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3. Kapitel
ОглавлениеSchon der Morgen des 29. Juni 1319 kündigte sich mit strahlendem Sonnenschein an. Es schien ein Wetter zu werden, wie es für einen Feiertag nicht schöner sein konnte. Kein Wölkchen trübte den Himmel über München, und die Bewohner der Stadt hätten sich unbeschwertem Feiern hingeben können, wenn sich nicht andernorts bereits drohendes Unheil zusammengebraut hätte.
Es war der Festtag der Apostelfürsten Peter und Paul, und da Münchens älteste Pfarrkirche zumindest dem einen der beiden geweiht war, war dieser Tag etwas Besonderes. Freilich gab es im Volk auch Stimmen, die ihn eher zu einem Unglückstag erklärten, denn – so ihre Ansicht – wo zwei regieren, da könne dies nicht gutgehen. Und der heftige Streit der herzoglichen Brüder während der vergangenen Jahre schien ihnen hierbei völlig recht zu geben.
Der Dekan von Sankt Peter las in der überfüllten Kirche eine feierliche Messe und hob in seiner kurzen Ansprache vor allem die Schlüsselgewalt Petri hervor, wobei er eigentlich die oberste Gewalt des Nachfolgers Petri in allen geistlichen und weltlichen Fragen unterstreichen wollte, was augenblicklich schon etwas verwegen war, wenn man bedachte, daß der Papst seit über zehn Jahren in Avignon im Exil residierte und dabei ganz dem Einfluß des französischen Königs ausgesetzt war.
Die einfachen Leute aber liebten ihre Apostelheiligen ganz einfach deshalb, weil diese in ihrem irdischen Dasein nur allzu menschlich gewesen waren. So konnte Petrus ein recht unbeherrschter Zornbinkel sein, der dem armen Knecht Malchus auf dem Ölberg einfach ein Ohr abschlug. Dafür verschlief er die Todesangst seines Herrn und verleugnete ihn mutig. Und Paulus war als Saulus erst ein rechter Christenfresser, bevor ihn der Herrgott vor den Kopf schlug und bekehrte. Bei soviel Vorbild und Gnade durfte es wohl auch anderen Sündern noch gelingen, sich ein Plätzchen im Paradies zu erwerben.
Nach dem Hochamt teilte sich die Gemeinde: Die Nachkommen Adams strebten mit einer Selbstverständlichkeit den Wirtshäusern zu, als wäre dies schon im Garten Eden der Brauch gewesen. Die Töchter Evas entsagten notgedrungen – und nicht ganz so selbstverständlich – einem längeren Schwatz und begaben sich an den heimischen Herd: die Vornehmeren, um das Gesinde zu überwachen, die weniger Begüterten, um eigenhändig Forellen und Weißfische – es war Freitag – zu braten, Gemüse zu garen und Knödel zu drehen. Selbst den Armen und Siechen bereitete man an diesem Tag vor St. Peter und im Heiliggeistspital ein großzügiges Mahl, das mehr enthielt als Hafergrütze und Dünnbier.
Eines der beliebtesten und meistbesuchten Wirtshäuser der Stadt – und davon gab es reichlich – war der Maenhartbräu im Tal Mariä, schräg gegenüber der Spitalkirche. Das hatte seinen Grund nicht etwa darin, daß er besonders prachtvoll oder gar vornehm gewesen wäre. Die Gaststube war eng und rußgeschwärzt, stinkend und verraucht wie anderswo und die Lautstärke eher noch gewaltiger. Aber das Haus hatte drei unschlagbare Trümpfe: eine hervorragende Lage, ein ausgezeichnetes Bier und eine ebensolche Wirtin. Die schwerbeladenen Salzkarren aus Reichenhall – an manchen Tagen bis zu zwanzig und mehr –, Kaufmannszüge aus Wasserburg, Bauern aus den Dörfern rechts der Isar, die mit ihren Feldfrüchten zum Markt drängten, sie alle kamen von der Isarbrücke herauf, betraten die Stadt durch das Tor beim Kaltenbach und standen kurz darauf vor dem Wirtshaus, aus dem von morgens bis abends fröhliche Zecher grölten und zum Verweilen einluden. Das Gasthaus war Treffpunkt, Erholungsstätte und Nachrichtenbörse in einem. Und es war Herberge und Stammtisch der Flößer, die mangels eines eigenen Zunfthauses derzeit dort im Hinterzimmer noch ihre Zunftsitzungen abhielten.
Bier war in jenen Tagen fast noch eine Kostbarkeit. Als Hauptgetränk galt selbst beim gemeinen Mann noch immer der Wein, freilich oft ein billiger und saurer Fusel, der den Namen Wein gar nicht verdiente. Die Vergabe des Braurechtes oblag nicht etwa dem Rat, sondern war noch Lehensrecht des Landesherrn, der es als Gunst oder gegen fette Gebühren an wohlhabende Bürger verlieh. Und wer das Braurecht besaß, der wiederum mußte nicht unbedingt auch brauen, sondern konnte das Recht an einen gelernten Braumeister verpachten. Der durfte nun nicht einfach in seiner Behausung drauflos sieden und mälzen, sondern nur im dafür ausgewiesenen Bräustadel, von denen es, abgesehen von den klösterlichen Braustätten, in der alten Stadt Heinrichs des Löwen gerade mal zwei gab. Wer dort allerdings sein Bier braute, dem stand auch das Recht des Ausschanks zu.
Der junge Maenhart war ein aufgeweckter und gewitzter Bursche. Nachdem er als Brauknecht ausgelernt hatte, verdingte er sich erst als Zuschenk und besserte seinen Lohn durch Hilfsdienste beim städtischen Mauerbau auf. Als Herzog Ludwig 1313 nach Gammelsdorf ins Feld zog, kam Maenharts große Stunde. Er befand sich im städtischen Aufgebot und sorgte dabei mit für die Verpflegung des Heerhaufens. Nach dem glücklichen Ausgang der Schlacht entstanden zahlreiche Legenden. Wahr aber soll sein, daß Maenharts Bier die wackeren Streiter im Lager bei Laune hielt, so daß seiner Kunst ein beträchtlicher Teil des Erfolges zukam. Ludwig zeigte sich denn auch erkenntlich, indem er Maenhart das Braurecht verlieh. So jedenfalls erzählte es der Wirt später mit einem Augenzwinkern gerne seinen Gästen. Er wußte längst, daß das Gastgewerbe in der östlichen Erweiterung der Stadt Zukunft hatte, erstand dort nach und nach ein ganzes Eckhaus und gründete mit Zustimmung des Rats sein eigenes Bräuhaus. Und da Agnes, sein fesches Weib und die Seele des Ganzen, die Gäste bewirtete und auch beherbergte, florierte das Unternehmen rasch. Der Beruf gab der Familie schließlich auch den Namen.
