Читать книгу Tod auf der Rennbahn - Rita Hampp - Страница 8

VIER

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Die Schuhe an seinen Füßen kamen Kriminalhauptkommissar Gottlieb vor wie aus Blei. Er schleppte sich von der Rezeption zum Aufzug, der ihn zum Zimmer von Anna Fröhlich und Christian Sonnefeld bringen sollte, und war enttäuscht, dass der Weg nicht länger war. An die für ein Luxushotel erstaunlich enge und niedrige Eingangshalle mit ihren dunklen Holzvertäfelungen und der kurzen, geschwungenen Treppe hinauf ins Zwischengeschoss mit den Sitzgruppen verschwendete er keinen Blick.

Er musste einer Witwe eine Todesnachricht überbringen, nur daran konnte er im Moment denken. Es war seine Pflicht, aber sie zerriss ihm wie jedes Mal fast das Herz. Bei der Verkehrspolizei in Stuttgart war es besonders schlimm gewesen. Zwei, drei Eingaben hatte er damals ans Ministerium geschickt, dass man ihnen endlich einen Seelsorger mit auf diesen Weg geben möge. Seelsorger konnten viel besser mit Trauer, Hilflosigkeit und dem eigenen Mitleid für die Angehörigen fertig werden. Aber mit den Erinnerungen, die ihn manchmal sogar ans Aufhören hatten denken lassen, würde er trotzdem allein bleiben: Bilder von zerrissenen Leichen, Schreie von Eingeklemmten oder, noch schlimmer, ihr plötzliches endgültiges Verstummen.

Im Morddezernat hatte er dann noch jahrelang weitergemacht, bis er gedacht hatte, es würde ihn erdrücken. Mit achtundvierzig, vor fünf Jahren, hatte er sich versetzen lassen und gehofft, in Baden-Baden einen ruhigeren Posten zu bekommen, einen mit weniger Toten und weniger Qual.

Lautlos glitt die Aufzugtür auf. Aus dem Innern drang gedämpfte Barmusik. Er ging hinein, drückte den Knopf zur fünften Etage und starrte geistesabwesend in den getönten Spiegel. Er bemühte sich, seine Gedanken nicht abschweifen zu lassen, aber unwillkürlich tauchte, wie so oft in Situationen dieser Art, wieder das Bild seiner toten Mutter vor seinem geistigen Auge auf. Er blinzelte ein paar Mal, um die Erinnerung zu vertreiben, und war in gewisser Weise erleichtert, als der Fahrstuhl mit einem leisen Gong stehen blieb. Dann wiederum wünschte er sich, dieser Aufzug wäre einfach immer weiter gefahren, und er müsste niemals aussteigen.

Es war ein Fehler gewesen, allein herzukommen, das wusste er jetzt. Seine Kollegin Sonja Schöller wäre für diese Mission die richtige Begleitung gewesen, sie war einfühlsam und konnte gut trösten. Frauen konnten das einfach besser.

Nur noch ein paar Schritte, und er wusste immer noch nicht, was er sagen sollte oder wie.

Vor dem Zimmer blieb er stehen. Schultern zurück! Tief einatmen! So hatte es ihm vor vielen Jahren sein Therapeut geraten, mit dem er versucht hatte, das Trauma vom Tod seiner Mutter zu verarbeiten. Sie war von einem unbekannten Einbrecher die Kellertreppe hinuntergestoßen worden. Er hatte sie gefunden, als er aus der Schule kam. Zehn war er damals gewesen. Wieder sah er ihren zerschmetterten Kopf, die verwinkelten Arme und Beine vor sich.

Was hätte er in diesem Augenblick hören wollen? Kein Mitleid. Das hätte ihn nur noch mehr weinen lassen. Kühle Fakten hatte er vermisst, mit denen er etwas hätte anfangen können. Aber es gab damals keine. Genauso wenig wie heute. Sonnefeld war ermordet worden, und vorerst hatten sie keine Spur, weder vom Täter noch von einem Motiv.

Sein Klopfen klang dumpf. Einen winzigen Augenblick hoffte er, sie würde es nicht gehört haben oder sie würde gar nicht da sein, würde ihm einen Aufschub geben. Aber da öffnete sich die Tür.

Anna Fröhlich sah anders aus, als er sie sich vorgestellt hatte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte er eine hilflose, zarte Person erwartet, klein und elegant. Die Frau, die vor ihm stand, wirkte wie eine starke, liebevolle, italienische Mamma, die Trost spenden konnte, statt selbst Trost zu brauchen. Sie war füllig, die dunklen lockigen Haare quollen ihr offen über den Rücken. Sie trug einen bequemen Hausanzug und hatte ein Glas mit einem Rest hellbrauner Flüssigkeit in der Hand. Whisky, das roch er.

