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Du kurdisches Schwein

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Der erste Polizist, der Ahmet Arslan je geschlagen hatte, nannte ihn kurdisches Schwein, und war damit seiner Zeit weit voraus. Solche ethnischen Spezifizierungen waren damals eher ungewöhnlich, denn in der Regel war man ein kommunistisches Schwein oder ein roter Eselssohn. Ganz richtig hatte Ahmets Genosse Murat Atalay denselben Sprecher des Empfangskomitees im Polizeigefängnis darauf hingewiesen, dass es gemäß der türkischen Verfassung keine Kurden gebe und dass er sich mit der Nennung dieses Namens strafbar mache. Er werde, fügte Murat hinzu, dieses Mal noch Gnade vor Recht ergehen lassen und bitte ihn daher, ihn türkisches Schwein zu nennen. Dieser Scherz kostete Murat den unteren Zahndamm.

Am 5. Mai, vier Tage nach einer der schlimmsten Auseinandersetzungen mit der Polizei im Bezirk Ümraniye, bei der vier seiner Genossen das Leben ließen, holte ihn die Polizei aus dem Bett und fuhr ihn in die Birinci Şube, die Erste Politische Abteilung. Dort verbrachte er die schlimmsten drei Wochen seines Lebens. Nur der Umstand, dass die Überlebenden seiner Gruppe vor ihm verhaftet worden waren, ersparte ihm die Schande, Genossen verraten zu müssen. Die er verriet, saßen schon. Und er wusste nicht, wer von ihnen seinen Namen verraten hatte, und wollte es auch nicht wissen.

In diesen drei Wochen wurde Ahmet täglich gefoltert. Und zwar immer vom selben Mann. Man nannte ihn İbrahim Doktor. İbrahims Doktors professionelle Grausamkeit war nicht das Schrecklichste an ihm. Wäre er einer der primitiven Sadisten gewesen, die im Staatsdienst ihre perversen Neigungen ausleben, ihre Minderwertigkeitsgefühle kompensieren, als Schwächlinge erkennbar waren, denen bloß ihre Position Macht gab, er wäre berechenbar gewesen. Doch nein, İbrahim Doktor trat den Häftlingen als Übermensch entgegen. Ein kühler Bürokrat, weder Lust noch Abscheu schien er zu empfinden. Als wäre er gleich einem Geschworenen per Los für sein Amt bestimmt worden und müsste es nun mit all der Würde und Professionalität ausüben, die er sich und dem Staat schuldig war. Es gab sicher weitaus mehr von der anderen Sorte, Ahmet hatte nur ihn erlebt. Und viele seiner Schicksalsgenossen, welche die Haft überstanden, hatten seine Erfahrung geteilt. İbrahim Doktor, der Spitzname kam nicht von ungefähr, arbeitete wie ein praktischer Arzt, nur dass er die Leiden seiner Patienten nicht heilte, sondern verursachte, nur dass er nicht ihre Reflexe prüfte, sondern ihre Knie zerschmetterte. Kontrolliert, schweigsam, als wäre er mit Aktenkoffer und Krawatte in den Knast gekommen, als hätte er seine Frau mit Kuss verabschiedet und die Kinder beim Frühstück nach ihren Leistungen in der Schule gefragt.

Solche Folterer waren eine Katastrophe, denn sie stahlen ihren Opfern das Gefühl der moralischen Überlegenheit. Nie ließen sie sich gehen, nie beschimpften sie einen. Weder Du rote Sau noch Ich ficke dich kam diesen Herren des Schicksals über die Lippen, nicht einmal Hass oder Freude. Aber auch kein Mitleid zeigten sie, was doch der fieseste Trick gewesen wäre: den verlorenen Sohn, der jeder von ihnen war, an sich zu binden.

