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Wo kommen unsere Ängste her?

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Jeder dieser Bereiche, ob Körper, Selbstbilder, Geschichte, Rollen, Besitz oder Beziehungen, hat einen wesentlichen Anteil daran, dass sich das Ich als festes Objekt mit klaren Zuschreibungen kreiert. Das Erschaffen einer Ich-Identität ist ein natürlicher und gesunder Vorgang, der es uns ermöglicht, in der Alltagsrealität als individuelle »Person« in Erscheinung zu treten und zu interagieren. Sobald wir uns jedoch mit einer dieser Zuschreibungen zum Ich identifizieren, beginnen die Schwierigkeiten. Mit jeder Identifikation findet eine Verklebung statt, die uns mit dem jeweiligen Aspekt verschmelzen lässt.

Wir haben dann nicht mehr das Gefühl, den Körper zu bewohnen oder eine Rolle wie eine Schauspielerin zeitweise zu bespielen, sondern wir »sind« der Körper oder diese Rolle. Mit der Identifikation taucht unmittelbar ein Anspruch auf und entsprechend das Gefühl, ein Recht darauf zu haben. Wir haben keine Offenheit mehr dafür, mitzufließen und uns wieder zu verändern. Im Gegenteil macht uns jede Veränderung Angst. Je stärker wir uns mit Ich-Aspekten identifizieren, desto bedrohlicher erscheint uns der natürliche Wandel des Lebens.

Das Ego mit seinem Festhalten an der Ich-Identität ist damit die zentrale Ursache für viele unserer Ängste. Paradoxerweise gibt uns eine klar umrissene Ich-Gestalt zunächst Orientierung und Halt und vermittelt uns damit Sicherheit. Doch sobald wir uns damit tiefer verbinden und immer mehr identifizieren, nimmt das Gefühl von Sicherheit irgendwann nicht mehr zu, sondern ab. Ängste beginnen uns zu besetzen.

Nehmen wir zum Beispiel die Identifikation mit unserem Körper. Zunächst ist der Körper ein wunderbares Gefäß, das uns geschenkt wird und durch dessen Sinnestore wir die Welt auf eine bestimmte, nämlich menschliche Weise, erfahren können. Das schließt die Fähigkeit ein, erfüllende sinnliche Wahrnehmungen zu erzeugen wie Blütendüfte, sinnliche Berührungen und nährende Geschmackserlebnisse. Der Körper verleiht uns eine sichtbare Gestalt und vermittelt uns trotz seiner Flexibilität und Verletzlichkeit das Grundgefühl einer klaren Kontur und Festigkeit. Ist der Körper nicht ein wunderbares Werkzeug?

Obwohl wir die Lebendigkeit im Körper und auch sein natürliches Wachstum nicht »machen« können, sondern sie sich von selbst entfalten, obwohl wir selbst die Handlungen nicht im Griff haben, sondern der Fähigkeit des Körpers, sich koordiniert zu bewegen, vertrauen müssen, okkupiert im Laufe des Lebens das Ich den Körper immer mehr. Dabei verlassen wir innerlich eine spielerische, dankbare Haltung dem Körper gegenüber und nehmen ihn wie ein besetztes Gebiet ein. Wir schwingen uns zum Herrscher über den Körper auf und er wird zu unserem Staatsgebiet. Obwohl wir immer noch keine (oder nur eine sehr begrenzte) Kontrolle über den Körper und seine Prozesse haben, gebärden wir uns wie ein absolutistischer Herrscher. Wir bilden uns ein, dass er unserem Befehl folgen solle und vor allem, dass wir einen Anspruch auf das Staatsgebiet hätten. Tatsächlich schleicht sich immer mehr das Gefühl ein, dass ich, der Herrscher, das Staatsgebiet bin. Denn gibt es einen Herrscher ohne ein Staatsgebiet? Wohl kaum. Spätestens an diesem Punkt hängen wir unser Wohl und Wehe an die Gestalt des Körpers und jede Veränderung bedroht uns unmittelbar. Jetzt müssen wir das Staatsgebiet ängstlich beäugen, gegen Feinde verteidigen und immer mehr Kontrollmechanismen wie zum Beispiel Diäten oder körperliche Ertüchtigungen einführen.

Ganz dramatisch wird es, wenn uns zu Bewusstsein kommt, dass das Staatsgebiet irgendwann auf immer verloren gehen wird, nämlich dann, wenn wir sterben. Für die Herrscheridentität stellt der physische Tod nicht nur einen Generalverlust dar, sondern bedeutet die eigene Vernichtung. Kein Wunder also, dass der physische Tod für den Menschen oft die größte Herausforderung darstellt und dadurch tiefe Existenzängste auftauchen können. Allerdings löst der Tod nicht bei jedem Menschen Ängste aus. Personen zum Beispiel, die tief im Glauben verankert sind, also ihr Ich nicht so sehr mit dem Körper verknüpfen, sondern mit einer Dimension jenseits der physischen Gestalt, können sich oft erstaunlich vertrauensvoll dem Prozess des Sterbens anvertrauen.

Entscheidend ist also nicht, dass wir einen physischen Körper haben und dieser Teil unserer Ich-Identität ist, sondern wie tief wir mit diesem Aspekt unserer Ich-Gestalt identifiziert sind. Mit anderen Worten: Sind wir als Mensch in der Lage, eine normale Ich-Identität zu erschaffen und damit »in der Welt« als objekthafte Gestalt unseren Platz einzunehmen, und gleichzeitig innerlich mit dieser Gestalt nicht verklebt zu sein? Das gibt uns die Freiheit, uns einerseits in einer spielerischen und dankbaren Haltung in der äußeren Welt der Alltagsrealität zu bewegen und andererseits innerlich mit der Seelenrealität und der absoluten Wirklichkeit des Gewahrseins verbunden zu sein. Ein Mensch, der erkennt, dass das Ich zuinnerst dem offenen Raum des Gewahrseins entspringt und an keine Ich-Objekte gebunden ist, verliert jegliche Angst.

Zwischen Zeit und Ewigkeit

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