Читать книгу Tod auf der Rennbahn - Rita Hampp - Страница 6

ZWEI

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Lea kam sich vor wie in einem Alptraum. Es hatte für ihr Gefühl eine halbe Ewigkeit gedauert, bis sie losfahren konnte. Dann hatte sie weit hinten auf der Wiese parken müssen, weil sie in der Eile den Sonderparkausweis des Badischen Morgens vergessen hatte.

Fast war sie zu spät gekommen. Nur zehn Minuten noch. Und jetzt das, genau wie sie es befürchtet hatte!

»Lassen Sie mich bitte durch, ich bin von der Presse!«

Es half nicht viel. Die Zuschauer standen wie Beton um den Führring.

Sie streckte sich. Die Pferde waren noch nicht da, Gott sei Dank. Aber ihre Besitzer und Trainer sammelten sich schon auf dem gepflegten Rasen. Ein illustres Publikum. Der Herr dort im exotischen Ornat, das war offenbar der angekündigte Prinz von Burma, und dort, im weißen Trägerkleidchen und mit einem riesengroßen roten Hut: Michelle Hunziker. Der Mann neben ihr mit dem Hut und dem aufgeklebten Schnurrbart, das musste der Spaßvogel Hape Kerkeling sein, als Journalist Horst Schlämmer verkleidet. Dieter Thomas Hecks Stimme ratterte aus den Lautsprechern, sie verstand ihn kaum, sondern konzentrierte sich stattdessen auf das Treiben dort vorn unter den Bäumen.

Männer in braunen Jacketts balancierten mit wichtigen Mienen winzige, alberne englische Hüte wie Kronen auf dem Kopf; statt einem Taschentuch steckten Block und Stift in ihren Brusttaschen. Die Hüte der eleganten Damen, die mit hohen Absätzen über den weichen Rasen trippelten, ohne zu straucheln, waren dagegen in Umfang und Auffälligkeit kaum zu überbieten: wagenradgroß, mit rosa Tüll, bunten Stoffblumen und pinkfarbenen Schleifen verziert, behängt mit Perlenbordüren wie eine Jugendstillampe. Oder dort, die Dame im sonnengelben Etuikleid, die mit vollem Ernst eine bunte Kreation trug, auf der zwei ausgestopfte Papageien thronten. Ihre Begleiterin hatte ein breites Stirnband aufs Haar gesetzt, an dem zwei dicke Bündel mit langen Fasanenfedern befestigt waren, die bei jeder Bewegung sanft auf und nieder wippten. Weiter hinten eine Frau, die eine Art Mühlstein auf dem Kopf schleppte, der mit einer bunten Perlengirlande behängt war, welche ihr ständig ins Gesicht fiel. Der pinkfarbene Schwan mit den rosa Fransen und der schwarze Strohhut nach Art chinesischer Reisbauern wunderten Lea dann schon gar nicht mehr. Dieser Hut dort, knallrot und so zusammengefaltet, dass aus dem Runden etwas Eckiges geworden war, war ja schon fast als schlicht zu bezeichnen. Da fiel der türkisfarbene schiefe Turm von Pisa auf den blonden Locken direkt vor ihr schon mehr auf.

Lea verkniff sich ein Kichern. Nein, das hier war nicht ganz ihre Welt. Keine zehn Vollblüter konnten sie in die Runde dort hineinbringen.

Regelrecht königlich kamen Lea die Frauen im besten Alter vor, mit ihrem schlichten, aber unbezahlbar wirkenden Schmuck an Hals und Ohren. Auch sie trugen Hüte, aber irgendwie passten sie zu ihnen, leicht, unauffällig und unübersehbar von erlesen teurem Geschmack.

Was machten all die Damen der Gesellschaft nur nach dem Rennen mit ihren Kopfbedeckungen? Diese Hüte waren doch so auffallend, dass man sie in ihren Kreisen kein zweites Mal tragen konnte. Oder konnte man sie mieten? Wurden sie versteigert? Im Schrank aufbewahrt? Einfach ausrangiert ohne Rücksicht darauf, was sie gekostet hatten? Lea hatte sich das schon öfter gefragt, wenn sie in der Fußgängerzone an den Auslagen der Modelegende Olivier Maugé vorbeikam, aus dessen Hand ganz offensichtlich einige dieser Gebilde stammten.

