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4. Kapitel
ОглавлениеDer helle Klang einer Glocke weckte Peter im Himmel der Glückseligen, während Paul, der auf einer Bank in der Gaststube mit dröhnendem Kopf erwachte, sich in der Hölle wähnte. Elsbeth, die Magd, fegte schon seit geraumer Zeit den Boden um ihn herum. »Einen recht schönen guten Morgen«, zwitscherte sie und lächelte den arg zerknittert aussehenden Paul mitfühlend an.
Oben rekelte sich Peter wohlig und tastete mit der Hand neben sich. O himmlische Wonne! Welch prächtiger Leib und Zartheit der Haut! Herrgott, ich steh’ von diesem Lager bis in alle Ewigkeit nicht mehr auf!
Seine Hand verfing sich in wuscheligen Locken, und silberhelles Lachen ließ ihn blitzartig die verträumten Augen aufschlagen. Der vierjährige Heinerl war zu ihm aufs Bett gekrabbelt und hatte ihn lauernd von der Seite beobachtet. Und kaum hatte Peter die Augen geöffnet, als der Knabe auch schon rittlings auf ihm saß und ihm die Sporen gab: »Hopphopphopp, du faules Pferd! Ich bin der böse Ritter Heinrich. Bring mich auf meine Burg!«
Peter lachte schallend und hob den Knirps hoch. »Der böse Ritter Heinrich fällt jetzt in den Graben und wird vom Drachen Zauselmaul gefressen.«
Nachdem sie eine Weile herumgealbert hatten, fragte Peter erschöpft: »Was tust du denn schon hier?«
»Ich will dich warnen«, flüsterte der Knabe verschwörerisch.
»Wovor?«
»Krieg ich dafür auch einen Apfel?«
»Ja, du Raubritter«, lachte Peter, »nun sag schon!«
»Mutter sagt, du mußt heute zum Gericht, weil du verurteilt wirst und dann kommst du…«
»Gütiger Gott!« unterbrach Peter das fröhliche Geplapper. Der Glockenklang hatte nicht neue himmlische Freuden eingeläutet, sondern war die Ratsglocke, die ganz irdisch zur Gerichtssitzung rief. Und gleich würde sie zum zweiten Mal ertönen. Dann war es höchste Zeit.
Peter stürzte förmlich aus dem Bett. Während er damit kämpfte, das Wams zu schnüren und die Beinlinge daran zu befestigen, stiegen abwechselnd Schamgefühl und Glückseligkeit in ihm auf, je nachdem, ob er an den armen Jakob dachte, den er völlig vergessen hatte, oder sich nochmals die herrliche Prüfung vorstellte, die er in den zärtlichen Armen seiner Lehrmeisterin glorreich bestanden hatte. Er schlüpfte in den gelben Rock und mühte sich fieberhaft, die schier endlose Knopfleiste zu schließen, was ihm nur unzureichend gelang. An den Ärmeln versuchte er es erst gar nicht. Der stattliche junge Herr vom Vortag sah aus wie ein zerzauster Pirol, der gerade noch einmal der Katze aus dem Maul gehüpft war.
Trotz Peters Eile mahnte der kleine Heinrich tapfer seinen Apfel an.
»Später, Heinerl, auf Ehr und Seligkeit!« Peter schlüpfte in die Schuhe, fegte zur Tür hinaus und stürzte die Treppe hinunter in den Schankraum. Dort hatte Elsbeth zwar schon großartige Arbeit geleistet, aber trotz der weit geöffneten Läden stank es immer noch entsetzlich. Die meisten Zecher hatten sich entweder noch am Abend nach Hause gewagt oder waren bei Tagesanbruch hinausgefegt worden. Über den Rand einer schon abgeleerten Tischplatte starrte den hastenden Peter mit vor Schmerz zusammengekniffenen Augen ein Gespenst an. »Nicht so laut«, flehte es erbärmlich. Der Stimme nach mußte es Paul sein.