Er sah wirklich wie ein Doktor aus, glatt rasiert und grau meliert, dicke Brille und pomadisiertes Haar, wie ein Relikt aus der guten alten postkemalistischen Nachkriegszeit. Wie so eine gottverdammte Orhan-Pamuk-Figur. Ahmet mochte Orhan Pamuk nicht, wie von ihm zu erwarten war, pries er Yaşar Kemal, obwohl er auch den längst überwunden hatte. Doch das ist eine andere Geschichte …

İbrahim Doktor hätte auch Anwalt sein können. Vielleicht war er es und verdiente sich was dazu. Es dauert nicht lange, mein Junge, flüsterte er ihm vertrauensvoll zu. Es dauert nicht lange, sagte er ihm beinahe zärtlich, nicht etwa: Wenn du vernünftig bist, pack aus, dann erspar ich mir Arbeit und dir Schmerzen. Es gab nichts mehr auszupacken. Die notwendigen Geständnisse hatten ihm die Polizisten schon in den ersten Tagen rausgeprügelt. Dieser Bürokrat des Schreckens hatte nicht die Aufgabe, Geständnisse zu pressen. Er hatte bloß die Aufgabe, Ahmet weh zu tun. Er war nicht einmal überzeugt von seiner Aufgabe. Er hasste die Linken nicht. Er hatte keine politischen Neigungen. Er verriet ihm, Ahmet, bloß seinen Arbeitsplan, dass für ihn, wie sich herausstellen würde, vier Minuten reichten. Bis zum Abendessen – kam seine Schwiegermutter zu Besuch oder hatte seine Frau Karten für den neuesten Film besorgt? – mussten noch sieben weitere Fälle erledigt werden. Wer weiß, vielleicht hätte er seinen Vorgesetzten auch sagen können: Dem Jungen tu ich nichts, er hat so hübsche Augen. Und niemand hätte widersprochen. Oft waren nicht einmal Wachebeamte im Raum. Er hätte Ahmet auch Zigaretten anbieten und mit ihm plaudern können. Aber er war kein Gesprächstherapeut – er war Diplomfolterer. Er arbeitete um der Arbeit willen, sine ira et studio. Die Gummihandschuhe zog er über, die Elektroden befestigte er an Ahmets Hoden und den Ohren, und nestelte wie ein Hobbyfunker an den Schaltern herum. Ahmet brauchte ihm nicht zu sagen, dass er sich melden solle, wenn es zu sehr schmerze – seine Schreie waren beredt genug, und dann erhöhte Dr. İbrahim die Spannung.

Ahmet Arslans Selbstkritik befahl ihm, diesen Typus nicht zu verallgemeinern, nur weil er so schön paradox schien und bei seinen fiktiven Zuhörern Erstaunen auslösen würde. Es gab genug von den Kerlen, die genau so waren, wie man sie sich vorstellte. Und die Schweine, die Jungs vergewaltigt haben, waren sicher keine väterlichen Bürokraten.

Einmal hatte man ihm einen Gummiknüppel in den Anus geschoben. Es war bei diesem einen Mal geblieben. In vielen anderen Knasten standen Vergewaltigungen an der Tagesordnung. Das war das Schrecklichste, was man einem jungen Mann antun konnte. Bevor er ein solcher wurde, stahl man ihm die Männlichkeit. Zeitlebens würde er sich rächen wollen und, falls er überlebt, den Täter nie finden und deshalb seinen Rachedurst an allen möglichen anderen Objekten stillen wollen, am ehesten bei denen, die ihm am nächsten stehen.

Das orientalische Paradox: Sagtest du dem Gefängniswärter oder dem Polizeioffizier, der regelmäßig Jungs fickt, er sei schwul, würde er dich auf der Stelle erschießen. Keine größere Verletzung seiner Ehre ließe sich vorstellen. Ihm zu erklären, wie so eine hübsche Latte zustande käme, hätte nicht viel Sinn. Nach eigenem Dafürhalten ist er alles andere als schwul. Auch Männer zu lieben ist nicht schwul. Schwul ist der Abschaum, der sich penetrieren lässt und Lust dabei empfindet. Der Ficker kann auch Lust empfinden, aber solange es nur die Lust der Erniedrigung ist, bleibt er ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft. Er hat doch bloß Lust – ein für jeden Mann nachvollziehbarer Lausbubenstreich –, weil er einen Mann zu so etwas Erbärmlichem wie einer Frau macht. Als aktiver Part wäre er nur schändlich, wenn er seine zärtlichen Gefühle für einen Mann, bis dahin tolerabel, in gelebte körperliche Lust verwandelt. Ahmet resignierte bei dieser Kettenreaktion der Widerwärtigkeiten immer, wenn er sich eine moralische Hierarchie ausdenken, die Antwort auf die Frage finden wollte, was hier am widerlichsten sei: die Schwulenverachtung, die Verachtung von Frauen, die Demütigung des Schwachen durch den vermeintlich Starken, der Sadismus oder die peinliche Leugnung der eigenen Homosexualität.

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