Wie ein Kieselstein in einer Schmuckauslage sprang ihr in diesem Augenblick ein Paar ins Auge, das im Führring etwas abseits stand. Sie hob die Kamera und zoomte sich die beiden durch das Objektiv näher heran. Die Frau war füllig und ungeschminkt. Sie hatte ihre lange dunkle Lockenpracht lässig zusammengebunden und trug Jeans, ein weites Hemd und einen bunten Schal um den Hals. Sie wirkte nicht schlampig, sondern hatte etwas Robustes, Verlässliches, Mütterliches an sich.

Der zierliche Mann an ihrer Seite war einen halben Kopf kleiner, hatte weiche Gesichtszüge, welliges schwarzes Haar und trug einen fließenden, cognacfarbenen Wildlederanzug. Er war braun gebrannt, hatte das weiße Hemd einen Knopf zu weit offen, und seine Füße steckten in hellbraunen Cowboystiefeln aus Wildleder, die schon bessere Tage gesehen hatten. Sein Lächeln war das eines geborenen Charmeurs. Es gab kaum eine Frau, die nicht Blickkontakt mit ihm aufzunehmen versuchte. Aber seine Frau und er hielten sich fest an der Hand wie eine auf ewig zusammengeschweißte Einheit.

Eine Klingel ertönte irgendwo in der Nähe, und die Jockeys eilten durch eine abgesperrte Gasse in den Führring. Mit ihren bunten Blousons und Helmen in den jeweiligen Rennstallfarben erinnerten sie Lea an Blumen auf einer Wiese.

»He, Lea, hier!«

Sie nahm die Kamera herunter.

Andi stand am Rand der Absperrung. In seinem goldenen Dress sah er souverän aus und genauso jung, wie Frau Campenhausen ihn sich ausgemalt hatte. Er hielt ihr die Hand hin. »Komm rüber, ich will dich vorstellen.«

Wie durch Zauberhand bildete sich eine Gasse in der Zuschauermenge. Andi war noch hagerer und o-beiniger als damals in der Schule. Seine Wangen waren eingefallen, die Lippen vor Trockenheit aufgeplatzt, und die Furchen neben seiner schmalen Nase waren so scharf wie Messerschnitte. Er packte Lea am Arm, zog sie an sich und küsste sie auf die Wangen. Er roch nach einem teuren Aftershave und trug dezentes Make-up.

»Du siehst toll aus, Lea. Einfach klasse. Hast dich überhaupt nicht verändert. Komm mit. Du musst Christian Sonnefeld und seine Frau Anna Fröhlich kennenlernen. Keine Ahnung, warum Ehepaare heutzutage verschiedene Namen tragen, aber du wirst die beiden mögen.«

Er zog sie in den Führring hinein, zu dem unkonventionellen Paar, das Lea gerade aufgefallen war. Die mütterliche Frau lächelte ihr warm entgegen. Ihr Händedruck war fest und angenehm.

»Das ist Lea Weidenbach, meine Jugendliebe«, stellte Andi sie den beiden vor. »Lea schreibt eine Reportage über mich für die Zeitung hier am Ort, den Badischen Morgen. Eigentlich ist sie Polizeireporterin.«

»Deine Jugendliebe? Na so etwas!« Sonnefeld boxte Andi verschwörerisch in die Rippen, während er gleichzeitig zu einer sehr schlanken, sehr jungen, sehr blonden Frau schielte und ihr zuzwinkerte.

Lea stand daneben und kochte vor Wut. Jugendliebe! Was fiel Fips ein! Er war doch nicht recht bei Trost, sie nach allem so zu bezeichnen. Sie wollte schon heftig protestieren, da schoss der kahlköpfige, korpulente Begleiter der blonden Frau auf Sonnefeld zu.