Peter schob ihn gnadenlos von der Bank. »Auf, du verschlafener Säufer! Wir müssen zum Rathaus.«
»Wirft mir das Saufen vor, während der feine Herr die Wirtin beglückt«, grummelte Paul, der jetzt immerhin schon die Fakten ordnen konnte. Als er endlich stand, war an seinem Rock die gesamte Speisekarte des Vortags abzulesen. Er hielt sich den Brummschädel, grinste Peter entwaffnend an und befahl sarkastisch: »Auf, laß uns den Jakob retten!« Paul wußte für sich längst, daß dazu selbst eine Armee tüchtigerer Helfer nicht ausgereicht hätte.
Sie hetzten zum Rathaus, gingen am Stadtbach noch rasch einem dringenden Bedürfnis nach und sprangen daraufhin erleichtert die Stufen hoch, als der Ratsdiener gerade anhub, die Pforten zu schließen. Er rümpfte die Nase, geleitete sie wortlos in den großen Sitzungssaal und dort zu Peters Leidwesen auch noch ganz nach vorne. Es schien so, als habe man nur noch auf die beiden pflichtvergessenen Pfleger gewartet, und aller Augen waren auf sie gerichtet. Peter flehte insgeheim, daß sich die hölzernen Dielen auftun und der Boden ihn verschlingen möge. Doch nichts dergleichen geschah, und er nestelte verlegen an seinen halboffenen Ärmeln herum.
Der Zunftmeister Ulrich Hiltpurger saß schon auf der Bank. Er nickte den beiden zu und machte ihnen keinerlei Vorwürfe. Etwas abgerückt saß Konrad Peitinger, sauber gewandet und die Nase so hoch tragend, als sei er Justitia persönlich. Hinter dieser Bank drängten sich stehend die Zuhörer, denn die Versammlung war öffentlich. Peter sah sich vorsichtig um und erblickte etliche Flößer. Die Mehrzahl der Zuhörer bestand aus Tagelöhnern, die für diesen Tag keine Gelegenheit zum Broterwerb erhalten hatten, ein paar interessierten Handwerksburschen und Hausfrauen sowie Bettlern und notorischen Nichtstuern, denen jede Abwechslung willkommen war.
Peter war insgeheim dankbar, daß der Richter die Verhandlung so schnell angesetzt hatte. Dabei waren es ganz praktische Erwägungen. Jeder zusätzliche Tag brachte der Stadt nur weitere Kosten für Unterbringung, Verpflegung und Bewachung. Wurde ein rasches Urteil gefällt, das mit Geldstrafen abgegolten oder mit Leibstrafen unverzüglich gebüßt wurde, dann war man der Kosten einer langen Kerkerhaft enthoben.
An der Stirnseite des Saales saß die Nobilität. Es war nicht der gesamte Rat einberufen worden, sondern nur der Ausschuß für Rechtsstreitigkeiten minderer Gewichtigkeit. An zwei langen Tischen und Bänken saßen je drei Mitglieder des Inneren und des Äußeren Rates, in vornehmen Roben und mit gestrengen Mienen. Den Vorsitz führte Niklas Tulbeck. Zur Linken saß an einem kleineren Tisch der Gerichtsschreiber und neben ihm der Stadtschreiber Konrad Orlos. Seine Schreibutensilien lagen akkurat geordnet vor ihm. Er hatte das Malefikantenbuch aufgeschlagen und mit schwungvoller Schrift bereits die Namen der anwesenden Ratsmitglieder eingetragen und schickte sich nun an, schon mal die Kosten für die Stadtkammerrechnung zu überschlagen. Zur Rechten saß – man könnte fast sagen thronte – Heinrich Pütrich, prächtig herausgeputzt, als gelte es den König zu begrüßen und mit der stolzen Miene des sicheren Siegers. Neben ihm saß Ludwig Pütrich, sein Bruder. Er war zwar in gutes Tuch gekleidet, doch weitaus weniger protzig. Sein dunkles, volles Haar fiel halblang in den Nacken. Sein Blick war offen. Er wirkte entweder noch erstaunlich jugendlich oder war tatsächlich erheblich jünger als sein Bruder. Es mochten gut und gerne zwanzig Jahre Unterschied sein. So direkt nebeneinander sitzend, konnte man unschwer die Ähnlichkeit der Gesichtszüge erkennen. Doch während das Antlitz des Alten hart und verbittert war, strahlte der Bruder noch Wärme und Freundlichkeit aus. Er schien sich unwohl zu fühlen in der Rolle des Anklägers oder auch nur des Zeugen, und es war ihm anzusehen, daß er die Angelegenheit lieber anders aus der Welt geschafft hätte.
