Читать книгу Tod auf der Rennbahn - Rita Hampp - Страница 5
EINS
ОглавлениеSechs Stunden vor dem Mord saß Udo Retzlaff neben der Pferdebox auf einer umgedrehten Schubkarre und schluckte trocken, voller Sehnsucht nach einem Tropfen Bier. Er stützte seine Beine auf dem vor ihm liegenden Strohballen ab und versuchte, sich auf das Messer zu konzentrieren. Andächtig strich er mit dem weichen Lappen über Griff und Klinge.
Lange hatte er darauf gespart. Bläulicher, matt glänzender, dreihundertachtzigmal gefalteter Damaszener-Stahl, der ovale Griff kunstvoll gerundet und sanft schimmernd. Ein Meisterwerk. Wie es in der Hand lag! Und scharf war es, gefährlich scharf. Dieses Stück war sein ganzer Stolz, gerade hier, in dieser schäbigen Umgebung, die ganz im Gegensatz zu den glänzenden Kulissen Baden-Badens und der berühmten Rennbahn von Iffezheim stand.
Keiner der feinen Leute am Geläuf hatte eine Vorstellung davon, wie sie hier hausten, in Vierbettzimmern, ohne Privatsphäre. Aber er musste es aushalten, noch die ganze Woche. Order vom Chef, der natürlich in der Stadt in einem Fünfsternehotel residierte, obwohl er sich das gar nicht leisten konnte.
Am liebsten würde er sich davonstehlen, nur ganz kurz, nur für einen winzigen Trostschluck. Aber das ging nicht. Erst gestern hatte es deswegen Krach gegeben. Er brummte verärgert, als er daran dachte. Mit Kündigung drohen – ihm! Ausgerechnet ihm! Nach all den Jahren. Das war nicht fair.
Prüfend hob er das Messer und streichelte die Klinge ganz vorsichtig mit seinem Daumen. So scharf! So wertvoll! Als ein Sonnenstrahl die Schneide zum Funkeln brachte, blickte er sich ängstlich um. Niemand sollte das Messer zu Gesicht bekommen. Es gab überall Langfinger, bestimmt auch hier.
*
»Einen klitzekleinen Moment noch«, bat Marie-Luise Campenhausen und deutete mit dem gebogenen Gemüsemesser auf den Stuhl neben dem Küchentisch. »Setzen Sie sich doch, Frau Weidenbach. Das Ragout ist gleich fertig. Ich will nur noch schnell die Äpfel schneiden für das Kompott.«
Gehorsam nahm Lea in der gemütlichen Küche Platz und musste sich beherrschen, um nicht zum zehnten Mal zur Uhr zu schielen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich heute von ihrer netten alten Vermieterin zum Mittagessen einladen zu lassen. Gleich eins! Um kurz nach zwei musste sie spätestens auf der Rennbahn in Iffezheim sein, um noch eine halbwegs gute Position für das Foto zu ergattern. Um drei würden die Zuschauer so dicht gedrängt um den Führring stehen, dass kein Durchkommen mehr möglich wäre. Das hatte ihr jedenfalls der Kollege von der Sportredaktion gesagt, dem sie den Termin zu verdanken hatte.
»Ist das nicht ärgerlich«, seufzte Frau Campenhausen, während sie die Äpfel in feine Spalten schnitt. »Ein Bridgeturnier ausgerechnet während der Großen Woche.«
»Heute geht es doch nur um die Goldene Peitsche. Schlimmer wäre es nächsten Sonntag beim Großen Preis«, versuchte Lea sie zu trösten, doch die alte Dame schüttelte unwirsch ihre weißen Löckchen.
»Das wäre ja noch schöner! Davon würde mich nichts und niemand abhalten. Trotzdem ärgert es mich.« Sie schnalzte mit der Zunge, ohne aufzublicken. »Was heißt da übrigens ›nur‹ Goldene Peitsche. Neunzigtausend Euro Preisgeld, ist das etwa nichts? Und an Ihrer Seite hätte ich dem berühmten Andreas Fiebig persönlich die Hand schütteln können. So etwas Ärgerliches auch! Da hat man einmal die Chance, den Starjockey kennenzulernen … «
»Ich weiß gar nicht, ob ich ihn überhaupt vor dem Rennen sprechen kann, Frau Campenhausen. Das Interview haben wir erst heute Abend. Jetzt schieße ich doch nur das Foto mit ihm auf Rother Wind.«
»Trotzdem, ein großes Malheur! Haben Sie das Geld für die Wette eingesteckt? Passen Sie nur gut auf! Auf der Rennbahn kann viel passieren. Lug und Betrug, überall. Das weiß ich von Dick Francis.«
Lea unterdrückte ein Lächeln. Frau Campenhausen und ihre Krimis!