Unglücklicherweise erlag Maenhart Bräu wenige Jahre später einer schweren Influenza. Seither führte die tüchtige Agnes das Wirtshaus alleine, mußte allerdings einen Zuschenk einstellen, der sich ums Bier kümmerte. Sebastian Graessel, den alle nur den Wast nannten, war treuherzig, aber etwas grobschlächtig, und das Rad hätte er nie und nimmer erfunden. Und er war so abergläubisch wie der Teufel geil. Am Gründonnerstag konnte man ihn sehen, wie er frische Brennesseln schnitt und sie im Keller um die Fässer mit jungem Bier herum verteilte. Sie sollten das kostbare Getränk davor bewahren, bei Gewitter umzuschlagen und sauer zu werden. Man sagte ihm gar nach, er habe dem Henker den Daumen eines Diebes abgeschwatzt und ihn am Galgenstrick über die Fässer gehängt, um dadurch das Bier haltbarer zu machen.
Bei aller Nachrede, eines mußte ihm der Neid lassen: Sebastian verstand etwas vom Brauen, und sein Sud stand dem des Maenhart in nichts nach. Neben kräftigem Braunbier und dem etwas schlechteren Dünn- oder Halbbier braute er vor allem Greußing, ein süffiges Weizenbier aus Malzwürze mit wenig Hopfenzusatz, das gerne getrunken wurde, obwohl es teurer war als der übliche Gerstensaft.
Trotz seiner unbestreitbaren Verdienste um die durstigen Kehlen war Sebastian wegen seiner etwas unbeholfenen und einfältigen Art im Umgang mit den Gästen immer wieder dankbare Zielscheibe gnadenlosen Spotts. Und heute hatte er besonders zu leiden, denn gleich nach der Messe füllte sich das Wirtshaus bis auf den letzten Platz, und besonders am Tisch der Flößer ging es hoch her. Glücklicherweise kam ihm immer wieder Agnes zu Hilfe, die ihn vor bissigen Bemerkungen schützte und ihm auch sonst tüchtig zur Hand ging. Agnes war überhaupt ein Phänomen. Sie war hübsch, wie es manch hochgestellte Bürgerstochter nicht war. Unter der weißen Haube quollen kastanienbraune Locken mit rötlichem Schimmer hervor. Das oben eng geschnürte Kleid konnte die volle Pracht kaum bändigen, und auch sonst hatte der Herrgott das Fleisch um Adams Rippe herum gut verteilt. Zwei braungrüne Augen sahen ihr Gegenüber keck und herausfordernd an. Sie hatte gelernt sich durchzusetzen und ging keiner Auseinandersetzung aus dem Weg. Dabei konnte sie schnurren wie ein Kätzchen und fluchen wie ein Fuhrknecht. Sie hätte dem Teufel ein Barthaar abgeschwatzt und dem Papst am Karfreitag Pastete verkauft. Agnes schmiß den ganzen Laden mit Hingabe und Übersicht, auch wenn es ihr manchmal fast zuviel wurde. Sie kümmerte sich um Vorräte und Küche, bediente und unterhielt die Gäste, beaufsichtigte die Mägde, fädelte Handels- und Kreditgeschäfte ein, manchmal mit Eigenbeteiligung, und schließlich erzog sie auch noch ihre zwei halbwüchsigen Söhne, den Heinrich und den Perchtold. Es gab Zeiten, da fehlte ihr der Maenhart sehr, und sie sehnte sich nach ihm oder auch einfach nach einem Mann im Haus. Andererseits hatte sie auch die Vorzüge des Witwendaseins zu schätzen gelernt und wollte es mit einer Wiederverheiratung nicht überstürzen. Denn das fortschrittliche Münchner Stadtrecht kannte die Geschlechtsvormundschaft des Mannes nicht mehr, so daß nach dem Tod ihres Gatten nicht etwa ein Bruder oder Oheim über sie zu bestimmen hatte. Und da die Braumeister zwar eine lose Vereinigung, aber keine eigentliche Zunft waren, hatte ihr auch von dieser Seite keiner dreinzureden. Sie war handels- und rechtsfähig, zahlte ihre Steuern und lebte ansonsten unbehelligt ihr fröhliches Leben. Das heißt, nicht ganz, denn die jungen Mädel, die in ihr die Konkurrentin sahen, die Ehefrauen der stolzen Gockel, die in der Wirtsstube um die Agnes balzten, die Klatschweiber und Marktfrauen der Stadt, die Honoratioren, Moralapostel und abgeblitzten Verehrer, sie alle zerrissen sich lebhaft das Maul über sie. Aber das täten sie natürlich so oder so, und Agnes war es zum Glück gleichgültig.
»Hat sie denn keinen Anstand? Will sich nicht mehr binden und nur allweil rumhuren.« So hieß es jetzt. Und da Agnes ums Jungfernkränzl auch wahrlich nicht mehr fürchten mußte, konnte sie als Witwe ihre Gunst auch großzügiger verteilen.
»Hat sie ihrem Gatten denn nicht die Treue halten können? Kaum ist er unter der Erd’, schon verdreht sie den Burschen den Kopf und schnappt der ehrbaren Jungfer den Mann weg.« So würden sie über sie herziehen, wenn Agnes wieder vor den Traualtar träte.
Dabei würde sich so mancher Bursch tatsächlich die Finger abschlecken, wenn er die Agnes kriegen könnte, war sie doch eine ausgezeichnete Partie. Einer, der sich den größten Hoffnungen in dieser Richtung hingab, war der Wast. Er mühte sich auch redlich, sowohl was die Arbeit als auch sein Augenmerk auf die Wirtin betraf. Aber leider war Agnes bislang so gar nicht für seine plumpe Art empfänglich. So mußte der Wast beinahe in jedem männlichen Wesen einen potentiellen Rivalen wittern, was ihn nicht gerade umgänglicher machte. Manchmal war er sogar auf die Buben der Agnes eifersüchtig, ganz besonders aber – und dies noch nicht einmal zu Unrecht – auf einen jungen Burschen namens Peter Barth.
Der kam gerade zur Tür herein in Begleitung eines etwas kleineren, rundlichen Mannes. Sofort wurde es noch lauter in der Gaststube und großes Hallo ertönte, denn Peter und sein Begleiter Paul waren die irdischen und greifbaren Namensvettern der Apostelfürsten, deren Gedächtnis man heute beging.