Auf ein Zeichen des Vorsitzenden hin öffnete der Saaldiener eine rückwärtige Türe, und der Beklagte wurde hereingeführt. Es ging ein Raunen durch die Zuhörer, und Peter erschrak zutiefst. Selbst Paul in seiner Abgeklärtheit brummte: »Pest und Hölle, das ist nicht der Jakob!«
Die erbärmliche Gestalt sah so aus, als hätte sie Urteil und auch Strafe schon hinter sich. Beinlinge und Hemd waren zerschlissen und hingen in Fetzen um den geschundenen Körper, der überall Schürfwunden und verkrustetes Blut aufwies. Die linke Stirn und Gesichtshälfte war blaugrün verfärbt und so heftig geschwollen, daß das Auge kaum aufging. Das Hemd war rechtsseitig an Schulter und Brust blutgetränkt. Die einzige Fürsorge, die man ihm hatte angedeihen lassen, war ein schmutziges Tuch, das um den Hals geknotet war und in dem der rechte Arm ruhte. Die linke Hand versuchte zusätzlich die rechte am Körper zu halten. Die ganze Gestalt war leicht nach links gekrümmt, als könne sie nur in solch ungewohnter Haltung einigermaßen atmen.
»Seid Ihr der Flößer Jakob Krinner aus Wolfratshausen?« richtete der Vorsitzende das Wort an das Bündel Elend.
Erst auf zweifaches Anstoßen des Gerichtsdieners hin erfolgte ein kaum vernehmbares »Ja«.
Nun war es zwar Gewißheit, aber Peter mochte es noch immer nicht glauben. Jakob schien furchtbare Schmerzen zu haben, denn mit jedem Atemzug, bei dem sich nur die rechte Seite sichtbar hob, stöhnte er hörbar auf. Peter verstand kaum etwas von der Kunst des Baders, aber es machte den Eindruck, als hätte Jakob linksseitig ein paar Rippen gebrochen oder zumindest schwer geprellt. Und rechts waren an Schulter und Arm vielleicht gar Knochen zersplittert, denn es hatte den Anschein, daß der Flößer den Arm nicht mehr gebrauchen konnte.
»Ihr werdet beschuldigt«, fuhr Niklas Tulbeck fort, »den ehrenwerten Kaufmann und Mitglied des Inneren Rats dieser Stadt, Heinrich Pütrich, um kostbares Gut gebracht und darüber hinaus an Leib und Leben bedroht zu haben.«
»Derselbe Schafsmist wie gestern«, raunte Paul seinem Freund zu.
»Bekennt Ihr Euch dieser Vergehen schuldig?«
Trotz der unsäglichen Schmerzen richtete sich die Gestalt des Beklagten plötzlich auf, und mit stockender und etwas gepreßter Stimme, aber laut und deutlich vernehmbar, erwiderte Jakob: »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, dessentwegen ich mich schämen oder verantworten müßte. Ich klage vielmehr diese beiden Herren an«, er nickte kurz in Richtung der Pütrichs, »ein falsches Spiel mit mir getrieben und mich einem gedungenen Mörder in die Hände geliefert zu haben. Darüber hinaus bin ich Einwohner des Marktes Wolfratshausen und gehöre als Floßmeister der Zunft der Wolfratshauser Flößer an. Ich verlange daher, daß meine Sache nach dortigem Recht verhandelt wird!« Die Rede hatte ihn sichtlich erschöpft, denn Jakob fiel wieder in die gekrümmte Schonhaltung zurück.