»Andreas Fiebig«, schwärmte die alte Dame, »zehntausend Starts, über tausendfünfhundert Siege. Er muss einfach gewinnen. Und meine Mieterin ist eine alte Bekannte von ihm!«
Lea verschwieg lieber, dass sie überhaupt nichts von Andis steiler Karriere mitbekommen hatte. Erst als am Freitag in der Redaktionskonferenz sein Name gefallen war, war sie hellhörig geworden und hatte ihn schließlich wegen einer Reportage angerufen. Er hatte am Telefon geklungen, als würde er sich freuen. Eigentlich war das nicht möglich; er konnte die alte Geschichte nicht vergessen haben.
»Die Schulzeit ist ewig her. Wer weiß, ob ich ihn wiedererkenne«, meinte sie lahm.
»Papperlapapp. Er sieht auf den Fotos so fesch und jugendlich aus. Bestimmt war er früher der Schwarm aller Mädchen.«
Lea lachte bitter. Wenn Frau Campenhausen wüsste! Fips, der Giftzwerg mit den O-Beinen. Er hatte Lea immer leidgetan, und sie hatte bis zuletzt versucht, ihn zu beschützen. Aber dann hatte er sich ja selbst ins Abseits gestellt. Sein Verschwinden war das einzig Richtige gewesen. Nur schlug ihr immer noch das schlechte Gewissen bis in den Hals, wenn sie daran dachte, dass er ihr wahrscheinlich bis heute die Schuld gab, dass es überhaupt so weit gekommen war. Dabei hatte sie ihn nicht verraten! Wirklich nicht!
Mienchen, Frau Campenhausens Katze, sprang ihr auf den Schoß und wollte ausnahmsweise gestreichelt werden. Aber Lea hatte nur Augen für die Uhr.
Frau Campenhausen folgte ihrem Blick.
»Herrje, das Ragout!«
*
Rother Wind steckte seinen Kopf aus dem offenen oberen Teil der zweigeteilten Boxentür und schnaubte aufgeregt.
»Ruuuuhig, Lütter!«, brummte Udo automatisch. Stuten zeigten ja öfter mal Nerven, aber es gab bestimmt keinen zweiten fünfjährigen Hengst, der vor Rennen so nervös war wie dieser hier. Rother Wind schwitzte und zitterte, seit sie gestern Nachmittag angekommen waren. Seitdem hatte er auch sein Futter verweigert.
Eigentlich hatte seine Nervosität schon gestern Morgen in Köln eingesetzt, als der Chef mit dem Transporter auf den Hof des Rennstalls gerumpelt war. Rother Wind hatte den Kopf gehoben, die Augen gerollt und ausgeschlagen. Nur mit Mühe hatten sie ihn in den Anhänger gebracht, und er hatte sich noch immer nicht ganz beruhigt.
In zwei Stunden würde der Gaul wie umgewandelt sein, das wusste Udo aus Erfahrung. Seit über drei Jahren kümmerte er sich nun schon intensiv um den Vollblüter. Immer dasselbe Theater. Doch wenn er kurz vor dem Rennen mit den letzten Vorbereitungen begann, würde das Tier still stehen, mit den Ohren spielen und es kaum mehr erwarten können, über das Geläuf zu fliegen und seine Konkurrenten abzuhängen. Ein Teufelskerl! Kein Wunder, dass die beiden all ihre Hoffnungen auf genau dieses Pferd gesetzt hatten. Ihr erster großer Zuchterfolg. Hoffentlich gewann Rother Wind heute die Goldene Peitsche. Das wäre ein prima Test für nächsten Sonntag, wenn er im Großen Preis gegen die besten Vollblüter der Welt antreten würde. Ach, was machte er sich Gedanken! Mit Andi als Jockey gab es keinen Grund, an einem Sieg zu zweifeln.
Doch noch war es nicht so weit. Noch musste er versuchen, etwas von seiner eigenen Ruhe auf Rother Wind zu übertragen. Die anderen würden in einer Stunde kommen, um die letzte Order vor dem Rennen zu besprechen. Bis dahin musste der Hengst einigermaßen zu Verstand gekommen sein.
Ein Stück Mohrrübe vielleicht?
Rother Wind schnaubte verächtlich und zog den Kopf zurück in das Innere der Box.
Udo sah zur Uhr. Eigentlich blieb genügend Zeit, um kurz zu verschwinden. Sein Hals war schon ganz ausgedörrt. Ein Mann von der Küste musste seine Kehle nun mal regelmäßig ölen, das wusste der Chef doch. Hatte früher schließlich selbst nicht genug kriegen können, wenn er mal rennfrei hatte, und noch ganz andere Dinger geschluckt, wenn er im Sattel saß. Aber seit er mit Anna verheiratet war, spielte er sich auf wie ein hochwohlgeborener Gestütsbesitzer.