»Wo bleibt ihr denn solange? Wir wollen endlich auf euch anstoßen. Wast, schieb noch einen halben Eimer Greußing rüber und zwei Becher, aber schlaf nicht ein dabei!«
Ganz gewiß nicht, denn jetzt würde er erst recht auf die Agnes aufpassen und sie wie ein Haftelmacher im Auge behalten. Die Floßleute rückten zusammen, nahmen die beiden Neuankömmlinge in ihre Mitte und ließen sie ein ums andere Mal hochleben.
Andreas und Michl, Benedikt und Alois, Mathes und Leonhart, der Isarstier, Meister und Knecht, sie alle brüllten fröhlich durcheinander, überboten sich in Trinksprüchen und stießen lachend die vollen Becher zusammen, daß es nur so schwappte. Und die anderen Gäste hielten sich weiß Gott nicht zurück, denn erstens war jeder dabei, wenn es was zu feiern gab, und zweitens waren die zwei unechten Heiligen weithin in der Stadt bekannt.
Es war in der Tat ein höchst eigenartiges Gespann.
Peter hatte gerade erst das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet und stand in voller Blüte seiner Jugend. Er war hochgewachsen, schlank und drahtig. Dunkle Locken umrahmten ein freundliches, weiches Gesicht, das glattrasiert war, und in das das Leben noch keine Kerben gegraben hatte. Zwei sanfte, braune Augen leuchteten noch so unschuldig, daß sie bislang kaum des Bösen in der Welt ansichtig geworden sein konnten. Die enganliegenden Beinlinge waren aus dunklem Tuch geschnitten und steckten in ledernen Schlupfschuhen, deren Spitzen leicht nach oben zeigten. Der Rock war schon modisch gekürzt und reichte nur mehr bis auf die Oberschenkel. Er war aus safrangelbem Wolltuch gefertigt und an Brust und Schultern leicht ausgepolstert. Der Dusing, ein zierlicher, tief getragener Gürtel, war mehr Schmuck als nützlich und hielt nur eine kleine, lederne Tasche. Das Tragen von Waffen war in der Stadt außer für bestimmte Amtspersonen ohnehin verboten. Der eifersüchtige Wast hatte zwar keine Ahnung von Farbensymbolik, hätte aber jedermann sofort geglaubt, daß Gelb die Farbe der Täuschung und Zwietracht sei. Die Augen der Wirtin hingegen ruhten wohlgefällig auf dem Festtagsgewand, das ihnen gülden dünkte, und musterten mit begehrlicher Freude die prachtvolle Erscheinung des jungen Mannes. Sebastian hätte ihn am liebsten an seinem Gürtel aufgehängt und über der Feuerstelle in der Küche geröstet.
Paul war um einen Kopf kleiner als Peter und gut doppelt so alt. Sein gutmütiges Gesicht war zerknittert und gab Zeugnis davon, daß er zu leben verstand. Sein Haar war gelichtet bis auf ein bescheidenes, grau schimmerndes Kränzchen, was aber nichts weniger als die Tonsur mönchischer Entsagung bedeutete, sondern nur das unvermeidliche Zugeständnis an den Lauf der Jahre. Zwei listige Äuglein deuteten an, daß in Paul bei aller Abgeklärtheit noch immer jugendliches Feuer brannte. Er trug den Trappert, ein faltenreiches Obergewand, das über den Kopf gezogen wurde und bis zu den Knöcheln reichte. Es hatte einen weiten Halsausschnitt, war ärmellos und wurde meist ohne Gürtel getragen. Der Stoff umspannte sein pralles Bäuchlein wie die Frucht des weiblichen Leibes in schönster Hoffnung.
Peter entsprach in keiner Weise dem Bild, das man sich gemeinhin von Petrus machte: ein gütiger alter Mann mit Rauschebart und geistlicher Tonsur. Paul kam da der kahlköpfigen Figur des heiligen Paulus schon erheblich näher. Nur hieß er – genau genommen – nicht Paul, sondern Pankratius oder Pankraz, und nur die Spottlust von Freunden hatte ihn zum Paul gemacht, da die beiden Männer meist gemeinsam auftraten und irgendwie unzertrennlich wirkten. Das sollte nicht heißen, daß sie immer einer Meinung waren, und wie schon der heilige Paulus von heftigen Auseinandersetzungen mit Petrus berichtete, so konnten sich auch die beiden streiten, daß die himmlischen Vorbilder vor Scham erröteten.
Peter war vor beinahe zwei Jahren erstmals in die Stadt gekommen, hatte mit Hilfe seines angesehenen und begüterten Bruders das Bürgerrecht erworben und bald darauf auch das Amt eines städtischen Ländpflegers. Paul war jahrelang selbst auf der Isar gefahren und hatte nebenher einen kleinen Weinhandel betrieben, bis man ihn zum Pfleger ernannt hatte. Inzwischen Witwer und kinderlos, hatte er in dem jungen und reichlich unbedarften Peter so etwas wie einen Sohn gesehen, ihn unter seine Fittiche genommen und ihm die Gesetze der Arbeit und der Stadt sowie manches Geheimnis des Lebens offenbart. Peter hatte die gutmütige Führung dankbar angenommen, schaute zu Paul auf wie zu einem väterlichen Freund und rieb sich gleichzeitig an ihm, wie der Nachzügler am älteren Bruder, was ihm neben Beulen und kritischen Einwänden auch reichen Gewinn an Erfahrung brachte. Die beiden ungleichen Freunde waren in ihrer Eigenschaft als Pfleger der unteren Lände, gleich hinter der Isarbrücke, städtische Amtleute, auch wenn ihnen die Stadt dafür nichts bezahlte, denn richtig besoldet wurden nur Stadtschreiber, -bote und Bürgerknecht, Stadtarzt und Apotheker, Turmwächter und Henker. Alle übrigen Aufgaben waren mehr oder weniger Ehrenämter und setzten Wohlhabenheit voraus oder trugen sich selbst durch die erhobenen Strafgelder und Gebühren. Dennoch beobachteten einige Ratsmitglieder etwas argwöhnisch den freundschaftlichen Umgang der Pfleger mit den Flößern, die sie doch eigentlich zu beaufsichtigen hatten. Aber man war aufeinander angewiesen, und ein gutes Einvernehmen erleichterte eben beiden Seiten die Arbeit. Und es reichte schließlich auch, wenn der dritte Pfleger, Konrad Peitinger, ein ekelhafter Kerl war, den keiner so recht mochte. Er war auch heute beim gemeinsamen Feiern nicht zugegen und trieb sich ziemlich sicher in einer der Weinschenken herum. Es krähte auch kein Hahn nach ihm.