»Das ist doch…«
»Einen Augenblick, werter Herr Pütrich«, bremste der Vorsitzende den Kaufmann, der schon wieder lospoltern wollte. Und an Jakob gerichtet fuhr er fort: »Das mag schon sein und möglicherweise werdet Ihr auch dort noch zur Rechenschaft gezogen werden. Doch bedenkt, Ihr befindet Euch jetzt in München und habt die Habe eines Bürgers dieser Stadt veruntreut. So ist es auch rechtens, ihn und Euch hier anzuhören.«
Jakob erwiderte nichts, vielleicht vor Schmerzen, vielleicht weil es ihm schon sinnlos erschien.
Die Zuhörerschaft war ganz offensichtlich gespalten. Die einen bewunderten die kühnen Worte Jakobs und freuten sich, daß da einer von ihnen den Reichen und Hochwohlgeborenen die Stirn bot. Die anderen murrten, weil sie befürchteten, es könne ihnen ein Schauspiel entgehen, wenn Jakob recht bekäme. Aber dies war nach den Worten des Vorsitzenden nicht mehr zu erwarten.
Tulbeck forderte nun den Kaufmann auf, seine Darstellung der Ereignisse vorzutragen. Pütrich, dem schon anzusehen war, daß er sich kaum mehr zurückhalten konnte, erhob sich, warf sich in die Brust und erfüllte den Raum mit weitschweifigen Ausführungen über seine Herkunft, die Leistungen seiner Vorfahren und eigene Verdienste. Dabei geizte er nicht – entgegen seiner Haltung, wenn es um den Pfennig ging – mit geringschätzigen Bemerkungen über das niedere Volk und dessen Undank.
»So ein eitler Pfau«, giftete Peter, »man sollte ihn rupfen und ihm die eigenen Federn ins Maul stopfen.«
Paul grunzte Zustimmung.
Schließlich kam Pütrich doch noch auf den Vorfall zu sprechen, schilderte Auftrag, Umfang und Wert der Ware und beklagte, daß er damit bereits die vierte Floßladung verloren habe. Diesmal sogar bis auf den letzten Stamm und das letzte Faß. Seine Geduld sei nun am Ende. Er beschloß seinen wortreichen Auftritt, indem er von Jakob das Bild einer blutrünstigen Bestie zeichnete, die ihm nach dem Leben getrachtet habe.
»Welcher Art sind die Beweise, die Ihr vorzubringen habt?«
»Daß Floß und Ladung verloren sind, das hat der Angeklagte ja selbst schon zugegeben. Und daß er mich in meinem Hause bedroht und angegriffen hat, dafür stehen außer mir der Hausdiener Anselm und die Magd Walburga ein. Ihr könnt sie befragen, so Ihr es noch für nötig erachtet.«
»Später vielleicht. Meister Krinner, berichtet nun Ihr! Doch rat’ ich Euch, bei der Wahrheit zu bleiben und Euch falscher Anschuldigungen zu enthalten, damit Euch nicht auch noch falsches Zeugnis zur Last gelegt wird.«
Jakob schilderte nun, immer wieder von Schmerzen und Aufstöhnen unterbrochen, wie Ludwig Pütrich an ihn herangetreten sei, wie er sich nach Garmisch aufgemacht und Floß und Wein übernommen habe. Er beschrieb die Schwierigkeiten, einen Styrer und Drittfergen zu finden und wie er sich schließlich auf Roland eingelassen habe. »Die Fahrt ging erst gut, ich konnt’ nicht klagen. Sogar am großen Heiner vorbei, ohne eine Schramme. Und dann hat der Hund plötzlich verrückt gespielt.« Jakob war jetzt deutlich die Erregung anzumerken, als er laut und stoßweise fortfuhr: »Hat’s Floß ans Ufer getrieben… hat die Hacke gepackt… und wollt’ mich erschlagen.«
Für einige Augenblicke war es totenstill im Saal.
»Das glaubt Euch doch keiner, die Mär vom bösen Riesen. Ihr selbst habt das Floß ins Verderben geführt und redet Euch jetzt heraus!« Pütrich sprang auf und ging drohend ein paar Schritte auf Jakob zu.