Bedächtig legte er sein Messer zur Seite, stand von der unbequemen Schubkarre auf, drehte sie um und klopfte sich die Hose ab. Die Streu musste noch verteilt werden, fiel ihm ein. Das hatte er schon am Morgen machen wollen, aber weil Rother Wind so nervös gewesen war, hatte er lieber eine Stunde länger seine Runden mit ihm gedreht. Er zerrte den Ballen an den Plastikschnüren zu sich und hievte ihn auf die Schubkarre. Dann nahm er sein geliebtes Messer und zerschnitt die Schnüre.
Hinter ihm räusperte sich jemand. Erschrocken fuhr er herum, entspannte sich aber gleich wieder. Möglichst unauffällig schob er das Messer in eine tiefe Tasche seiner Weste. Dieser Mann war der Letzte, dem er es hätte zeigen wollen.
»Ah, Sie sind’s«, meinte er dann betont lässig. »Lassen Sie sich man bloß nicht erwischen. Wenn der Chef Sie sieht …
»Pah, der taucht nicht vor halb zwei auf. Hier! Ich hab uns was mitgebracht.«
»Das ist ja ein Ding! Genau das Richtige jetzt. Aber ich … ich weiß nicht. Wenn der Chef früher kommt! Wenn der mich mit ’ner Buddel sieht, bin ich dran. Gestern erst –«
»Ach was, das erfährt der doch gar nicht. Wir gehen ein paar Schritte, da kann uns niemand überraschen. Komm schon, einen Toast auf alte Zeiten. Das ist doch deine Lieblingsmarke, oder?«
Udos Zunge klebte am Gaumen. Leuchtturm, Wind, Meer und Sanddünen – der ganze Werbespot schoss ihm durch den Kopf, und mit ihm kam das brennende Heimweh. Es gab nur einen Weg, es zu löschen.
»Momang. Ich schließ die Box schnell ab, dann können wir.«
»Quatsch! Hab dich nicht so. Du hast die letzte Box in der vorletzten Reihe. Der nächste Gaul steht drei Reihen weiter vorn. Hier kommt doch niemand her und klaut deinen Esel!«
»Klauen nicht, aber …«
»Willst du jetzt, oder nicht? Ich hab nicht den ganzen Nachmittag Zeit.«
Der Arm des Besuchers schloss sich um seine Schulter wie eine Schraubzwinge. Udo kannte die Ungeduld des Mannes. Wenn er sich jetzt zierte, würde er dem schönen kühlen Bierchen hinterhersehen müssen.
Er griff zum Schlüsselbund. »Dauert doch nur eine Sekunde«, versuchte er es noch einmal.
Die Schraubzwinge wurde fester und zog ihn fort. »Wenn du abschließt und dein Chef kommt, kann er sich doch sofort zusammenreimen, wo du bist und was du machst.«
»Immer noch besser als ein Rauswurf«, wand Udo sich.
»Du Vogel hat ja einen. Aber gut, lass uns dort drüben hingehen. Da hast du die Box im Blick und kannst rechtzeitig sehen, falls dein Chef angetrabt kommt. Dann bist du wie ein Blitz zurück an Ort und Stelle und musst nicht mal aufschließen.«
Halb überzeugt gab Udo den Widerstand auf und ließ sich mitziehen. An der Weggabelung standen leere Pferdeanhänger. Man konnte alles gut überblicken, wurde aber selbst nicht sofort gesehen. Eigentlich optimal.
Mit einem leisen, vertrauten Zischen flog der erste Kronkorken vom Flaschenhals, gleich darauf der nächste von der zweiten Flasche.
»Hoppla«, rief sein Besucher. Entsetzt beobachtete Udo, wie sich sein schönes Bier über dessen elegante Anzughose ergoss. Ärger! Schadenersatz! Der Chef würde alles erfahren! Wie hatte das nur passieren können? Es war alles so schnell gegangen.
Hektisch begann er, mit der bloßen Hand den Fleck zu verreiben, aber er machte es nur noch schlimmer.
»Idiot! Bring mir einen nassen Lappen, aber dalli!«, rief sein Besucher.
»Die Waschräume sind gleich dort!«
»Dann los! Worauf wartest du! Weißt du, wie teuer der Anzug war? Da musst du ein Jahr drauf sparen! Beweg dich!«
Udo sah verzweifelt zu Rother Wind, der aufgeregt den Kopf hob und senkte. Sein Besucher folgte seinem Blick.