»Wenn du meiner Frau noch einmal schöne Augen machst, dreh ich dir den Hals um«, giftete er. »Merk dir das, ich meine das ernst! Lass die Hände von Patricia.«

Sonnefeld strich sich mit gespreizten Fingern über die Haare. »Lass das, Ferry. Ich hab nur Guten Tag gesagt, du Sauertopf.«

»Hast du nicht. Ich hab es genau gesehen. Noch einmal, und ich mach dich fertig!« Damit drehte sich der Mann abrupt um, ging zu seiner Frau und schob sie am Ellbogen in eine andere Richtung.

Verlegene Stille breitete sich aus. Dann zauberte Sonnefeld das gewinnende Lächeln in sein Gesicht zurück. »Verstehen Sie das, Lea? Sauerbrey! Wenn einer schon Sauerbrey heißt! Wollen Sie nicht ein Foto von uns schießen? Ach, und sagen Sie Sonny zu mir.« Dazu schenkte er Lea ein hinreißendes Lächeln und einen tiefen Blick aus seinen kornblumenblauen Augen. Gegen ihren Willen wurden ihr tatsächlich die Knie weich.

Wenig später deutete Andi in Richtung Sattelboxen. Die Pferde wurden in den Ring geführt.

»Das ist Rother Wind. Die Nummer vier. Was hältst du von ihm? Sieht er nicht prachtvoll aus?«

Lea konnte nur nicken. Golden schimmerndes Fell, große, kluge Augen, wie ein feines Geflecht hervortretende Adern, aufmerksam spielende Ohren, vorsichtiger, raumgreifender Gang, schmale Fesseln. Es fehlten ihr zwar die richtigen Worte, aber das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als das Tier nah an ihr vorbeigeführt wurde.

Etwas irritierte sie allerdings an dem Pferd. Es kam ihr im Gegensatz zu den anderen nervös tänzelnden Vollblütern merkwürdig ruhig vor, außerdem schüttelte es ständig den Kopf. Doch das störte offenbar niemanden außer ihr.

Mit einem Schwung hob Sonnefeld Andi auf das Pferd. Augenblicklich verschmolzen Mensch und Tier zu einer goldenen Einheit. Alles schien perfekt.

Da riss das Tier plötzlich unruhig witternd seinen Kopf hoch. Es streckte den Hals, legte die Ohren an. Lea stockte der Atem. Mit energischen Bewegungen dirigierte Andi das Pferd in Richtung Ausgang. Der rundliche weißblonde Pferdepfleger, der das Tier am Zügel hielt, stemmte sich dem seitlichen Ausbrechen entgegen. Doch es half nichts. Rother Wind stieg auf die Hinterbeine. Er schrie regelrecht, die Augen angstvoll verdreht. Andi hieb mit der Gerte auf das Pferd.

Lea riss die Kamera hoch und ließ den Finger nicht vom Auslöser. Um Himmels willen, stand da etwa ein Rollstuhl? Oder ein Kinderwagen? Würde das Pferd mit seinen Hufen jemanden treffen? Würde es durchgehen?

Andi zwang das auskeilende Pferd mit harter Hand weiter und gewann die Kontrolle zurück. Bravo! Lea verstand zwar nichts von Pferden, aber das war doch eine Meisterleistung gewesen!

»Das war knapp«, hörte sie Sonnefeld neben sich erleichtert seufzen.

Seine Frau hingegen war außer sich: » Was hatte er? Das gibt es doch gar nicht! Erst viel zu ruhig, wie besoffen, und jetzt das! Was ist mit dem Pferd passiert?«

»Nichts, Liebes. Hat sich nur erschrocken, das kommt schon mal vor, mein Engel«, beruhigte Sonnefeld sie und zog sie an sich. Eine vertraute, zärtliche Geste, die gar nicht zu seinen suchenden Augen passte.

Lea beschloss, die beiden allein zu lassen und dem Publikum in Richtung Rennstrecke zu folgen.

»Warten Sie, Frau Weidenbach, Moment noch!«, hielt Sonnefeld sie zurück. Er zog sie ein Stück beiseite und ließ dabei seine Hand für ihren Geschmack einen Augenblick zu lange auf ihrer Schulter liegen. Wie unbeabsichtigt machte sie einen kleinen Schritt zur Seite.