Der ließ sich jedoch nicht einschüchtern und brüllte nun seinerseits: »Es war doch Euer Mann, fragt Euren Bruder! Ihr habt zu erklären und zu verantworten, warum Ihr mir diesen Mörder auf den Hals gehetzt habt! Seh’ ich vielleicht so aus, als hätt’ ich mit dem Kerl eine Spazierfahrt unternommen?«
Einige der Zuhörer lachten. Doch Jakob hatte es nicht komisch gemeint. Aus ihm sprachen Bitterkeit und Enttäuschung. Er verstand nicht, was passiert war und erst recht nicht, was hier im Saal vorging. Ihm wurde nur immer bewußter, daß man ihm übel mitspielte, und er erinnerte sich an die Warnungen von Lies.
»Wen die Isar überrollt, der sieht selten gut aus«, versuchte der Vorsitzende den Gang der Verhandlung wieder in den Griff zu bekommen. »Könnt Ihr diesen angeblichen Anschlag auf Euch beweisen?«
»Wie denn, wo ich kaum weiß, wie ich hierhergekommen bin? Ich erinnere mich nur dunkel daran, daß mich der Fluß irgendwo ans Land gespuckt hat und ich mich den Hang hinaufgekämpft habe, bevor es wieder Nacht um mich wurde. Als ich erwachte, lag ich auf dem Karren von ein paar Männern, die nach München fuhren, um Korn und Salz für die Wachmannschaft von Baierbrunn zu holen. Sie hatten nichts Verdächtiges gesehen, auch nicht den Strolch.«
»Wie kann das Gericht Euch dann glauben?«
»Warum schickt Ihr nicht Reiter aus, die Leute befragen und die Gegend absuchen? Wozu hat der König Euch das Recht der Nacheile erteilt, wenn Ihr die Lumpen laufen laßt?«
»Schreibt dem Rat nicht vor, was er zu tun hat! Bei den bedrohlichen Nachrichten allenthalben über möglichen Krieg, werden wir uns hüten, auf vagen Verdacht hin wehrfähige Männer auszusenden.«
»Die glauben ihm doch nicht«, flüsterte Peter seinem Nachbarn zu.
»Woher wissen wir denn, ob dieser gefährliche Riese überhaupt existiert? Hat ihn außer Euch vielleicht noch jemand gesehen?« fragte Tulbeck mit unverhohlenem Zweifel.
»Fragt Herrn Pütrich.«
Der Bruder des Kaufmanns trat nach Aufforderung vor und brachte mit weicher, angenehmer Stimme sein Bedauern zum Ausdruck: »Ich fürchte, Herr Krinner, ich kann da nichts für Euch tun. Dieser – wie nanntet Ihr ihn? Robert, oder so ähnlich – ist mir nicht bekannt.«
»Der Kerl ist glatt wie Fischhaut. Das stinkt doch zum Himmel«, brummelte Paul.
»Aber, aber Ihr…« Jakob stammelte vor Fassungslosigkeit. »Ich meine, es… Ihr habt… er sagte, Ihr hättet ihn geschickt.«
»Hat er das? Dann hat er wohl gelogen. Es sei denn – ja, das könnte vielleicht sein. Er könnte Ludwig, den Sohn meines Bruders, gemeint haben. Doch der weilt geschäftlich in Venetien. Merkwürdig. Sagte er denn, welcher Ludwig ihn geschickt habe?«
»Nein«, mußte Jakob kleinlaut einräumen und führte dann in seiner Verzweiflung noch Meister Heimprecht an.
»O nein, nein!« winkte Tulbeck ab. »Das ist Gerichtsbezirk des Freisingers. Und wer garantiert, daß nicht der Freund für den Freund falsch aussagt?«
Jakob sah seine Felle immer mehr davonschwimmen.
»Ihr habt uns von Euren Schwierigkeiten mit der Anstellung von Floßgehilfen berichtet«, fuhr Niklas Tulbeck fort, »aber hättet Ihr bei Hochwasser ohne einen Drittfergen überhaupt losfahren dürfen? Schreibt dies nicht die Zunftordnung zwingend vor, gegen die Ihr somit verstoßen habt? Wir wollen hierzu Meister Hiltpurger hören.«
Der Floßmeister mußte notgedrungen einräumen, daß es die Bestimmung gäbe.