Die Becher kreisten, das Bier floß in Strömen, und mochten auch die Zunftvorschriften bei Strafe fordern, sich beim Trunk und in der Herberge gesittet zu benehmen – heute wurde gefeiert. Elsbeth, die Magd, war nicht zu beneiden. Sie hätte zehn Hände gebraucht, um all die Wünsche prompt zu erfüllen und sich gleichzeitig der Zudringlichkeiten geiler Zecher zu erwehren. Bei Agnes dagegen war selbst der dreisteste Säufer zurückhaltender, obwohl sie natürlich alle Experten waren in der Frage, wie man ein Weib und ganz speziell die Agnes behandeln mußte. Doch hätte es einer nur versuchen sollen, sie übers Knie zu legen, wie es besonders kecke Maulhelden als einzig richtiges Mittel zur Zähmung vorschlugen. Für die Isarflößer war klar, daß eigentlich nur einer von ihnen der Agnes beikommen konnte. Hatten sie doch tagein, tagaus das wildeste Weib zu beherrschen, das man sich nur vorstellen konnte: die Isar eben. Dabei gingen die meisten lieber morgens aufs Wasser, als abends in die eheliche Kammer, und die Jungen, die noch nicht heiraten durften oder konnten, kühlten ihr Mütchen und den erhitzten Trieb lieber bei den Hübscherinnen, als daß sie sich getraut hätten, der Agnes einen Antrag zu machen.
Alle gafften jetzt, Augen und Maul weit aufgesperrt, als Agnes auf Peter zutrat und ihm – ungeachtet des kirchlichen Gebotes, sich am Tag der Leiden des Herrn jeglichen Fleischgenusses zu enthalten – ein besonders saftiges Stück Fleischpastete vorlegte. »Ein Gruß des Hauses zum Namenstag.« Sie stützte sich dabei mit der Hand auf seine Schulter und kam ihm verführerisch nah.
Peter fühlte sich seit langem zu ihr hingezogen und war sich doch seiner Gefühle nicht sicher. Und jetzt war er ganz einfach verlegen, brachte kein Wort heraus, als er, von den grinsenden und feixenden Flößern beobachtet wie der Bock beim Paarungsspiel, zur Agnes aufblickte. Über zwei schwellende Kugeln hinweg, die runder und schöner waren als die goldenen Äpfel des Nikolaus, glitt sein Blick nach oben, nahm dort ein verführerisches Lächeln wahr und verlor sich in der Tiefe und verlangenden Zärtlichkeit zweier grünbrauner Augen.
»Stärk dich, es ist noch mehr da«, holte ihn ihre samtige Stimme in die Wirklichkeit zurück. Und das Gejohle der Flößer, die sich über die Doppeldeutigkeit der Situation mit zotigen Bemerkungen ausließen, machten ihm endgültig wieder klar, wo er sich befand. Während Agnes die versoffene Bande mit einem kecken und hochmütigen Blick bedachte und sich hüftschwingend davonmachte, prasselten auf Peter gespielter Neid, Anerkennung und tausenderlei Ratschläge hernieder, denen er sich dadurch zu entziehen hoffte, daß er eine Runde frisches Bier ausgab. Sebastian knallte die vollen Halbpfunder mit unheilschwangerer Miene auf den Tisch und murmelte etwas vor sich hin, was so klang wie: »Sauft euch zu Tode, alle miteinander!«
Eine dürre Gestalt hatte inzwischen die Wirtsstube betreten und versuchte sich am Tisch der Flößer vorbeizudrücken. Die zusammengewachsenen Augenbrauen und der verkniffene Mund gaben ihm ein finsteres Aussehen und der Umwelt zu verstehen: »Laßt mich in Ruhe!«
Die Flößer in ihrer überschäumenden Fröhlichkeit mochten dem freilich nicht Folge leisten und hatten ihr nächstes Opfer gefunden.
»Aaah, der Herr Calciator Füss. Die Gäste werden auch immer vornehmer.«
»Wenn ihm ein Lachen auskommt, zahl’ ich eine Runde.«
»Den haben seine Alten am Karfreitag gezeugt. Darum muß er seiner Lebtag griesgrämig sein.«
Der Schuster Füss strafte die Spötter mit grimmigen Blicken, ließ sich aber zu keiner Erwiderung hinreißen. Er war Verachtung gewöhnt, auch wenn die spitzen Bemerkungen jedesmal wieder wie Nadelstiche saßen. Das war nicht immer so gewesen. Etliche Jahre zuvor hatte er noch zu den angesehensten Handwerksmeistern gezählt und zeitweilig sogar das Amt des Zunftsprechers bekleidet. Das war noch zu Rudolfs Zeiten. Der Herzog hatte vor wenigen Jahren auch das Privileg seines Vaters nochmals bekräftigt, das den Schustern den alleinigen Schuhverkauf zusicherte und den Gerbern den Lederausschnitt untersagte. Sie standen daher nahezu geschlossen hinter Rudolf, und einige ließen sich während der Unruhen nach der Königswahl auch zu Ausschreitungen hinreißen. Sie wurden dafür hart bestraft und zum Teil auch aus der Stadt gewiesen. Heinrich Füss kam zwar glimpflich davon, wurde seither aber gemieden. Er war verbittert und insgeheim noch immer Parteigänger Rudolfs. Und vor einem guten Jahr, da war auch noch sein Weib verstorben, kurz nachdem sie ihm ihr einziges Kind in die Wiege gelegt hatte. Obwohl er beim Rabenecker im Rosental günstig als inquilinus zur Miete wohnte, fragten sich viele, wie er sein Auskommen hatte, denn sein letztes Paar Schuhe dürfte er schon vor langer Zeit verkauft haben und gegen die Konkurrenz der wendigeren Schuster im Eckhaus »Der Hamel« vorne am Markt kam er nicht mehr an. Die Flößer hätten ihm zwar eine Menge Arbeit zukommen lassen können, denn gutes Schuhwerk war Voraussetzung für sicheres und angenehmes Arbeiten im Wasser und auf dem Floß. Aber sie dachten nicht daran und versorgten ihn lieber mit Spottversen als mit Arbeit.
Der Füss, der Füss, der lacht so honigsüß!
Sein Schuh macht deine Füße hin,
stecken lauter Nadeln drin.
Der Füss, der Füss, der lacht so honigsüß!