Sonnefeld quittierte es mit einem schiefen Lächeln. »Ist das wahr? Eine Reportage? Über Andi?«

Sie nickte.

»Aber über ihn ist doch schon so viel geschrieben worden. Ross und Reiter – das wäre doch viel besser. Rother Wind hat einen fantastischen Stammbaum. Ich kann Ihnen tausend spannende Geschichten über ihn erzählen. Kommen Sie doch nach dem Rennen zur Box Nummer 361, vorletzte Reihe im Boxendorf. Wie wäre es Viertel nach sechs?«

Das passte Lea überhaupt nicht in den Zeitplan, denn sie hatte eigentlich gehofft, gleich nach dem Rennen einen kurzen Zwischenbericht absetzen zu können, bevor sie mit Andi das Interview führte. Aber seit sie letztes Jahr einer Story nicht energisch genug nachgegangen war und dies verhängnisvoll geendet hatte, konnte sie einfach nicht mehr nein sagen. Ergeben willigte sie ein. Dann machte sie sich auf den Weg zum Wettschalter, wie sie es Frau Campenhausen versprochen hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie noch, wie Sonnefeld zu seiner Frau zurückkehrte, ihr über die Haare strich und sich anschließend aufgeregt durch die Menge drängte, als suche er jemanden.

Sollte sie selbst auch wetten? Ihre Vermieterin hatte ihr zweihundert Euro Einsatz mitgegeben, das war viel Geld, wenn man es verlor. Fünfzig Euro vielleicht? Wenn sie gewönne, dann könnte sie sich vielleicht diesen urgemütlichen, altmodischen Ohrensessel leisten, den sie vor drei Wochen gesehen hatte.

In der Menge nahe des Wettschalters erspähte sie den Rücken eines alten Bekannten, und ihr Herz machte einen winzig kleinen Sprung. Kriminalhauptkommissar Maximilian Gottlieb, hier? Und ausgerechnet am Bratwurststand!

Grinsend stellte sie sich hinter ihn. »Testen Sie die neue Würstchendiät?«

Erst letzte Woche hatte er ihr gegenüber am Rande einer Pressekonferenz erwähnt, dass er kürzer treten wolle, was sie bei seiner Größe von über einem Meter neunzig eigentlich überflüssig fand. Er hatte doch im vergangenen Jahr ordentlich abgespeckt, überhaupt sah er viel manierlicher aus, nichts war mehr übrig von dem zerzausten Rübezahl von einst. Seine Haare waren jugendlich kurz, der graue Vollbart gepflegt, sogar eine neue runde Hornbrille hatte er sich zugelegt. Sie ließ seine braunen Augen wie Samt wirken.

Gottlieb verschluckte sich fast. »Ich wusste es! Einmal will man privat sein …«

»Ein Polizist ist doch immer im Dienst!«

»Gnade. Lassen Sie mich aufessen. Ich hab so einen Hunger!«

»Ich wollte ohnehin zum Wettschalter.«

»Auf wen setzen Sie?«

Lea sagte es ihm, und er zog die Nase kraus. »Sehen Sie mal auf die Bildschirme: Die Quoten für ›Main-Favorit‹ aus der Zucht Mainaue/Sauerbrey schießen gerade nach oben. Ganz gewaltig sogar. Und so plötzlich. Komisch. Ist im Führring etwas vorgefallen?«

»Mein Pferd war ein bisschen nervös. Aber mein Jockey hat das wieder hinbekommen.«

»Na dann … Ich wette zwar nicht, ich tippe aber auf Main-Favorit.«

Er wartete, bis Lea ihre Wetten platziert hatte, und gemeinsam suchten sie sich auf Höhe des Zieleinlaufs einen Stehplatz möglichst nah an der Absperrung. Nebenbei hörten sie den Rennbahnsprecher aufgeregt schildern, was sich am Start abspielte, den sie nicht einsehen konnten.

»Nummer vier kommt nicht in die Startbox. Alle Starter sind bereit, da muss Rother Wind noch einmal geholfen werden. Was ist mit Rother Wind?«

»Sie verlieren!«, trumpfte Gottlieb auf.

