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Selbstentfremdung

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Was sind nun die wichtigsten Begrenzungen, die sich naturgemäß aus der Alltagsrealität ergeben? Erinnern wir uns noch mal an die Grundeigenschaften dieser gemeinsamen Wirklichkeit. Sie ist in erster Linie eine Welt der Abstraktion und der Beschreibung – also eine Gedankenwelt. Dadurch entstehen auf der einen Seite solide, »handhabbare«, von uns getrennte Objekte, aber gleichzeitig auch eine Welt der Trennung. Durch die Abstraktion, also das Heraustreten aus der unmittelbaren Erfahrung, erzeugen wir einen künstlichen Abstand zwischen uns als Subjekt und dem, was wir erfahren. Die Wirkung ist ganz automatisch ein Kontaktverlust. Die Unmittelbarkeit der Erfahrung geht verloren und die gedankliche Zuschreibung bestimmt unser Erleben.

Nur selten ist es uns als erwachsene Person vergönnt, dass das Wunder und die Schönheit eines Vogelgesangs oder die Kostbarkeit einer menschlichen Begegnung durch den Filter unserer Gedankenwelt dringt und uns zuinnerst ergreift. Dabei ist das Wunder und die Schönheit des Lebens in jedem Augenblick anwesend, aber das Gefangensein in der abstrakten Welt unserer Gedanken schottet uns davon ab. Ist es da ein Wunder, dass uns das Leben irgendwann flach und langweilig erscheint? Dass viele Menschen im Laufe ihres Lebens mit Selbstentfremdung und Sinnlosigkeit zu kämpfen haben?

All diese Gefühle sind ein folgerichtiger Ausdruck eines inneren Kontaktverlustes, der sich automatisch ergibt, wenn uns die Alltagsrealität bestimmt. Dabei können wir durchaus auf der Oberfläche unseres Lebens nach gängigen Maßstäben erfolgreich und »glücklich« sein. Trotzdem kann sich innerlich eine gähnende Leere breitmachen und sich zunehmend eine große Unzufriedenheit einstellen. Wenn uns eine solche Sinnkrise erfasst und längere Zeit in uns wirkt, wird dadurch viel Lebensenergie abgezogen und wir fühlen uns immer mehr beengt und erschöpft. Vielleicht versuchen wir zunächst, der Erschöpfung mit einem Urlaub oder mit einer Reise zu begegnen, oder wir suchen die Leere mit einem neuen Hobby zu füllen. Wenn das nichts hilft, kommt irgendwann der Moment, in dem wir unser ganzes Leben infrage stellen und nicht selten dabei bestehende Strukturen umwerfen und äußerlich völlig neue Weichen stellen.

Doch meist hilft auch diese Radikalkur nur kurzzeitig. Natürlich bewirkt eine Lebensveränderung wie eine neue Beziehung oder eine Berufsumstellung zunächst ein Aufbrechen der inneren Routine und damit wieder mehr Frische und unmittelbaren Kontakt. Aber die Wurzel der Problematik, aus der die Selbstentfremdung und die Sinnkrise entstanden sind, ist damit weder erkannt noch gelöst, sondern nur aufgeschoben.

Die eigentliche Ursache für unsere Sinnkrise liegt in einem zunehmenden Kontaktverlust, der sich aus unserem Verhaftetsein mit dem Reich der Gedanken ergibt. Solange wir nicht lernen, Gefühle wie Leere, Langeweile, Unzufriedenheit und Sinnlosigkeit als Symptome einer zu starken Dominanz der Alltagsrealität zu deuten und gleichzeitig das Wissen und die Fähigkeit haben, bewusst andere Realitätsebenen aufzusuchen, sind wir dieser Dynamik weiter ausgeliefert.

Zwischen Zeit und Ewigkeit

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