Читать книгу Bus nach Bingöl - Richard Schuberth - Страница 10
Ali
ОглавлениеIn Düzce stieg ein junger Reservist zu, der wie ein Ali aussah. Er war untersetzt, hatte kindliche Gesichtszüge und blieb mit seinem Armeerucksack zweimal an den Haltegriffen hängen. Einer älteren Frau streifte er den Kopf damit. Sie fuhr ihn an, ob er nicht wisse, dass das Ding zwei Schleifen habe. Ahmet musste lachen. Er wusste, dass der Kleine sich den Rucksack nie und nimmer wie ein Schuljunge am Rücken fixiert hätte, so lange er nicht im Feld war, und selbst wenn er allen Passagieren damit gegen den Kopf geschlagen hätte. Und ihn amüsierte auch die verächtliche Miene, hinter welcher dieser tapfere Krieger sein Unbehagen verbarg. Der Junge, der wie ein Ali aussah, blieb kurz stehen, hielt Ausschau nach einem freien Platz, entschied, sich nicht neben die Kemalistin zu setzen, und fragte Ahmet. Ahmet lud ihn lächelnd ein, er erwiderte das Lächeln kurz, ehe er es von seinem Gesicht löschte.
Ahmet taufte ihn auf Ali. Er hatte diese Marotte, bestimmte Gesichter bestimmten Namen zuzuordnen. Dieser Junge sah wie ein Ali aus. Natürlich wusste er, dass solche Assoziationen sich nach Stars oder Menschen ausrichten, die man gekannt hat, die ähnlich aussahen und die Ali oder Ahmet hießen. Andere redeten Quatsch über Sternzeichen und er gönnte sich eben dieses alberne Spiel.
Ali setzte sofort Kopfhörer auf. Ein deutliches Zeichen, an Kommunikation nicht interessiert zu sein. Aus dem Augenwinkel beobachtete Ahmet den jungen Mann, und glaubte, alles über ihn zu wissen, über seine tiefe Verunsicherung, über die Angst, die Freuden der Kindheit gegen die Rolle eines ganzen Kerls eintauschen zu müssen, vor den nächsten Wochen, der Kaserne, dem Drill, dem Keuchen, vor körperlichem Versagen bei den Wehrübungen, den Strafen, dem Spott der Kameraden wegen seiner Statur, dem Brüllen der Offiziere, den sexuellen Übergriffen vielleicht. Ahmet wusste genau, wie man aus einem lieben Jungen eine wütende Kampfmaschine macht, wie man seine sozialen Regungen kastriert, und wie man vor allem die Weichlinge, Dicken und Schlusslichter in die effizientesten Rädchen der Maschine umfunktionierte. Solche sind für die Offizierslaufbahn vorgesehen und werden rücksichtslose Ausbildner, so sie ihr Wagemut, mit dem sie ihre humane Feigheit überspielen, an der Front nicht das Leben gekostet hat.
Plötzlich bot ihm Ali Salzmandeln an. Kurz nahm er die Kopfhörer ab.
Was hörst du da für tolle Musik, Soldat?
İsmail YK.
Cool?
Super.
Ali bot ihm einen seiner Kopfhörer an. Ahmet presste ihn an sein rechtes Ohr und hörte nichts als den üblichen türkischen Pop, bei dem es sich nach seinem Dafürhalten stets um dieselbe Nummer handelte. Ahmet wippte mit dem Kopf dazu. Ali erkannte es als Anbiederung, ließ es sich aber gerne gefallen. Ahmet gab ihm den Kopfhörer zurück.
Ali erklärte ihm, dass Şekerim nicht die beste Nummer von İsmail YK sei. Bomba bomba gefalle ihm viel besser. Er war vor zwei Monaten in Bodrum bei seinem Konzert.
Wie heißt du eigentlich, Soldat?
Oktay.
Freut mich, Ahmet.
Händeschütteln.
Bald befanden sich die beiden in einem angeregten Gespräch. Oktay war in der Tat auf dem Weg zum Militärdienst nach Diyarbakır. Als Ahmet das Wort Diyarbakır hörte, sagte er:
Möge Gott dir beistehen.
Oktay durchschaute schnell Ahmets vorsichtigen Versuche, eine antimilitaristische Haltung aus ihm herauszukitzeln.
Der Militärdienst sei schon okay.
Aber du sagtest, du hast eine Spenglerlehre gemacht. Ist das nicht sinnvoller, als in der Gegend herumzuschießen?
Ich weiß noch nicht. Als Offizier verdienst du besser. Und die Leute achten dich mehr.
Ja, leider.
Sind Sie Pazifist?
Theoretisch schon. Aber wenn man sich wehren muss, dann kann es schon sein, dass man den Angreifern Angst macht.
Das sehe ich genau so.
Mann, Oktay, gegen wen musst du dich wehren?
Gegen die Kurden.
Der entschlossene Ton, in dem der kleine Dicke das sagte, noch dazu, ohne lange nachzudenken, ließ Ahmets Gesicht rot anlaufen.
Und wenn ich Kurde bin?