Der tat nichts weniger als das. Doch während er sich vergrämt auf eine Bank in der Stubenecke fallen ließ, sprang von dort ein unerwarteter Verteidiger auf und ging drohend auf die Flößer zu. Die warnten sich schon gegenseitig mit gespieltem Entsetzen und stießen sich lachend in die Seiten. »Auweh, jetzt kommt das große Strafgericht!« Gleich darauf brach es wie ein Gewittersturm über sie herein.
»O ihr eitles und hoffärtiges Pack! Was redet ihr falsch und verleumderisch wider diesen Gerechten? Eure Worte sind Lug und Trug. Euren Mund gebraucht ihr zur Schlechtigkeit, eure Zunge zur Täuschung. Wißt ihr nicht, was der Psalmist sagt? ›Falsches reden sie, einer mit dem anderen. Mit glatten Lippen und zwiespältigem Herzen sprechen sie. Der Herr vernichtet die Zunge, die hochfahrend redet!‹«
»Und alle, die vergessen zu schnaufen«, warf der Mathes keck ein.
Der Bote des Untergangs war nicht zu bremsen: »Ihr sinnt auf Böses und rühmt euch eurer frevelhaften Taten. Laßt ab davon, kehrt um, ehe die Posaune des Gerichts ertönt!«
Die Zuhörer genossen belustigt den zornigen Auftritt, denn so sehr auch Prediger wie der große Berthold von Regensburg Zehntausende erschütterten und zu Tränen rührten, dieser Pfaffe erschütterte nur die Zwerchfelle und trieb den Sündern vor Lachen die Tränen in die Augen. Und als fühlte sich selbst der Herr durch ihn belustigt, trug er auch noch den Namen Gottschalk.
Konrad Pütrich, der Vater des jetzigen Seniors des Handelshauses, hatte kurz vor seinem Tod gegenüber dem späteren Kloster der Franziskanermönche für sein eigenes Seelenheil und zur Versorgung einer Handvoll nobler Witwen und Jungfern, darunter die der eigenen Familie, ein Seelhaus gestiftet. Die hehren Damen lebten als Terziaren des heiligen Franz, widmeten sich dem Gebet und der Krankenpflege und wurden von einem eigenen Kaplan betreut, der ihnen die Beichte abnahm und die Messe las. Gegenwärtig hatte dieses Amt der beredte Gottschalk inne. Obwohl, wirklich beredt war er gar nicht, sondern eher schüchtern und maulfaul. Nur wenn er getrunken hatte, was in letzter Zeit immer häufiger vorkam, brach es aus ihm heraus, und der Eiferer ging mit ihm durch.
»Wahrlich, ich sage euch, eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr…«
»… oder ein Pfaff ins Frauenhaus«, juxte der Alois.
Gottschalk war von unscheinbarer Gestalt und alles an ihm irgendwie grau: die schmutzigen Sandalen, der schlichte, mehrfach geflickte Rock und selbst die fahle Gesichtsfarbe. Im Halbdunkel der Kirche hätte man ihn geradezu für ein steinernes Abbild des armen Sünders halten können. Jetzt aber hatte der Alkohol die Wangen mit leuchtendem Rot überzogen, und die ansonsten fast farblose Gestalt gestikulierte wild und heftig, als müßte sie selbst anstelle des Erzengels den höllischen Drachen vernichten.
Warum der trinkfreudige Priester noch immer sein Amt verrichtete, obwohl die noblen Damen schon morgens ob seiner Ausdünstung die Nase rümpften und sich immer häufiger beklagten, war das Geheimnis des alten Pütrich, der offenbar dem unfrommen Treiben keinen Einhalt gebot und seinen Kaplan gewähren ließ. Noch bis vor einem guten halben Jahr hatte Gottschalk auch recht ordentlich und in der Regel nüchtern seinen Dienst versehen. Man munkelte, er habe eines Nachts dem Teufel ins Auge geschaut, und seither war er immer wunderlicher geworden. Nicht wenige glaubten ihn auch schon dem Wahnsinn nahe.
»Ihr Heuchler, was spottet ihr über den Splitter im Auge des Nachbarn, wo ihr doch selbst den größten Balken im eigenen Auge nicht seht…« Gottschalk verstummte abrupt, während er über eine Bank grölender Säufer flog. Er hatte den mächtigen Balken der aufschwingenden Türe übersehen.
Ein Gerichtsdiener in den Farben der Stadt betrat mit ernster und amtlicher Miene den Raum und verströmte Kälte in der hitzigen Atmosphäre der Gaststube. Er ging schnurstracks auf den Tisch der Flößer zu und erteilte unbeeindruckt und ohne sich um die überschwengliche Stimmung der Feiernden zu kümmern, seine Befehle:
»Der Zunftmeister Ulrich Hiltpurger und die Pfleger Peter Barth und Pankraz Knoll haben sich unverzüglich in das Haus des Stadtrichters zu verfügen!«
Die drei schauten sich fragend an, zuckten mit den Schultern und folgten der Aufforderung, die keinen Widerspruch duldete.
Obwohl der Auftritt des Schergen Übles erwarten ließ, war Peter fast froh, für Augenblicke wieder an der frischen Luft zu sein. Trotz der weit geöffneten Läden war es zuletzt immer stickiger in der überfüllten Gaststube geworden. Er spürte plötzlich auch, daß er dem Bier offensichtlich reichlich zugesprochen hatte und war etwas aufgeregt, denn seit seinem Bürgereid vor dem Rat und abgesehen von seiner Bestallung als Pfleger und damit verbundenen Rechtsangelegenheiten, hatte er es nur selten mit so hochgestellten Persönlichkeiten zu tun. Paul hingegen schien völlig ruhig, ja eher etwas unmutig darüber, daß nun auf unbestimmte Zeit das Feiern an ihm vorüberging.
»Was meinst du, was das zu bedeuten hat?« fragte Peter nervös. »Es muß doch wohl Schlimmes vorgefallen sein, wenn uns der Richter sogar am Festtag zu sich bestellt.«
»Wir werden’s gleich erfahren«, entgegnete Paul gelassen und mit der Ruhe des reinen Gewissens. »Ich hoffe, er hat gute Gründe, wenn er die Feier meines Namenstages stört.« Er grinste verschmitzt, doch Peter war viel zu beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken, als daß er die feine Verdrehung und Ironie bemerkt hätte.