Fragend sah sie ihn an, eine Hand in der Hüfte abgestützt. Ein letzter Atemzug, dann würde ihre gewohnte Welt zerbrechen.

»Mein Name ist Gottlieb, ich bin von der Kriminalpolizei«, presste er heraus.

Das Glas rutschte ihr aus der Hand und fiel auf den Boden.

Tonlos formten ihre Lippen ein Wort: »Sonny?«

Er nickte. »Es tut mir leid, sehr leid.« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Sie hatte verstanden, dass ihr Ehemann tot war, das sah er ihr an.

Sie stand wie versteinert, nur ihre Augen wurden dunkel. Dann drehte sie sich um, ging steifbeinig ins Zimmer und setzte sich in einen der beiden Sessel, die unter der Fensterfront standen. Sie legte ihr Gesicht in die Hände und stieß einen kleinen Laut aus, ganz leise, als wolle sie niemanden stören. Dann wiegte sie sich langsam vor und zurück.

Gottlieb hob das Glas auf und folgte ihr ins Zimmer. Leise schloss er die Tür und trat ans Fenster. Unten, vor dem Kurhaus, wogte das Kurparkmeeting, Essensdüfte und Rauchschwaden des großen Auerhahn-Fleischgrills lagen in der Luft. Gerade wurde Tony Marshall lautstark als Ehrengast angekündigt. Beifall brandete auf, Pfiffe, Bravorufe.

Bitte keine Schunkellieder, betete er unwillkürlich, nicht jetzt.

Er konnte im Augenblick nichts tun, sondern musste warten. Schweigend. Was sollte er auch sagen.

»Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit«, schwappte es ins Zimmer. Hastig schob Gottlieb die Gardine zur Seite und fand den Fenstergriff. Sofort war die Musik wie abgeschnitten.

Jetzt lastete Stille in dem Raum, schwer, immer schwerer werdend. Leise räusperte er sich.

»Wie denn? Wie denn nur?«, wimmerte Anna Fröhlich.

Er zwängte sich in den zweiten Sessel und legte seine Hand auf ihre Schulter. »Es tut mir so leid«, wiederholte er. »Er wurde gefunden. In der Box von Rother Wind.«

Anna Fröhlich hob den Kopf. Ihre Augen waren tränenlos und weit aufgerissen. »Hat das Pferd ihn …?«

»Nein. Das nicht. Ein Messer – äh, also, er wurde ermordet.«

»Ermordet!«, echote die Frau und schlug sich erneut die Hände vors Gesicht.

»Deshalb habe ich Fragen, die nicht bis morgen warten können.« Nun war es heraus. Die schlimmsten Sätze waren gesagt.

Gottlieb wusste aus Erfahrung, dass er der trauernden Anna Fröhlich etwas Zeit lassen musste. Er schielte zur Uhr und befahl sich, an etwas anderes zu denken. Gleich neun. Ob die Kollegen alles im Griff hatten? Hatten sie schon Zeugen gefunden?

Anna Fröhlich saß wie versteinert im Sessel, die Hände immer noch vor dem Gesicht. Gottlieb sah sich um. Nicht schlecht. Geräumig. Kurparkzimmer, mittlere Preiskategorie. Dreihundert Euro die Nacht. Es gab teurere Räume in diesem Haus, sogar eine Suite mit vier Zimmern, zwei Bädern und einem Flügel. Das wusste er von einer Dienstbegehung anlässlich der Eröffnung vor vier Jahren.

Die Farben waren gediegen, Braun und Beige, die Decke etwas niedrig für seinen Geschmack. Aber der Schallschutz war perfekt. Es war nichts zu hören außer diesem leisen, undefinierbaren Ton, den Anna Fröhlich hin und wieder ausstieß. Wenn sie doch nur damit aufhören würde. Er wusste nicht, wie lange er sich noch ablenken und sich des Mitleids erwehren konnte. Ein heulender Kommissar – das wäre ja noch schöner. Himmel, nur nicht daran denken.

Plötzlich stand Anna Fröhlich mit einer energischen Bewegung auf und ging ins Badezimmer. Er hörte Wasser laufen, aber immer noch kein Weinen, kein Schnäuzen.

Als die Tür wieder aufging, wirkte sie gefasst. Sie versuchte sogar ein Lächeln, wenn es auch reichlich kläglich ausfiel.

»Ich will alles wissen«, sagte sie und setzte sich aufrecht auf die Sesselkante, die Hände auf den Knien.

Gottlieb berichtete das Wenige, das er wusste.

Anna Fröhlich presste eine Hand vor den Mund und hörte regungslos zu. Ihre aufgerissenen Augen zeigten das Entsetzen, das sie durchlitt. Aber es half nichts. Sie musste alles wissen, denn nur so konnte sie vielleicht helfen.