»Niemals.«

»Was, wenn?«

»Dann … dann koche ich für Sie«, rutschte es ihr heraus.

»Wie wäre es Donnerstag?«, erwiderte er spontan und sah mindestens ebenso überrascht aus, wie sie sich fühlte. Himmel! Sie konnte doch nicht für ihn kochen! Gut, er hatte ihr vor einem Jahr das Leben gerettet. Aber beruflich standen sie in so unterschiedlichen Lagern, da war privater Kontakt eine Unmöglichkeit!

»Äh, ich meine …«, begann sie den Rückzug.

»Ha, jetzt wollen Sie kneifen. Sie sind sich eben gar nicht sicher, dass Ihr Pferd und Ihr Jockey gewinnen.«

»Doch, doch. Abgemacht! Die Wette gilt! Donnerstag. Aber es gibt etwas Gesundes.«

Gottlieb verzog sein Gesicht. »Vielleicht sollten wir doch lieber –«

»Zu spät.«

Das Rennen hatte begonnen.

*

Zwei Stunden später hatte Lea sich immer noch nicht beruhigt.

»Sechster Platz. Wie eine lahme Ente hinter dem Feld. Das gibt es doch gar nicht! Mein schönes Geld!«, jammerte sie.

Zu gern hätte sie jetzt mit Andi gesprochen. Wohl zum zehnten Mal tippte sie seine Nummer ins Handy, erreichte aber nur die Mailbox. Auch auf dem Gelände keine Spur von ihm. Er war weg, wie vom Erdboden verschluckt. Typisch Fips. Genau wie früher.

Nun, gleich würde sie wenigstens Sonnefeld treffen. Der würde ihr bestimmt alles erklären können, und wahrscheinlich würde er Andi ohnehin mitbringen.

Gottlieb fummelte eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche seines reichlich verknautschten Sporthemds und klopfte die Taschen seiner weiten Cordhose nach Feuer ab. Wider Willen musste Lea innerlich lachen. Wenigstens in der Kleiderfrage stimmten sie überein. Sie hatte sich in ihren Jeans, dem T-Shirt und den Sandalen inmitten des My-Fair-Lady-Publikums schon den ganzen Nachmittag über unwohl gefühlt. Eigentlich taugten sie beide eher zur Stallarbeit als zum Sehen-und-gesehen-Werden.

»Immer noch nicht?« Gottlieb hielt ihr lockend das Päckchen unter die Nase.

»Nie mehr, das wissen Sie doch!.« Sie wich einen Schritt zurück, erstaunt, wie ungebremst sie selbst nach zwei Jahren noch die Gier nach einer Zigarette überfallen konnte.

»Anerkennung«, murmelte Gottlieb und atmete den Rauch tief ein. »Ich käme keinen einzigen Tag ohne aus, egal wie teuer das Zeug noch wird. Da ist es doch erheblich gesünder, sein Geld bei Pferdewetten zu verlieren, nicht wahr? Wie viel war es?«

Das wollte Lea ihm nicht gerade auf die Nase binden. Sie schämte sich plötzlich, so viel Geld zum Fenster hinausgeworfen zu haben.

Musste sie nicht längst los? Es war schon nach sechs Uhr.

Gottlieb interpretierte ihr Schweigen falsch.

»Kommen Sie, so viel kann das doch nicht gewesen sein, oder? Ich lade Sie zu einem Glas Sekt ein als Trost. Okay?«

Das Nein lag ihr wirklich auf der Zunge. Sie musste sich sputen, um pünktlich zu sein. Andererseits – konnte sie Gottlieb dieses nette Angebot abschlagen? Weder das Pferd noch der Jockey waren heute eine Zeile wert. Aber nein. Nie wieder würde sie eine berufliche Verabredung verpassen. Schon gar nicht ohne triftigen Grund!

»Oder eine Apfelschorle?« Seine Augen schimmerten wie dunkelbrauner Tannenhonig.

