Читать книгу Die Kraft der Präsenz - Richard Moss - Страница 36

Symptome lassen sich mit Präsenz umwandeln

Оглавление

Die Beispiele von den beiden Frauen, die ich hier geschildert habe, zeigen, wie man mit jedem Gefühl umgehen kann, indem man präsent ist und mit Gewahrsein Zugang zur Unmittelbarkeit des eigenen Seins findet. Auch wenn Ihnen viele Ihrer Empfindungen Probleme bereiten, sollten Sie sie nicht einfach als Krankheitssymptome bezeichnen, denn dadurch berauben Sie sich der Möglichkeit, sie unmittelbar in der Gegenwart zu erleben. Wenn Sie auf unvoreingenommene Weise bei Ihren Empfindungen präsent sind, haben Sie wesentlich mehr Kontrolle darüber, wie diese sich auf Sie auswirken – und vor allem darüber, wohin sie Sie führen.

Der Schlüssel liegt darin, mit Ihrem Gewahrsein bei Ihren Empfindungen zu sein und sie zu spüren, anstatt über sie nachzudenken. Oder anders gesagt: Überlassen Sie Ihre Empfindungen nicht Ihrem Ego, sondern lernen Sie stattdessen, ihnen mit Gewahrsein zu begegnen. Das eröffnet die Möglichkeit, Ihre Symptome zu transformieren, sodass sie sich in neue Bilder, Erkenntnisse oder Gefühle verwandeln können und Sie nicht mehr so stark entmutigen oder einschränken. Forschungen haben ergeben, dass Menschen, die einfach nur ihre vorhandenen Empfindungen beobachten, anstatt ihnen das Etikett eines Krankheitssymptoms aufzudrücken, eher glauben, ihr Leben im Griff zu haben, und dass sich dies positiv auf ihre Lebensdauer auswirkt.4

Als ich vor Jahren einmal an Felsen kletterte, machte ich meine erste persönliche Erfahrung mit dem Umwandeln von Empfindungen. Mir fiel auf, dass ich mich bei dem Gedanken, ich würde aufgrund der empfundenen körperlichen Erschöpfung gleich herunterfallen, sozusagen automatisch nicht länger halten konnte. So beschloss ich irgendwann, diese Empfindung einfach nur zu beobachten und sie von der Annahme, dass ich gleich fallen würde, abzutrennen. Dabei stellte ich fest, dass ich mich – auch nachdem mein Verstand mir gesagt hatte, ich könne nicht mehr – manchmal noch minutenlang am Fels festklammern und sogar weiter hinaufklettern konnte.

Ein noch weiter führender Schritt gelang mir bei meinen Meditationsübungen; dabei kam es immer wieder vor, dass ich schläfrig wurde und gelegentlich sogar einmal kurz wegnickte. Eines Tages fragte ich mich, worin diese Erfahrung des „Schläfrigwerdens“ eigentlich genau bestand. Ich beobachtete sorgfältig, wie meine Augenlider schwer wurden und mein Blick verschwamm; ich bemerkte, wie meine Aufmerksamkeit vom Wahrnehmen meines Atems und anderer innerer Empfindungen abgezogen und meine äußere Wahrnehmung undeutlich und nebelhaft wurde. Interessanterweise stellte ich fest, dass ich durch das genaue Beobachten dieser Wahrnehmungsveränderungen und das Verweilen bei meinen tatsächlichen Empfindungen schon bald wieder wach und präsent wurde. Der erste und entscheidende Schritt bestand wohl darin, dass ich mich von der verstandesmäßigen Interpretation „Ich werde müde“ oder allein schon von dem Etikett „müde“ löste, mich sozusagen abkoppelte.

Daraufhin begann ich es mir zur Gewohnheit zu machen, mich von den Namen (oder den Geschichten), die mein Ego meinen Gefühlen oder Empfindungen gab, abzukoppeln und stattdessen das tatsächliche Gefühl wahrzunehmen. Wenn mir bewusst wurde, dass ich mir gerade selbst sagte, ich sei müde – vielleicht während meiner Mittagspause oder nach einem langen Arbeitstag –, entfernte ich sozusagen das verstandesmäßige Etikett meines Zustands und nahm das tatsächliche Gefühl bewusst wahr. Ich entdeckte, dass dieses Gefühl sehr subtil ist, beinahe so etwas wie ein Reigen verschiedener Gefühlszustände, die mit Worten wie Trockenheit, Zittern und Schwere nur unzureichend erfasst werden können. Ich stellte auch fest, dass das Identifizieren mit dem Gedanken „Ich bin müde“ – oder, wenn die Symptome heftiger waren: „Ich bin erschöpft“ – verschiedene Dinge auslöste: Zum einen wurden so die Empfindungen interpretiert und definiert, noch bevor ich ihrer gewahr geworden war, und zum anderen wurden sie zu einer Geschichte über „mich“, statt dass sie etwas blieben, was ich einfach nur wahrnahm.

Mir wurde bewusst, dass ich in einer alten Gewohnheit des Ego feststeckte: der Gewohnheit, den Dingen Namen zu geben und sich mit diesen Namen zu identifizieren. Außerdem bemerkte ich, dass mein Ego automatisch und nahezu sofort eine zweite Ebene an Gedanken erzeugte, wie beispielsweise das Urteil, ich arbeitete zu viel oder müsse meine Energie besser einteilen. Gleich darauf begann ich mir dann Sorgen zu machen, etwa, ob ich wohl fit genug sei, um das Programm des nächsten Tages durchzustehen, oder ob ich wohl krank werden würde.

Ich brachte mir also bei, aufmerksam wahrnehmend in meinem Körper präsent zu sein und die Nuancen der einzelnen körperlichen Empfindungen und Gefühle zu erleben, die sich zeigten, wenn ich Gedanken hatte wie „Ich bin müde“ oder „Ich bin in Eile“ oder auch „Mir reicht es jetzt.“ Ich entdeckte schnell, dass das Präsentsein bei diesen Empfindungen und Gefühlen sowie das Entfernen jeglicher Etiketten mich in einen leicht veränderten oder auch völlig neuen Zustand brachte. Häufig fühlte ich mich bereits besser und erholter, wenn ich es geschafft hatte, meine wirklichen Gefühle zu identifizieren – also das, was ich empfand, unabhängig von mentalen Prozessen des Benennens, Erklärens und Projizierens in die Zukunft. Selbst wenn ich tatsächlich müde war, handelte es sich nun eher um ein Gefühl des Abgespanntseins, das in seiner Natürlichkeit sogar recht angenehm war.

Ich erkannte, dass die Art, wie ich meinen Zustand benannte, zusammen mit dem Kontext anderer, unmittelbar auf die Benennung folgender Gedanken bewirkte, dass ich mir weitaus müder, erschöpfter oder ängstlicher vorkam, als dies tatsächlich der Fall war. Mit der Zeit lernte ich, dass dies für jede Empfindung und jedes Gefühl zutrifft, selbst für die dunkleren (über die wir später noch sprechen werden). Was Sie also tatsächlich erleben, ist in der Regel wesentlich weniger problematisch als die Realität, die Sie sich erschaffen, indem Sie die Dinge benennen und in einen bestimmten Kontext setzen.

Die Kraft der Präsenz

Подняться наверх