Konrad Diener war vor wenigen Jahren eigens von König Ludwig als Stadtrichter nach München berufen worden und hatte mit seiner Familie Quartier bezogen in der Gasse, die die Nordostecke des Marktplatzes mit dem östlichen, inneren Schwabinger Tor verband und seither des Dieners Gasse genannt wurde. Er bewohnte dort ein ansehnliches Haus, das zu den wenigen gehörte, die zum größten Teil schon gemauert waren. Aber schließlich war der Richter auch Vertreter der herzoglichen Gewalt, und als solchem stand ihm ein gewisser Luxus zu. Die Männer traten durch das große Tor und verharrten in der geräumigen Eingangshalle, bis der Bedienstete sie gemeldet hatte. Schon während des Wartens hörten sie immer wieder eine laute, aufgebrachte Stimme und Wortfetzen wie »strengste Bestrafung… fordere Genugtuung… ein Zeichen setzen…«, die nichts Gutes verhießen. Der Richter mußte ziemlich wütend sein. Worüber nur und warum ausgerechnet heute?
»Die Herren möchten folgen!« Der Hausknecht geleitete sie über die hölzerne Stiege in das obere Stockwerk und durch eine kunstvoll beschnitzte Türe in eine geräumige Stube, die die ganze Frontbreite des Hauses einnahm. Drei Fenster erhellten den Raum, aber nicht die Mienen der beiden älteren Herren, die an dem Ecktisch saßen und die Eintretenden streng musterten, wobei der eine von ihnen nervös mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte. Sie wurden nicht aufgefordert, sich zu setzen. Auf einem Schemel, etwas abseits, fläzte sich bereits Konrad Peitinger, der Pfleger der Weinlände. Es folgten bange Momente des Schweigens, in denen sich Peter immer unwohler fühlte. Hoffentlich seh’ ich nicht so besoffen aus, wie ich mich fühle. Paul widerstand dem prüfenden Blick mit stoischer Ruhe.
»Meine Herren«, löste die tiefe Stimme des Richters den Bann, »ich habe Euch rufen lassen, um Euch eine sehr unangenehme und fragwürdige Angelegenheit mitzuteilen.« Konrad Diener strahlte mit seiner Leibesfülle, seinem seidenen Rock, dem ernsten Gesichtsausdruck und der gemessenen Gestik die ganze Würde seines Amtes aus. Aber die Stimme klang nicht unfreundlich oder gar vorwurfsvoll. So schlimm mochte es demnach gar nicht werden. Es mußte der andere gewesen sein, der so gebrüllt hatte. »Am heutigen Tage um die Mittagsstunde sprach der Flößer Jakob Krinner…«
»Der Dieb«, unterbrach der zweite Mann am Tisch, »der Dieb Krinner.«
»Der Flößer Jakob Krinner aus Wolfratshausen«, fuhr der Richter unbeirrt fort, »der Euch bekannt sein dürfte, sprach bei dem ehrenwerten Kaufmann und Ratsmitglied Pütrich vor und erhob daselbst schwere Beschuldigungen.«
»Bedroht, ja, bedroht hat er mich«, fiel der andere wieder ins Wort, »überfall en hat er mich. Ich mußte um Leib und Leben fürchten! In meinem eigenen Haus!« Der Kaufmann redete sich in Rage und stocherte mit seinem knochigen Zeigefinger in Richtung der drei vor ihm Stehenden, als wären sie ihm an den Hals gegangen. Das also war der alte Pütrich: Hager, knochig und sicher schon weit im sechsten Jahrzehnt, in seiner Wut aber so lebendig wie der geifernde Jagdhund, der das Wild stellt.
Mit Bruder und Sohn hatte Peter schon wiederholt an der Lände zu tun gehabt, nicht aber mit dem Alten. Heinrich Pütrich gehörte zu den reichsten Männern der Stadt, was seine kostbare seidene Kleidung und die schweren Ringe eindrucksvoll zur Schau stellten. Er war seit vielen Jahren angesehenes Mitglied des Inneren Rats, war ansonsten aber nur noch selten in der Öffentlichkeit zu sehen. Man munkelte, er sei fromm geworden und führe eher das Leben eines Mönchs als das eines Kaufmanns. Macht mir allerdings nicht den Anschein, dachte Peter bei sich, während der Richter fortfuhr: »Jakob Krinner vermeldete, daß er Floß und Ladung, für die er die Verantwortung trug, verloren habe, erhob aber zugleich die merkwürdige Beschuldigung, daß ein gedungener Mörder dies verschuldet habe und daß er froh sein müsse, überhaupt noch am Leben zu sein.«
»Das ist eine unverschämte Lüge«, ereiferte sich Pütrich. »Er wird wieder gezecht und dann das Floß veruntreut haben. Es wäre ja nicht sein erstes Vergehen.«
Konrad Peitinger grinste seine Amtsbrüder herausfordernd und herablassend an.
»Und dann hat er auch noch seinen Lohn gefordert, weil er ihn sonst einklagen wolle. So hätte noch vor wenigen Jahren kein dahergelaufener Flößer, der noch nicht einmal Bürger meiner Stadt ist, mit mir, einem Mann von Stand, geredet. Welch Verfall der Sitten. Aber wo auch die Jugend schon regiert…«
Jetzt unterbrach der Richter den immer verächtlicher werdenden Redefluß: »Meint Ihr damit etwa Ludwig, unseren rechtmäßigen Herrn und König?« fragte er lauernd das Ratsmitglied.
»Wenn Ihr so wollt.«
»Vorsicht, Herr Kaufmann, wagt Euch nicht zu weit vor!«
Aber der war noch längst nicht am Ende: »Und diese feinen Herren hier…« – der Zeigefinger spießte Luft auf anstelle eines greifbaren Gegners –, »die sind doch mit schuld an der Entwicklung. Saufen mit dem Pöbel, anstatt ihn zu beaufsichtigen, was ihre verdammte Pflicht ist. Aber so läuft’s eben: Erst will die Gemein mitreden, bald wird wahrscheinlich der ganze Abschaum das Rathaus stürmen…«
»Ich muß Euch mit allem Nachdruck nochmals bitten, Euch zu mäßigen«, forderte der Richter, jetzt seinerseits erzürnt. »Dies hier ist mein Haus. Hier wird weder König noch Rat noch Gemein noch sonst irgend jemand beleidigt. Und verurteilt ist bis jetzt auch noch niemand. Merkt Euch das!«
»Ihr werdet’s erleben, jawohl Ihr werdet’s erleben«, maulte der Kaufmann verdrossen nach.
