtem Schmunzeln an den vermutlichen Anfang meiner Beziehung zu Indien. Mein Vater erzählte mir als Kind, dass ein indischer Staatsmann5, der zur Zeit meiner Geburt noch gelebt habe, bei seinem letzten Besuch in Großbritannien (im Jahr 1931) in seiner „indischen Uniform“, (einem Lendenschurz genannt Dhoti) vor dem Parlament und dem König (!) Georg V. erschienen sei. Er hätte dabei „nicht einmal Hosen und feste Schuhe angehabt“6: Ein Bettler-Auftritt. Unvorstellbar, einfach unvereinbar mit „Zivilisation“ – fand mein Vater.

Zivilisation, dieser Begriff wurde damals im Westen meist unhinterfragt gebraucht. Dass man ihn dennoch so empfangen habe, wurde nicht etwa der beeindruckenden Persönlichkeit des Gastes zugeschrieben, sondern zeuge von der großen Freiheit, die das Abendland auszeichne. Schließlich verfügte dieser Okzident nach eigenem Selbstverständnis – selbst für Nonkonformisten unbestritten – über eine allgemeine Denk- und Redefreiheit, wofür mir damals aus rein europäischer Perspektive schon der alleinige Hinweis auf elektrische Gitarren, Pilzköpfe (selbst diese fasziniert von Indien) und auf ein gelbes Unterseeboot im Dienst der Musik reichte.

Das war allerdings eindeutig ein Blick von außen auf Indien. Bald sollte jedoch für mich hinter dieser selbstsicheren und selbstgefälligen Haltung des Westens in seiner Betrachtungsweise der Welt7 ein Fragezeichen heranwachsen: wie konnte sich in einem Land dieser freien Welt, in Deutschland, trotz jüngster Geschichte so schnell und so viel Selbstgerechtigkeit entfalten?

1 Für mich verorte ich sie z.B. bei A.L. Basham: „The Wonder that Was India“

2 Die Verfassung von 1949 sprach noch von 14 Amtssprachen, mit den späteren Verfassungszusätzen bis zum Jahr 2004 kam man auf 22 Amtssprachen der wohl insgesamt 122 Sprachen – von vier großen Sprachfamilien-, die Indien offiziell anerkennt

3 William Dalrymple: „City of Djinns“

4 Der Autor lebte zusammen mit seiner Familie zwölf Jahre lang in diesem Kulturraum.

5 Mahatma Gandhi

6 Winston Churchill nannte ihn einen „ halbnackten Fakir“

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Indien denkt anders - eine interkulturelle Begegnung

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