Gegen Sie muss ich mich nicht verteidigen.
Hör mal, Oktay, sagtest du nicht, dass deine Mama aus Kars kommt? Stammt die von Tscherkessen ab?
Nein.
Aha? Von Armeniern.
Auch nicht.
Wär ja auch eine Schande, nicht wahr?
Das haben Sie gesagt.
Beiden behagte der gereizte Ton nicht, in dem sie miteinander sprachen. Und Ahmet wusste, dass er den kumpelhaften und doch souveränen Abi nicht mehr hinkriegen würde.
Okay, ich geh mal davon aus, dass deine Mutter Kurdin ist, oder zumindest in ein, zwei Generationen von Menschen abstammt, die Kurdisch sprachen.
Ja, das waren sicher Kurden. Ihre Großeltern sprachen kein Türkisch. Das hat sie mir erzählt.
Ahmet ergriff lächelnd Oktays Hand und schüttelte sie mit starkem Druck.
Willkommen im Klub. Ich bin Kurde.
Was Oktay nun sagte, erstaunte Ahmet.
Sie verstehen mich falsch, Arslan Ahmet Bey …
Nenn mich einfach Ahmet.
Ich habe nichts gegen Kurden, und ich finde es super, wenn sie ihre Sprache und Sitten pflegen können. Mein Vater ist Türke, aber er hat gesagt, dass die beste Sazmusik von den Kurden kommt. Ich rede von den radikalen Kurden. Von denen, die den türkischen Staat zerstören und meine Kameraden aus dem Hinterhalt angreifen.
Natürlich war Ahmet mit dieser Antwort noch lange nicht zufrieden, aber da sie sich doch verdächtig manchen seiner eigenen Aussagen näherte, die er in Wien kurdischen Hitzköpfen an den Kopf geworfen hatte, wollte er es dabei belassen. Er hatte keine Lust, mit dem Kleinen einen Streit vom Zaun zu brechen. Er wollte sein Herz gewinnen.
Ist schon gut, Oktay. Mir wird nur ganz anders bei dem Gedanken, dass du da in den Bergen dein junges Leben verlieren könntest oder dass jemand anderer sein junges Leben durch dich verliert. Ist beides nicht schön.
Die anfängliche Harmonie zwischen den Sitznachbarn wollte nicht wieder einkehren. Ahmet schien beim Versuch, alles richtig zu machen, einiges falsch gemacht zu haben.
Wenn es sein muss, muss es sein, sagte Oktay.
Wow, du bist aber cool.
Sein Lieblingscousin sei schon 42 Jahre alt, er verehre ihn wie einen Vater, er sei Offizier bei der Terrorabwehr und habe 25 von den kurdischen Schweinen ins Jenseits befördert. Er habe ihm ein paar PKK-Ohren versprochen.
Ahmet spürte, wie von den Beinen aufwärts die Kontrolle über sich aus seinem Leib fuhr.
Mit spöttischem Ton bohrte Oktay in Ahmets Wunde, die sich da vor ihm auftat:
Kann es gar nicht abwarten, bis ich mein erstes kurdisches Schwein abknalle.
Je mehr Ahmet seine Hilflosigkeit vor dem Jungen verbergen wollte, desto sichtbarer wurde sie. Seine Hände ballten sich, seine Rückenmuskeln pressten das Rückgrat zusammen, als wollten sie die Bandscheiben herauswringen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die heiß ersehnte Pause rettete Ahmet davor, dass er den Jungen erwürgte. Der Bus hielt schnaubend bei einer riesigen Haltestelle nach Bolu. Der Fahrer sprach durchs Mikro sogar etwas von 45 Minuten, da eine kleine Reparatur erforderlich sei.
Los, lass mich raus!
Da der beleidigte Reservist nicht schnell genug seiner Anweisung folgte, war Ahmets Wunsch, als Erster den Bus zu verlassen, vereitelt. Er bekam keine Luft. Oktay stieß er zur Seite. Dann musste er hinter zwei alten humpelnden Frauen und drei Männern warten. Umso schneller stürmte er aus dem Wagen, ins Gebäude, ins Klo. Eine Kabine war noch frei. Und in gerade die wollte der Deutsche, jener Deutsche, dem im Bus die Pistole zu Boden gefallen war. Heftig stieß Ahmet ihn zur Seite. Aber hallo, rief ihm dieser nach. Ahmet sperrte ab, rief Entschuldigung, fiel auf die Knie und übergab sich ins Klo-Basin. Es war ein langes Kotzen – je älter er wurde, desto seltener, aber qualvoller war es. Nahtoderfahrung, die Angst, dass der Magen sich nach außen stülpt. Bittere gelbe, mit Blutschlieren durchzogene Magensäure spuckte er aus. Schwer atmend ließ er sich dann gegen die Wand fallen und wischte mit dem Saum seiner Lederjacke das Sekret von der Unterlippe. Tränen hatten seinen Blick verschleiert. Nachdem die Galle draußen war, kamen die Erinnerungen hoch, und dann ging es erst richtig los. Ein Weinkrampf erfasste Ahmet.