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Vārānasi (Benares)

Es war in unserem sechsten Indienjahr, im Frühjahr 1991 in Vārānasi (Benares). In der Stadt am Ganges wimmelte es von Menschen und Rikschas.


Foto: Rikshas in Vārānasi (Benares)

Einfach hingesagt, aber will man Fremdes beschreiben, reichen Worte oft nicht aus. Ein Bild kann durch seine größere Unmittelbarkeit das Fremde manchmal leichter umreißen.

Im Haus eines anerkannten Heiligen, Lahiri Mahasaya, trafen wir mit dessen Enkel, dem emeritierten Chemieprofessor der Hindu Benares University, B. Lahiry zusammen. Er bot uns Sitzkissen an, auf denen wir um das Fußende des Bettes herum saßen, auf das ich später zu sprechen komme und erzählte eine Anekdote über seinen Essay „Quest for Truth“ (Wahrheitssuche), den er im Frühling 1965 an seiner Uni (in den dortigen Annalen) veröffentlicht hatte, ein Essay, von dem aber niemand Notiz genommen habe. Die Kollegen seines College of Science hätten mit Verwunderung reagiert, dass ein Chemieprofessor philosophische Fragen anspreche; die Kollegen der Humanwissenschaften hätten das Essay links liegen lassen, weil es ja von einem Naturwissenschaftler kam und wie hätte der ihnen etwas offenbaren können. Damit gebe es von diesem Essay nur ein paar vergilbte Exemplare dieses Annalen-Drucks. Zwar gebe es von dem Text auch einen Buchdruck, aber der sei im Ausland in spanischer Übersetzung erschienen, beim eigenwillig, auf das eigene Urteil vertrauenden argentinischen Verlagshaus KIER. Hier war es wieder: Kier in Buenos Aires, eine von Coras Quellen über Indien9.

Prof. Lahiry erklärte, er habe deshalb Chemie studiert und fortan mit großem Einsatz an der Universität weitere Forschungen betrieben, weil er auf diese Weise das Vermächtnis seines Großvaters „bis ins Kleinste“ habe überprüfen wollen. Den bekanntesten Teil seines großväterlichen Vermächtnisses verdanken wir allerdings der Niederschrift der Biographie eines Yogi10. Im ehemaligen Wohnhaus in Benares blieben die Asche des Heiligen (in zwei eiförmigen Behältern) und ein Gemälde zurück, das ihn meditierend auf seinem anfangs erwähnten Bett sitzend zeigt und das seit 70 Jahren an selbiger Stelle auch steht, wo er im Lotossitz gemalt wurde. Es wird laut Herrn Lahiry nie abgestaubt; es setze einfach keinen Staub an.

Am Abend saßen wir auf dem Flachdach des Hauses von Dora Bäumler direkt am Flussufer und blickten auf den dunklen Ganges hinab, der sich kaum von seiner Umgebung abhob. Nur in unregelmäßigen Abständen leuchteten auf diesem „heiligen Fluss“ Indiens einige flatternde Lichtlein, die auf dem Wasser an uns vorüberzogen, es war der Lichtschein von kleinen Kerzen oder Öllämpchen, die zusammen mit Blumengaben auf Blättern oder einem anderen schwimmenden Untersatz dem trägen Rhythmus des Ganges folgten: Opfergaben der Gläubigen. Von frühmorgens bis spät abends drängen sich Hindus an seinem Westufer. Der Ganges reinigt. Neben rituellen Waschungen machen die Gläubigen hier ihre Morgentoilette, hier waschen sie Hemden und Saris; sie beten, meditieren, praktizieren Yoga, und an einem besonderen Abschnitt, kurz bevor der Fluss die Stadt wieder verlässt, werden Tote verbrannt. Ab und an erblickt man in der Flussmitte die dunklen Rücken der vorbeigleitenden Delphine. Varanasi, und besonders sein Flussufer, ist ein Ort der inneren Erhebung und Läuterung, des Gebetes, der Meditation, des Innewerdens. Unter großen geflochtenen Schirmen werden Zuhörern allen Alters heilige Texte vorgelesen und erklärt. Ein großer Teil der Inder konnte/kann nicht lesen. Vorleser zu sein, ist eine Tugend.