»Aber es ist wahr«, platzte jetzt Peter heraus, »daß der Jakob…«
»Ihr wollt etwas sagen?« unterbrach ihn der Vorsitzende barsch.
»Ja freilich, denn der Jakob…«
»Dann wartet gefälligst, bis man Euch das Wort erteilt!«
Peter warf ihm wütende Blicke zu, doch Tulbeck hatte das Sagen und rief nun auch noch das Ekel Peitinger auf. »Der Pfleger Konrad Peitinger, zuständig für die untere Lände der Stadt München, insonderheit der Weinlände, mag uns seinen Eindruck von der Zuverlässigkeit des Fergen Krinner geben.«
Mit einem widerlichen Grinsen im Gesicht trat der Pfleger an Peter und Paul vorbei nach vorne. »Es war im Frühjahr, daß ich den da« – er deutete geringschätzig auf Jakob – »dabei erwischt hab’, wie er Wein unterschlagen hat. Ich hatte ihn ja schon lange in Verdacht, daß er säuft und dann die Fässer mit Wasser auffüllt. Aber dieses Mal hat es dank meiner Aufsicht nicht geklappt und ich hoffe, er kriegt jetzt die Strafe, die er verdient.«
Unter den Flößern brach Tumult aus.
Nachdem mühsam wieder Ruhe eingekehrt war, wandte sich Tulbeck mit gespielter Freundlichkeit an Peter und Paul: »Möchten die Herren Pfleger Barth und Knoll zu den Ausführungen noch etwas bemerken?«
Leicht verwirrt stand Peter auf und suchte nach den richtigen Worten: »Ja, ich meine… der Jakob, nein der Peitinger… Verflucht, ich rede wie ein Idiot! Also der Pekinger ist einer, den keiner so recht mag…«
»Ganz recht!…Woher auch!« mischten sich die Flößer ein.
»…und das wurmt den Peitinger, und deshalb hat er eine Stinkwut auf alle. Und weil er dem Jakob nichts anhängen kann, deshalb lügt er wie Adam unterm Apfelbaum. Der Jakob hat sich noch nie das kleinste zuschulden kommen lassen. Möcht’ ich mal sagen. Ja, das war’s.« Peter setzte sich und fühlte sich erbärmlich. Wenn die Fürsprecher im Himmel ähnlich beeindruckten, dann war es kein Wunder, daß auf Erden so vieles danebenging. Paul versuchte es gar nicht erst und nickte nur zustimmend.
Als hätte er Kreide gefressen, wandte sich Tulbeck mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit wieder an Peter: »Geschätzter Herr Barth, nehmen wir doch einmal an, ein ehrbarer Mitbürger, gut gekleidet und wohlgelitten, käme zu Euch und erzählte einen Sachverhalt, der durchaus glaubhaft erschiene. Und gleich darauf käme ein anderer, der aussähe, als hätte man ihn soeben aus dem Stadtgraben gefischt. Wem würdet Ihr wohl eher Glauben schenken?«
Das saß! Peter hätte sich ohrfeigen mögen für seine Nachlässigkeit. Er durfte jetzt gar nicht zum Peitinger hinüberschauen, sonst würde er wahrscheinlich in das triumphierende Gesicht prügeln.
Jakob, der sich ziemlich verloren vorkam, versuchte noch einen letzten Vorstoß. »Ich bitte Euch, ehrenwerte Herren, befragt hierzu nochmals den Bruder von Herrn Pütrich.«
»Mein Bruder, mein Bruder!« würgte der alte Kaufmann erregt das Ersuchen Jakobs ab. »Noch bin ich, Heinrich Pütrich, der Vorsteher des Handelshauses, und es waren mein Floß, mein Wein und mein Geld, was diese pflichtvergessene Kreatur« – er streckte seinen knochigen Zeigefinger nach Jakob aus, als sei er schon das Richtschwert – »durch eigenes Verschulden veruntreut hat. Und ich verlange, daß er dafür aufs härteste bestraft wird!«
»Dessen seid gewiß«, beschwichtigte Tulbeck, »doch laßt uns erst die ganze Schuld ermitteln. Ihr erwähntet noch einen tätlichen Angriff. Bekennt sich der Ferge Krinner dessen schuldig?«
Jakob schüttelte nur mehr müde den Kopf. Sollten sie doch behaupten, was sie wollten.