Die drei waren bis jetzt noch nicht zu Wort gekommen. Peter stand da, wie vom Donner gerührt, während Paul im stillen als schnelle und praktische Lösung vorschlug: Den Peitinger ersäufen, den Pfeffersack erschlagen. Ein schöner Grund für eine Doppelfeier: Braten, Bier…
Und dem Zunftmeister platzte jetzt der Kragen: »Habt Ihr uns nur deshalb gerufen, damit wir uns hier beleidigen lassen, oder gibt es noch einen anderen Grund?«
»Ihr habt doch gehört«, beschwichtigte Konrad Diener, »daß ich in meinem Hause niemanden beleidigen lasse. Ich wollte Euch das Geschehene mitteilen sowie meinen Entschluß. Zwar handelt es sich um eine Angelegenheit des Zunftrechts, jedoch wurde auch ein Mitglied des Hohen Rates geschädigt. Da ich Wichtigeres zu tun habe, lasse ich für morgen zur dritten Stunde in außerordentlicher Sitzung den Rechtsausschuß einberufen und Ihr sollt als Vertreter der Zunft beziehungsweise Amtleute der städtischen Lände zugegen sein. Bereitet Euch darauf vor und seht zu, was Ihr zu Wahrheit und Recht beitragen könnt!«
Der Richter sah damit die Unterredung als beendet an und gab dem Hausdiener ein Zeichen.
»Verzeiht, Herr«, meldete sich jetzt Peter noch zu Wort, »es ist doch Blut geflossen und sollte dann nicht…«
Das hatte dem Stadtrichter noch gefehlt, daß ihn ein gerade einmal volljähriger Pfleger auf Verfahrensfragen hinwies.
Unwirsch entgegnete er: »Eine Bluttat ist nicht erwiesen, aber es liegt auf der Hand, daß wertvolles Eigentum veruntreut wurde. Doch seid unbesorgt! Mein Schreiber wird mich vertreten. Die Entscheidung ist damit wohl klar.«
Klar war auch, daß der Richter keine weitere Diskussion zuließ. Peter wußte selbst nicht, wo er den Mut dazu hernahm, wagte aber trotzdem nochmals einen Vorstoß. »Der Jakob, wo ist der denn? Können wir ihn sehen?«
»Der Beschuldigte ist in Gewahrsam genommen worden«, erklärte der Richter. »Er wird in der Schergenstube bis morgen festgehalten, und ich wünsche nicht, daß man ihn besucht.«
Kurz darauf standen die drei wieder auf der Straße.
»Möchte nur wissen, was der Peitinger wieder gehetzt hat«, brummte der Zunftmeister, immer noch verärgert über die Verunglimpfung der Flößer. »Und das Großmaul Pütrich soll doch in Zukunft seinen Dreck mit der Kraxe oder im Ochsenkarren nach München schaffen! Wo wären sie denn, die feinen Herren, ohne uns! Täten sich schön anschau’n.«
Paul hakte ihn unter und zog ihn mit sich fort. »Komm, Hiltpurger! Es ist nicht wert sich aufzuregen. Laß uns lieber zur Maenhartin zurückgehen. Was ist, Peter?«
Der stand nachdenklich vor dem Portal des Richterhauses. »Geht ruhig schon vor. Ich will mir noch etwas die Beine vertreten.«
Die seltsame Runde eben hatte ihn ernüchtert, aber auch verwirrt. Er wollte etwas allein sein, die Gedanken ordnen. Es war drückend heiß, aber die Sonne fiel schon schräg in die Gassen und tauchte einen Teil der Häuser bereits in wohltuenden Schatten. Nur wenige Leute waren unterwegs, ein paar spielende Kinder, streunende Katzen und kläffende Hunde. Ein Bettler schlurfte durch die Gassen um das Spital herum.
Peter schlenderte zurück zum großen Marktplatz im Herzen der Stadt, der fast ausgestorben vor ihm lag. Die Stille war angenehm und zugleich seltsam ungewohnt, fast gespenstisch. Sogar die armen Sünder hatte man vor dem Feiertag aus Stock und Pranger befreit. Morgen würde ganz München und ein Gutteil Fremder hier wieder lärmen und feilschen, zerren und stoßen. Salzscheiben, Weinfässer und Getreidescheffel würden ihre Besitzer wechseln, die Mägde und Hausfrauen den Bedarf an Eiern und Schmalz, Hühnern und Fisch, Rüben und Kraut decken. Fuhrleute würden sich fluchend durch die Menge plagen und Gauner den Bürgern die Beutel schneiden.
König Ludwig hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß er München zu seiner Residenzstadt erkoren hatte, indem er gleich nach seinem triumphalen Einzug den Markt gefreit und dessen Verschönerung angeordnet hatte. Er hatte die Fleischbänke an den ehemaligen Stadtgraben unterhalb des Petersbergls verlegen lassen und für alle Zeiten ein Bauverbot auf dem Marktplatz verfügt, damit die drangvolle Enge nicht noch zunahm.
Aber wer hatte denn eigentlich das Sagen in der Stadt? Ludwig, der sich schon viel um die Stadt verdient gemacht hatte, oder die Bürger, die sich immer mehr Rechte und Selbstverwaltung erstritten? Und auch die Bürgerschaft war ja beileibe nicht einer Meinung. Überhaupt waren die wenigsten tatsächlich Bürger, die Steuern zahlten und Wachdienst leisteten. Zunächst hatte nur der Rat der Zwölf geherrscht, die reichsten und angesehensten Bürger, zum Teil gar adelig, die in ihren Interessen noch zwischen Herzog und Stadt und natürlich ihrem eigenen Vorteil schwankten. Im Zuge der Erweiterung der Stadt mußten sie die Macht teilen mit einem Äußeren Rat, den vierundzwanzig vornehme Bürger bildeten. Und vor zwei Jahren hatten sie sogar noch die Kröte zu schlucken, daß nun auch die Gemeinde mit sechsunddreißig Räten mitbestimmen wollte, worunter sich auch Handwerker und weniger begüterte Bürger befanden. Doch Peter war noch zu kurz in der Stadt, als daß er die verschiedenen Einflüsse und Ränke, Interessen und Intrigen durchschaut hätte. Aber er wollte wachsam bleiben.
