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Ein kurzer Ausflug ins Gehirn

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Bei all den Schwierigkeiten, die sich aus einer Identifizierung mit der Alltagsrealität ergeben, dürfen wir nicht vergessen, welch ungeheure Leistung das Erschaffen einer gemeinsamen Wirklichkeit ist und welches Wunderwerk dem zugrunde liegt. Das menschliche Gehirn, das den Verstand und damit die Bewusstseinsebene der Alltagsrealität erst möglich macht, ist so ungeheuer komplex und gleichzeitig kreativ, dass es alle Maßstäbe sprengt und wir nur staunen können, über welches Potenzial ein einziges menschliches Gehirn verfügt. Dabei sind zwei Dinge besonders erwähnenswert: seine Fähigkeit der Verknüpfung und der Neustrukturierung.

Die Komplexität, zu der ein Gehirn fähig ist, ergibt sich aus seinem Potenzial, mit dem sich die Gehirnzellen untereinander verbinden können und damit komplexe Verschaltungen möglich machen. Nach neuesten Schätzungen hat das Gehirn etwa eine Billion Gehirnzellen (= Neurone), die sich mit ihren Nervenästen jeweils mit einer anderen oder mit mehreren Gehirnzellen vernetzen und über elektromagnetische Impulse Informationen in Sekundenbruchteilen austauschen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass ein Brettspiel wie Schach mit 64 Feldern auskommt und dabei trotz eingeschränkter Spielregeln die Zahl der möglichen Stellungen auf 2,28 mal 10 hoch 46 geschätzt wird, dann ist die Vernetzungsmöglichkeit des Gehirns, bei dem eine Billion Gehirnzellen miteinander agieren, so ungeheuer groß, dass sie jede Vorstellungskraft sprengt.

Die zweite Besonderheit des Gehirns besteht darin, dass seine Verknüpfungen niemals endgültig festgelegt sind. Oder anders formuliert: Wir sind zeitlebens fähig, neue Verbindungen auszubilden und damit durch neue Erfahrungen zu lernen. Wissenschaftlerinnen, die das Gehirn erforschen, nennen diese grundlegende Eigenschaft des Gehirns die »Neuroplastizität«. Es bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, nicht nur unterschiedliche Netzwerke zu befeuern und diese damit zu stärken oder zu schwächen, sondern die grundsätzliche Möglichkeit, die Struktur des Gehirns mit ihren zahlreichen Nervenzellen und Verknüpfungen umzubauen. Die Nervenzellenäste können wachsen und neue Verbindungsstellen (Synapsen) entstehen lassen.

Um deutlich zu machen, wie einzigartig dieser Vorgang ist, können wir noch mal einen Blick auf das Schachspiel werfen. Auch Schach ermöglicht eine ungeheure Kreativität von Spielzügen, aber das Regelwerk, die Figuren und die Felder bleiben determiniert, also immer gleich. Das Gehirn dagegen ist ein Spiel, das in jedem Augenblick seine Regeln und Figuren wieder ändern kann. Es hat die grundsätzliche Fähigkeit, sich immer wieder kreativ umzustrukturieren und damit quasi ein völlig neues Spiel entstehen zu lassen. Können wir uns vorstellen, was es bedeutet, ein Spiel zu spielen, das sich während des Spielens fortwährend verändert?

Genau das aber beschreibt die menschliche Situation. Das Leben ist ein Spiel, das lebendig und kreativ sich jederzeit umstrukturieren und verändern kann – nicht nur im äußeren Ablauf, sondern auch in unserem Gehirn. Wir können nicht darauf hoffen, dass die Spielregeln gleich bleiben, und auch die Spielfiguren, also zum Beispiel für uns wichtige Menschen, können jederzeit eine neue Gestalt annehmen. Das menschliche Gehirn mit seiner Fähigkeit zu lebenslanger struktureller Veränderung kann auf diese Herausforderung optimal eingehen.

Wenn wir bis jetzt jedoch nur auf die Komplexität des Gehirns schauen und seine Flexibilität und Kreativität bewundern, ist das nur die eine Seite der Medaille. Flexibilität alleine genügt nämlich nicht. Das Gehirn braucht als Gegenpol die Fähigkeit, Muster und feste Strukturen auszubilden. Nur dadurch entsteht eine gewisse Ordnung im Dschungel des Lebens. Mit jeder Verknüpfung – oder besser mit jedem Netzwerk, das im Gehirn entsteht – bildet sich ein Muster aus, das innere körperliche Abläufe, aber auch Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen strukturiert. Ohne diese Muster könnten wir weder wahrnehmen noch denken oder absichtsvoll handeln.

Sogar unsere sinnliche Wahrnehmung entsteht erst durch komplexe Verschaltungen in unserem Gehirn, die zum Beispiel einen visuellen Eindruck entstehen lassen. Ohne dass unser Gehirn die sensorischen Reize aus dem Auge auf eine bestimmte Weise verarbeitet und zu einem Bild zusammenfügt, würden wir trotz Lichteinfall und den Rezeptoren im Augenhintergrund nichts sehen. Das, was wir also sehen, ist eine Bildkonstruktion des Gehirns und nicht eine unabhängige äußere Welt.

So wie wir Bilder konstruieren und uns damit in der Welt »sehend« zurechtfinden können, erzeugt das Gehirn auf allen Ebenen durch seine vielfältigen Muster das Erscheinen einer geordneten Welt. In jedem Augenblick unseres Lebens setzen wir die verschiedenen Wahrnehmungen zusammen, ergänzen sie mit gedanklichen Zuschreibungen aus alten Erfahrungen und kreieren damit eine einheitliche Welt, die geordnet und damit handhabbar ist. Genau diese Fähigkeit unseres Gehirns, Muster auszubilden und damit eine solide, objekthafte und zusammenhängende Welt zu konstruieren und sich darin zu bewegen, ist die Grundlage für die Bewusstseinsebene der Alltagsrealität.