»Dann rufe ich den Hausdiener Anselm auf!«
Ein gebeugt schlurfender Greis wurde nach vorne geführt.
»Erinnert Ihr Euch an Jakob Krinner?«
»Häh?«
»Erkennt Ihr diesen Mann wieder?«
»Jaja, ganz bieder.« Anselm lachte freundlich.
»Habt Ihr ihn schon einmal gesehen?«
»Häh?«
»Der ist taub, wie der Jäger unterm Wasserfall«, freute sich Paul.
»Hat dieser Mann Herrn Pütrich bedroht?«
»Herr Pütrich ist tot?« fragte der Greis entsetzt zurück.
Der Vorsitzende gab es auf. »Holt die Magd herbei!«
Walburga knickste artig, schaute sich nochmals um und blickte keck in die Runde der Zuhörer. Sie genoß den Auftritt und war sich ihrer Wichtigkeit bewußt. Dann legte sie los: »Also, dieser Wüterich da hat fast die Haustüre eingetreten. Und dann ist er auf mich los, mit grün leuchtenden Augen und fürchterlich gebrüllt hat er. Und wie mir der Herr Pütrich zu Hilfe kam« – sie lächelte zu ihm hinüber und knickste nochmals kokett –, »da hat sich der da wie der leibhaftige Gottseibeiuns auf ihn gestürzt und den Herrn Kaufmann gewürgt, daß es mich ganz entsetzlich gegraust hat, und dem Herrn Pütrich sind schon die Augen aus dem Kopf getreten und da…«
»Seht Euch den Mann einmal genau an!« unterbrach der Ratsvorsitzende unwirsch, »glaubt Ihr, der könnte jemanden so würgen, wie Ihr sagtet?«
»Naja, also gefährlich sah er schon aus, wie er so dastand und geschrien hat und…«
»Schluß jetzt mit diesem unseligen Schauspiel!« Tulbeck war verärgert. Er war ja den Argumenten Pütrichs höchst geneigt, aber auf den Arm nehmen lassen wollte er sich nicht.
Walburga schlich unter den giftigen Blicken des alten Pütrich heulend in die Menge zurück, die sie auch noch nachäffte, indem die einen ungelenk knicksten und andere mit den Fingern eine schnatternde Gans imitierten.
Die Sachlage schien eindeutig zu sein, denn es dauerte kaum länger als die Spanne, die Paul gewöhnlich für die Vertilgung eines Stück Bratens nebst einem Humpen Bier benötigte, bis der Rat zu einem Urteil gekommen war.
»Im Namen des allerhöchsten und ehrenwerten Rates der Stadt München ergeht folgender Spruch: Den Floßmeister Jakob Krinner, aus Wolfratshausen stämmig, trifft nach eingehender Prüfung nicht der Vorwurf unziemlichen oder gar räuberischen Übergriffs auf den Kaufmann und ehrenwerten Rat Heinrich Pütrich. Für das Auftreten und den erhobenen Vorwurf des Mordversuchs eines gewissen Roland, keinem der Anwesenden bekannt, ist der Beklagte einen hinreichenden Beweis schuldig geblieben. Es gilt somit als erwiesen, daß der Ferge durch grobe Mißachtung zünftiger Regeln und durch eigenes Verschulden den Kaufmann um Hab und Gut gebracht und ihn schwer geschädigt hat. Die Flößerordnung verlangt hierfür die Stadtacht, bis der Beschuldigte die Huld des Geschädigten wieder erlangt hat. Das Urteil ist allsogleich zu vollstrecken. Die Sitzung ist hiermit geschlossen.«
Jakob war kreidebleich. Er würde den Kaufmann nie entschädigen können, denn es handelte sich ja nicht nur um ein verlorenes Faß oder geringfügig zerbrochenes Gut, sondern um ein vollständiges Floß mit der gesamten Ladung. Und selbst dann nicht, wenn das eine oder andere noch zu retten wäre, worauf wenig Hoffnung bestand. Somit konnte der Richterspruch nur bedeuten, daß er auf Lebenszeit die Stadt nicht mehr betreten durfte, ohne mit fürchterlicher Bestrafung rechnen zu müssen.