»Ja, ja, schon gut! Ich bleib hier sitzen und lass deinen blöden Gaul nicht aus den Augen. Dauert doch nur eine Sekunde!«
Mit der schäumenden Bierflasche in der Hand rannte Udo los, so schnell er konnte. Im Waschraum gab es keine Frotteesachen, nur einen Stapel Papiertücher. Jeder Pferdepfleger, der hier draußen nächtigen musste, brachte sein eigenes Handtuch mit zum Duschen. Hektisch suchte er die Kabinen nach irgendetwas ab, mit dem er seinem Besucher aushelfen konnte.
Die Tür verdunkelte sich. »Wo bleibst du, verdammt. Das Zeug trocknet doch ein! Das wird ja immer schlimmer! Riech mal, ich stinke wie nach einem Kneipenbesuch. Jetzt beeil dich. Ich mach dich sonst haftbar, Sackzement!«
*
Kriminalhauptkommissar Maximilian Gottlieb kam sich vor wie ein Tiger. Ein eingesperrter Tiger. Freie Wochenenden waren die Pest! Was hatte er nicht schon alles getrieben. Gestern war er drei Stunden gewandert, hatte einen alten Mankell auf- und lustlos wieder zugeschlagen und sich geärgert, dass es keine neuen Abenteuer seines schwedischen Kollegen mehr geben sollte. Er hatte sich durch alle verfügbaren Sportsendungen gezappt, einen neuen Jahrgang badischen Spätburgunder aufgemacht, das Saxophon malträtiert und war auf der Couch eingeschlafen. Jetzt war auch die Sonntagszeitung ausgelesen, und es war gerade erst Mittag. Ein endloser Sonntagnachmittag lag noch vor ihm.
Ob er im Dezernat anrufen sollte? Er konnte den Dienst von jemandem übernehmen. Aber das hatte er erst letztes Wochenende getan. Das sah ja so aus, als würde er sich nicht allein beschäftigen können. Oder als würde er sich einsam fühlen. Bei Gott, nein! Langweilen, ja, vielleicht, aber einsam fühlen? Nie! Das hier war keine Einsamkeit. Das war Freiheit! Niemand war da, der ihm Vorschriften machte, niemand, der herumnörgelte oder dem er Rechenschaft ablegen musste. Seit seiner Scheidung vor fünf Jahren war er sein eigener Herr, und das war gut so!
Nur diese dienstfreien Wochenenden waren eindeutig zu lang.
Er ging zum Fenster und blickte über die Streuobstwiesen hinunter auf die Stadt und die Rheinebene bis hinüber nach Frankreich. Ein schöner Blick, fürwahr. Aber heute war er viel zu unruhig, um ihn zu genießen. Dieses dumpfe Gefühl in der Magengegend machte ihn noch verrückt. Es bohrte in ihm wie eine Vorahnung. Ein Polizist hatte keine Vorahnungen zu haben! Das kam nur von dieser verdammten Ruhe!
Mit einem Ruck riss er sich von der prächtigen Aussicht los und schlüpfte in seine bequemen Treter. Er musste hier raus. Und er wusste auch schon, wohin. Auch wenn Pferdewetten nicht sein Ding waren, brachte ihn die Atmosphäre auf der Rennbahn bestimmt auf andere Gedanken. Außerdem konnte er gleich kontrollieren, ob alle Mann auf ihren Posten waren.
*
Alles war unverändert. Auch die Experten waren offenbar in der unfreiwillig verlängerten Bierpause nicht da gewesen. Da hatte er Glück gehabt.
Mit geschickten Händen begann Udo Retzlaff das Fell von Rother Wind zu striegeln. Er summte leise. Das Bier hatte gutgetan. Und auch Rother Wind spürte das. Man konnte meinen, das Tier würde gleich vor Behagen schnurren.
Nach einer Weile legte er die Striegel zur Seite. Wenigstens trank Rother Wind jetzt ausreichend. Schon erstaunlich, wie entspannt das Tier unter seinen ruhigen Bewegungen geworden war. Fast hatte er den Eindruck, als würde das Pferd am liebsten ein kleines Nickerchen halten. Aber das ging ja nun gar nicht. Es sollte schließlich in einer Stunde gewinnen und Geld in Annas leere Kasse bringen.
Stirnrunzelnd sah er sich ein letztes Mal um. Rother Wind schnupperte an einem Apfel, der auf dem Strohballen lag. Er zog ihn fort. »Jetzt nicht, du. Alltiet, jederzeit, aber jetzt nicht! Jetzt sollst du nur laufen. Und gewinnen. Hörst du?«
Rother Wind hob den Kopf und wieherte. Ein gutes Zeichen.