Während er so unter den schattigen Lauben spazierte und vor sich hingrübelte, querten plötzlich zwei Männer eiligen Schritts den Marktplatz. Es waren Pütrich und Peitinger, der heftig auf den Kaufmann einredete. Peter graute es vor der morgigen Gerichtsverhandlung und vor der Tatsache, daß man auch ihn anhören wollte. Aber er war nun einmal Pfleger der Lände, und außerdem galt es als unumstößliche Pflicht, Mitbürgern und Nachbarn vor Gericht beizustehen. Wenn er wenigstens mit dem Jakob zuvor noch sprechen könnte. Was hatte es mit diesem angeblichen Mörder auf sich? Peter konnte doch nicht einfach losziehen, um irgendwo an der Isar nach irgend jemandem Ausschau zu halten, der das Gesicht eines Galgenvogels hatte, nur um dem Jakob damit zu helfen. Und so gut kannte er ihn nun auch wieder nicht. Alle mochten zwar den Jakob, aber der brachte in der Regel nur seine Lieferung nach München, rechnete ab, trank ein paar Becher und war auch schon wieder auf dem Heimweg. Es mußte Spitzbuben regnen oder gewittern und hageln, bevor Jakob in der Herberge übernachtete. Bei so einer Gelegenheit hatte er ihm einmal anvertraut, daß es ihn stets gleich wieder zu seiner Lies und den Kindern zöge. Oh, wenn Peter doch nur etwas für ihn tun könnte. Das untätige Warten war das Schlimmste.
An der Nordwestseite des Marktes, unmittelbar vor der unteren Kornschranne, stand das Rechtshaus, in dessen Obergeschoß der Stadtrichter über Wahrheit und Recht befand. Wahrscheinlich, dachte Peter, wäre es für den Jakob erheblich besser gewesen, wenn der Richter selbst den Fall übernommen hätte. Andererseits, wenn der Rat verhandelte, dann konnte die Sache kaum blutig ausgehen. Und überhaupt, erst mußte ja eine Schuld des Jakob bewiesen sein. Und daran glaubte Peter ganz einfach nicht.
Während er so zum Rechtshaus hinüberschaute, fiel sein Blick mit einem Mal auf die Läden, und er mußte lachen. Es war schon eine sonderbare Geschichte, daß im Erdgeschoß Brezen und Wecken, Tuch und Tand verkauft wurden, während es im Stockwerk darüber zur gleichen Zeit vielleicht um den Hals ging. Es gehörte eben alles zusammen: Fressen und Saufen, Markt und Recht, Leben und Sterben. Aber gehörten dann nicht auch Recht und Unrecht zusammen wie der Metzger und das Schwein? Das eine war ohne das andere doch zu nichts nütze. Alles hatte irgendwie zwei Seiten und schien doch miteinander verbunden. Und Peter hatte sogar schon von Leuten gehört, die behauptet hätten, der Teufel sei gar nicht der von Gott geschaffene und abtrünnige Engel Luzifer, sondern gehöre von jeher als Macht des Bösen untrennbar und wesentlich zur göttlichen Ordnung und sei nur die dunkle Seite Gottes selbst. Kein Wunder, daß, wer solches schwätzte, verbrannt wurde! Ihm schwirrte der Kopf. Er mußte aufhören, wollte es gar nicht so genau wissen. Denn wenn einer erst im Glauben irr würde…
Er lenkte seine Schritte zurück zur Gaststube, obwohl er nicht recht wußte, was er dort sollte. Nach Feiern war ihm nicht mehr zumute. Er wußte ja noch nicht einmal so recht, was er von Agnes wollte, während er den Verdacht hegte, daß sie eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte. Peter hingegen mußte sich eingestehen, daß er noch keine rechte Einstellung zum schönen Geschlecht gefunden hatte. Da waren zwar heftigste Verlockungen, aber hatte nicht Pater Innozenz in der Klosterschule stets das Weib als Gefäß allen Übels bezeichnet und davor gewarnt? Hatte er nicht selbst genug Ehen beobachtet, die eher einem Kreuzzug glichen, als liebender Fürsorge füreinander? Als er vor fast zwei Jahren in die Stadt gekommen war, da hatte er in der Herberge des Maenhartbräu Unterkunft gefunden und wohnte seither dort zur Miete. Agnes’ Mann war kurz zuvor verstorben, und sie nahm es dankbar an, daß Peter ihr manchmal zur Hand ging, Besorgungen abnahm und ihr mit seiner Gesellschaft über den Verlust des Maenhart ein wenig hinweghalf. Auch die Buben hatten ihn bald ins Herz geschlossen und hingen an ihm. Und immer häufiger schlich er auf dem Weg zu seinem Lager mit pochendem Herzen an der Kammertür vorbei, hinter der die Versuchung lauerte.
Peter hörte schon von weitem die grölenden Zecher. Er würde jetzt einfach hineingehen, entschlossen auf die Agnes zugehen und…
Aber die Kinder. Und die Agnes ist ja auch viel älter. Dann fiel ihm ein, daß er doch eigentlich gar kein Wirt sein wollte, und und und…
Er sprach sich innerlich Mut zu, als er die Gaststube wieder betrat. Hier sah es inzwischen aus wie in König Attilas Hunnenzelt. Der Zunftmeister und Paul hatten die Geschichte von Jakob sicher schon erzählt. Aber außer vielleicht kurzer Betroffenheit hatte die Nachricht offenbar wenig bewirkt.
Zuhinterst am Ecktisch drängten sich der Wast, der Schuster und Gottschalk, der sich noch immer die Beule rieb, verschwörerisch zusammen. Sie tuschelten, grinsten ab und zu herüber und erheiterten sich nun ihrerseits über das närrische Treiben der Flößer, von denen einige schon kaum mehr aufrecht stehen konnten. Ein Triumvirat der Verachteten, Gehänselten und Geplagten, deren Bedürfnis nach Rache gefährlich war wie Zunder am Heu.
Peter saß etwas verloren da, während sich die anderen zuprosteten, ihre grobe Kraft beim Fingerhakeln und Armdrücken maßen, unter den Tisch kotzten oder bei all dem Krach einfach auf der Bank schliefen.
Agnes kam mit einem frischen Becher auf ihn zu. »Gefällt’s dir nimmer?«
»Nicht so recht.«
»Ist doch dein Namenstag.«
»Schon, aber mir geht der Jakob nicht mehr aus dem Kopf.«
»Trink! Bringt dich auf andere Gedanken. Ich hätt’ da auch noch ein Geschenk für dich.«
Peter schaute sie fragend an.
»Bist nicht neugierig?«
»Freilich. Wo soll’s denn sein?«
»In meiner Kammer. Mußt es dir holen und selbst auswickeln.« Agnes grinste schelmisch und verschwand mit wiegenden Hüften im Hausflur.
Es dauerte den Augenblick eines Ochsenschreis lang, ehe ein verstehendes Lächeln über Peters Gesicht huschte und er sich selbst versicherte: »Ich werd’s mir holen. Ganz bestimmt!«