Menschen und Schirme am Ganges (®)


Nandi, der heilige Stier

Ein Stier wird dort automatisch zu „Nandi“, dem „Reittier“ Shivas. Neben streunenden Hunden streifen auch herrenlose Kühe und Stiere ziellos durch die Straßen. Manchmal zeichnen Gläubige einem solchen Stier die drei übereinanderliegenden Shiva-Linien auf die Stirn – ein gutes Omen – und bitten um Shivas Segen.

Die meisten Gläubigen steigen in den Fluss, um zu beten.


Pilger in Benares (*)


Benares (Vārānasi) Westufer (♦)

Was gibt es Erstrebenswerteres, als in Benares (Vārānasi) die Sonne vom Westufer aus über dem Fluss im Osten aufgehen zu sehen?! (Auf dem Ostufer gibt es kein sichtbares Hindernis für die aufgehende Sonne, kein einziges Haus. Das dortige Ufer ist eben nur dazu da, den Fluss zu begrenzen). Wer Macht und Namen hat, kann sich direkt am Westufer aufhalten, dort vielleicht sogar in einem palastartigen Gebäude wohnen, natürlich mit Blick auf den Fluss, mit Blick nach Osten.


West- und Ostufer des Ganges in Vārānasi /Benares (®)

Doch ein bekannter Bettler der Stadt beschloss, dieses Privileg der Begüterten zu unterlaufen. Eines der zahlreichen Beispiele für die allenthalben anzutreffende indische Beharrlichkeit: Mit jahrzehntelanger konsequent altruistischer Haltung hortete er die empfangenen Almosen zu einem kleinen Vermögen, um an diesem so begehrten Ufer des Ganges ein Hindu-Sterbehaus errichten zu können. Nicht für sich, sondern als eine soziale Einrichtung für jedermann. Voraussetzung, um dort eingelassen zu werden, war und ist nur, dass man Hindu ist, gleich welcher Kaste. Hier gehen Träume in Erfüllung, hier eröffnet sich jedem Hindu die Chance, in der heiligen Stadt Benares, direkt am Ufer des Ganges, am heiligsten Ort Indiens kostenlos sterben zu können. Es ist das Mekka, der Olymp indischen Glaubens. In allen Zimmern mit Blick auf den heiligen Fluss stehen charpoys11, zu denen jeder ins Sterbehaus aufgenommene Hindu ein einfaches Betttuch erhält. Täglich gehen Helfer von Raum zu Raum, hinterlassen kleine Trinkgefäße mit segensreichem Ganges-Wasser oder tröpfeln es den Sterbenden auf die Zunge bzw. rollen die Toten in das Bettlaken, um diese danach an das Manikarnika-Ghat, den für Verbrennungen bestimmten Uferabschnitt zu bringen.

Lediglich ein Zeitpunkt ist noch von Bedeutung und gleichzeitig Bedingung, um als Hindu im Sterbehaus Einlass zu finden: die Gewissheit, am Ende dieser Inkarnation angekommen zu sein, oder anders ausgedrückt: in Kürze, noch vor Ablauf von 10 Tagen aus dem Leben zu scheiden12.

9 Cora erhielt ein Exemplar des argentinischen Buches, ich erhielt ein englischsprachiges Exemplar aus den Annalen der BHU (Benares Hindu University), lose Blätter, die allerdings leicht gebunden werden konnten.

10 Paramahansa Yogananda: „ Die Autobiographie eines Yogi“

11 Das typische Bett Indiens. Ein auf kurzen Beinen stehender Holzrahmen, der mit einem Naturfasernetz bespannt ist.

12 „Im Angesicht des Todes“. Dieses für mich zu tiefst berührende Foto eines sich auf den Tod vorbereitenden Hindus in diesem Haus, in tiefer Meditation sitzend, stammt vom Delhier Fotografen S. Paul

Indien denkt anders - eine interkulturelle Begegnung

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