»Das, das könnt Ihr nicht wollen«, stammelte Jakob verzweifelt. »Ich fleh’ Euch an bei Gottes Barmherzigkeit und dem Leben meiner Kinder. Ihr wißt, was dies bedeutet. Verlangt, was Ihr wollt, und ich will versuchen es zu beschaffen, aber ruiniert mich nicht!«
Der knorrige Alte stand hocherhobenen Hauptes und mit verschränkten Armen da, abweisend, gnadenlos. Zufrieden und selbstgerecht beschied er Jakob: »Ihr habt es Euch selbst zuzuschreiben!«
»Und Ihr?« Jakob schaute flehentlich auf den jüngeren Pütrich. Doch der blickte verlegen zur Seite, sagte nichts.
Die Knechte des Richters nahmen den Gedemütigten sogleich in ihre Mitte und drängten zum Ausgang. Die Menge wich schweigend zurück. Auf der Stiege zum Rathaus hielten die Knechte nochmals kurz an, und einer verlas Urteil und Begründung, für alle vernehmlich. Es war um die Mittagsstunde und glücklicherweise hatte sich das Markttreiben schon etwas gelichtet. Dennoch strömte noch eine Unzahl Gaffer herbei, um dem Schauspiel beizuwohnen. Und sie bekamen es, denn Jakob richtete sich plötzlich noch einmal zu voller Größe auf und schrie mit aller innerer Kraft, deren er noch fähig war: »Pütrich, ich verfluche dich für das Unrecht, das du mir angetan! Du sollst fürderhin keine Freude mehr haben und deiner Lebtag keine Ruhe mehr finden. Der Herr soll dich, deine Nachkommen und deren Kinder mit Plagen überhäufen und dich vernichten, so wie du mich vernichtet hast!«
Der Fluch schallte über den Marktplatz, in die angrenzenden Gassen hinein und bis hinüber zur Burg. Die Menge erschauerte. Pütrich konnte noch von Glück reden, daß Jakob nicht der Strafe durch den Henker unterzogen wurde, denn der Fluch eines Todgeweihten war von fürchterlicher Kraft.
Die Knechte stießen Jakob vorwärts. Er taumelte und schien jetzt völlig entrückt zu sein und kaum mehr etwas wahrzunehmen von dem, was um ihn herum vorging. Er wankte gebrochen über den Marktplatz und in die Rosengasse hinein. Selbst als der Weg, wie zum Hohn, an der trutzigen Behausung der Pütrichs neben dem inneren Sendlinger Tor vorbeiführte, blieb Jakob äußerlich ungerührt.
Peter versuchte einmal zu ihm vorzudringen, rief ihn an: »Jakob, wir stehen zu dir, halt aus…« Aber er wurde barsch abgedrängt und beschieden: »Jedermann aus der Stadt hat sich des Umgangs mit dem Verurteilten zu enthalten!« Peter hätte vor Wut heulen mögen.
Es war seltsam. Keiner von denen, die den Weg säumten, schmähte den Jakob. Kein Halbwüchsiger feixte oder warf Steine, wie es sonst grausames Spiel war. Vielleicht, weil Jakob nicht den Schandstein schleppen mußte und seine Ausweisung auf Zeit und nicht unehrenhaft war. Wahrscheinlicher aber deshalb, weil die Flößer dem Jakob stilles Geleit gaben und nur allzu bereit gewesen wären, jeden Steinewerfer oder Krakeeler mit kräftigen Armen zur Seite zu nehmen und ihn ihre ohnmächtige Wut spüren zu lassen. Es war das wenigste, was sie für Jakob noch tun konnten.
Schweigend gelangte der Zug schließlich am äußeren Sendlinger Tor an. Von dort aus war das Haus des Henkers zu sehen, und die Knechte versäumten es nicht, darauf hinzuweisen und Jakob genüßlich auszumalen, was ihm bei unerlaubter Rückkehr drohte. Dann stießen sie ihn hinaus in eine ungewisse Zukunft.