Geistige Muster zu erschaffen ist daher ein wunderbarer Mechanismus des Lebens, der es uns als Menschen überhaupt erst ermöglicht, zu existieren und unser Leben zu gestalten. Diese Muster können jedoch gleichzeitig immer mehr einrasten und zu Gehirnautobahnen werden, die uns zunehmend auf eine bestimmte Weltsicht einengen. Auch dazu ist unser Gehirn fähig. Wir können beobachten, dass manche dieser automatisierten Muster und gedanklichen Zuschreibungen uns so stark besetzen können, dass sie neue Erfahrungen oder aktuelle Wahrnehmungen teilweise oder sogar komplett überlagern.

Das hört sich dramatisch an, ist aber ein vollkommen gewöhnlicher Vorgang. In aller Regel nehmen wir zum Beispiel unsere Wohnung nicht mit neuen, unvoreingenommenen Augen wahr. Das Gehirn vergleicht jedes Objekt mit alten ähnlichen Erfahrungen und lässt nur das bekannte Bild bzw. das alte, automatisierte Muster unserer Wohnung im Bewusstsein auftauchen. Die gegenwärtigen, neuen und vielfältigen Erfahrungen werden dabei weggefiltert. Für einen gewöhnlichen Alltagskontakt, bei dem eine oberflächliche Bezugnahme genügt, ist dies vollkommen ausreichend. Mehr noch: Für eine schnelle Bezugnahme oder Handlung sind zu viele Informationen kontraproduktiv.

Wenn wir zum Beispiel beim Autofahren die Details einer Landschaft und die Wolkenstimmung bewundern und zusätzlich dabei noch das Atmen und die subtilen körperlichen Empfindungen genießen würden – so, als würden wir sie zum ersten Mal spüren –, wäre unser Gehirn überlastet und die Funktionalität beim Fahren stark eingeschränkt. Erst wenn das Gehirn alle unwesentlichen Eindrücke für eine Aufgabe herausfiltert und unser Geist sich auf die bekannten und für das Autofahren relevanten Wahrnehmungs- und Handlungsmuster bezieht, sind wir effektiv.

Die Problematik dabei ist jedoch, dass diese Filterfunktion des Gehirns kaum mehr neue Erfahrungen zulässt. So kann es schleichend geschehen, dass die bekannten Muster und Bilder immer mehr unser Erleben bestimmen und wir uns dadurch nur noch scheinbar auf eine Außenwelt beziehen. In Wirklichkeit sind wir in einer Innenwelt von bekannten ­Bildern, Zuschreibungen und Mustern – in einer Gedankenwelt – gefangen. Diese hausgemachte Isolation beschreibt Martin Buber anschaulich als eine »Ich-Es-Beziehung«, in der keine unmittelbare, echte Begegnung mehr stattfindet. Wir treffen hier nur noch auf eine geistige Reflexion, die wir auf das Gegenüber projizieren. Dadurch fühlt sich der Kontakt zwar vertraut und sicher an, gleichzeitig wird er aber auch ein wenig schal, wie abgestandenes Wasser.

Erst wenn ein Ereignis stark genug ist und uns emotional berührt, sodass es uns aus unserer Gedankenwelt wieder aufweckt oder vielleicht sogar aufrüttelt, wird das Ereignis im Gehirn als neu behandelt und die unmittelbaren Eindrücke dazu dringen wieder zu uns durch. Für einen Augenblick treten die geistigen Filter zurück und die Pforten der Wahrnehmung öffnen sich. Dabei können neue Verknüpfungen im Gehirn entstehen und das kreative Potenzial – seine Fähigkeit zur Umstrukturierung – tritt in Aktion. Erst hier können wir von einer echten Begegnung sprechen, oder wie Martin Buber es nennt: einer »Ich-Du-Begegnung«. Erst dann erreicht uns nämlich wieder die Einzigartigkeit des Augenblicks und wir erfahren den Kontakt als frisch und neu.

Müssen wir nun darauf warten, dass ein emotional aufwühlendes, dramatisches Ereignis uns aufweckt und die Filter im Gehirn zur Seite schiebt? Oder sollten wir die Dramatik lieber selbst erzeugen? Vielleicht durch eine abenteuerliche Fernreise in ein exotisches Land, einen bewegenden Film auf Großleinwand oder durch extreme Verausgabung im Sport? Oder gibt es noch andere Möglichkeiten, aus der Hypnose einer Alltagsrealität mit all ihren bekannten Mustern und gedanklichen Zuschreibungen auszusteigen?

Wenn wir uns der hypnotischen Dynamik der Alltagsrealität bewusst sind und ihre Symptome kennen, können wir mithilfe unserer Aufmerksamkeit die Bewusstseinsebene wechseln und in die kreative Innenwelt der Seelischen Realität oder in die Stille der Absoluten Realität eintauchen. Die Pforte der Gegenwart steht uns in jedem Augenblick zur Verfügung, und jedes Mal, wenn wir sie durchschreiten, um in die Tiefendimension unserer Seele oder in die Weite und Offenheit des absoluten Bewusstseins einzutauchen, lassen wir die Alltagsrealität mit all ihren schalen Zuschreibungen und funktionalen Mustern zurück. Wenn wir uns dann wieder dem alltäglichen Leben mit seinen Pflichten und Anforderungen zuwenden, fühlen wir uns im wahrsten Sinne des Wortes »beseelt« und innerlich erfüllt. In der Folge entsteht auch im gewohnten äußeren Umfeld wieder eine neue Wachheit.

Zwischen Zeit und Ewigkeit

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