Sie war ja verrückt! Sie war im Dienst. Sie wollte eine Reportage schreiben. Sie hatte die einzigartige Möglichkeit, einen Besitzer und einen Starjockey über ihre Gefühle nach einem verlorenen Rennen zu befragen. Wer konnte das schon? Die meisten Menschen wollten doch nur mit der Presse reden, wenn sie gewannen! Dies hier würde sicherlich eine tolle Geschichte!

Und wenn Sonnefeld und Andi gar nicht dort waren? Wenn sie es sich nach dem schlechtem Abschneiden anders überlegt hatten? Noch einmal tippte sie Andis Nummer ein, aber noch immer konnte sie ihn nicht erreichen.

»Oder einen Orangensaft?«

Lachend gab sie sich geschlagen. »Okay. Aber nur einen kleinen. Ich habe eigentlich eine Verabredung. Nun, die kann hoffentlich einen Augenblick warten.«

Als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, erschrak sie. Gleich halb sieben! Ihr Termin! Sie würde viel zu spät kommen, wie unangenehm! Eilig nahm sie ihren Rucksack auf und wollte sich gerade verabschieden, als Gottliebs Handy klingelte. Also hob sie nur die Hand, aber er sah es nicht, sondern stand wie zur Salzsäule erstarrt und lauschte angestrengt. Jede Faser seines Körpers signalisierte ihr, dass er gerade etwas Wichtiges erfuhr. Wenn es für den Chef des Morddezernats wichtig war, dann war es das auch für die Polizeireporterin des Badischen Morgens.

Sie blieb stehen. Keine Sekunde würde sie ihn jetzt noch aus den Augen lassen. Sie würde sich an seine Fersen heften, wo immer er hingehen würde. Er drehte sich von ihr weg, schirmte das Handy so gut es ging ab. Lea spitzte die Ohren und war wieder einmal froh, dass sie ein so gutes Gehör hatte.

»Wo?«, hörte sie. »Box 361? Ja, habe verstanden. Alle Mann, natürlich. Beordern Sie sie her. Ich weiß, dass Sonntag ist, verdammt.«

Lea traute ihren Ohren kaum. Box 361? Da war sie doch verabredet. Was war da los? Sie startete, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

»Bleiben Sie stehen, Frau Weidenbach«, rief Gottlieb hinter ihr her. »Da haben Sie nichts zu suchen.«

Lea wechselte in Galopp und spurtete ihm davon. Sie musste vor ihm am Tatort sein. Was auch immer sie in Box 361 finden würde – er würde ihr mit Sicherheit das Fotografieren verbieten und sie wegschicken und auf Pressekonferenzen vertrösten. Das war sein gutes Recht, aber es war ihr Job, jetzt schneller zu sein als er. Ihr jahrelanges Sporttraining machte sich nun bezahlt: Gottlieb mit seiner behäbigen Bierruhe kam nicht hinterher.

Lange vor dem Hauptkommissar erreichte sie den Menschenpulk, der sich vor der Box gebildet hatte. In der Ferne jagte ein Streifenwagen den staubigen Weg entlang.

Sie zückte Kamera und Presseausweis, und die Neugierigen ließen sie anstandslos durch. Sie wusste, sie hatte nicht viel Zeit. Also hielt sie, ohne genau hinzusehen, die Kamera hoch und drückte ab, fotografierte das Umfeld, die Umstehenden, das scheuende goldbraune Pferd in der dämmrigen Box, den wohlgenährten Burschen, der versuchte, das Tier zu beruhigen und wegzuführen. Dann trat sie – vorsichtig, um keine Spuren zu vernichten – näher an die zweiteilige Boxentür und ließ die Kamera weiter klicken. Ihr Blitzlicht flammte auf und beleuchtete den Toten.

Er lag auf dem Rücken, Arme und Beine weit ausgestreckt. In seiner Brust steckte ein Messer, der Griff glatt und hell wie Perlmutt. Die Klinge war vollständig in dem Körper verschwunden. Lea sah ihm direkt in das blutleere Gesicht. Zwei Fliegen krabbelten dem Mann über die Wange, die Nase, in die weit geöffneten, milchigen Augen.

Sie kannte ihn.

Selbst jetzt, als Leiche, war Christian Sonnefeld ein schöner Mann.

Tod auf der Rennbahn

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