»Aber wer?«, fragte sie schließlich. »Wer konnte das tun? Sonny hat niemandem etwas getan. Er war so, so …« Sie fuhr sich durch die langen Haare, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Ich will Ihnen helfen. Was kann ich tun?«, fragte sie heiser.

Eine bemerkenswerte, starke Person, dachte Gottlieb bewundernd.

»Mit wem hat er sich nach dem Rennen getroffen? Hatte er in letzter Zeit mit jemandem Streit? Konnte jemand ein Motiv gehabt haben? Gibt es jemanden, der ein Interesse an seinem Tod haben könnte? Wann haben Sie beide sich heute getrennt?« Die seit Stunden aufgestauten Fragen sprudelten aus ihm heraus.

»Er ist gestern in aller Herrgottsfrühe nach Köln gefahren, in den Rennstall, und hat mit Udo Retzlaff zusammen das Pferd nach Iffezheim begleitet. Rother Wind ist beim Transport und vor Rennen schrecklich nervös, da war es besser, dass Sonny selbst mitfuhr. Manchmal nimmt Rother Wind bis zu acht Kilo ab, so regt er sich auf.«

»Und wo waren Sie?«

»Ich – wir hatten gestern noch eine Hochzeit im Hotel. Da musste ich alles Mögliche erledigen. Ich bin heute nach der Abrechnung direkt zur Rennbahn gefahren, und wir haben dort zusammen zu Mittag gegessen, mit unserem Trainer, Carlo Hausmann, und dessen Frau Eva. Dann sind wir gemeinsam zum Führring gegangen. Nach dem verkorksten Rennen wollte Sonny noch bleiben, aber ich hatte die Nase voll und wollte nur noch ins Hotel, duschen, relaxen. Sechster Platz! Was für eine Riesenenttäuschung. Wir hatten sehr auf einen Sieg gehofft. Rother Wind ist unser erster Zuchterfolg. Ein wundervolles Tier mit einer großen Zukunft.«

Anna Fröhlich verstummte atemlos. Dann lachte sie bitter. »Aber das wollen Sie gar nicht wissen, nicht wahr? Sie wollen einen Hinweis auf den Mörder. Glauben Sie mir, wenn ich es wüsste, ich würde ihn eigenhändig … Ja, ich würde ihn umbringen, auf der Stelle! Büßen muss er!«

Gottlieb starrte auf seinen Notizblock, um ihr Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fangen. »Wann haben Sie Ihren Mann also zuletzt gesehen?«, fragte er schließlich vorsichtig und versuchte, mit seiner Stimme die Balance zwischen Mitleid und leichtem Ärger über ihre Drohung zu halten.

»Lassen Sie mich überlegen. Das Rennen fand um fünfzehn Uhr zwanzig statt. Den Zieleinlauf haben wir uns im Technischen Gebäude auf dem Monitor angesehen, danach sind wir nach draußen gegangen, um Fiebig und Rother Wind in Empfang zu nehmen. Da war es vielleicht halb vier, Viertel vor vier. Genau weiß ich es nicht. Es gab natürlich ziemlichen Ärger.«

»Mit wem?«

»Mit dem Jockey natürlich. Rother Wind war tadellos in Schuss gewesen. Gut, im Führring gab es einen kleinen Vorfall, aber dann hat er einen exzellenten Start gehabt. Es gab keinen Grund, warum er danach so extrem abfiel. Das sollte uns Fiebig erst mal erklären.«

»Und weiter?«

Anna Fröhlich stand auf und stellte sich mit verschränkten Armen ans Fenster. Schwer atmend starrte sie hinaus in die einsetzende Dunkelheit. Gottlieb hätte am liebsten das Licht angeschaltet. Ihn störte es, wenn er jemandem, von dem er Antworten erwartete, nicht ins Gesicht sehen konnte. Aber er wollte sie auf keinen Fall ablenken. Er versuchte, sich auf den Klang der Stimme zu konzentrieren, als es aus Anna Fröhlich hervorbrach:

»Das riecht doch alles nach Foul Play. Es gibt keinen anderen Grund für so ein schlechtes Abschneiden. Rother Wind war der Top-Favorit! Zu Recht! Er war in Bestform. Warum also ist er aus heiterem Himmel der Konkurrenz hinterhergelaufen? Manipulation von außen scheidet aus, denn wir hatten Udo Retzlaff noch einmal besonders eingeschärft, das Tier nicht aus den Augen zu lassen. Er hat sich garantiert daran gehalten. Er wusste, er würde sonst seinen Job verlieren. Also kann doch nur der Jockey dahinterstecken, oder? Sie wissen, dass Fiebig im Januar 2002 in Fernost disqualifiziert wurde? Wegen Drogen?«

»Das ist ein ernst zu nehmender Vorwurf.«

»Genau. Genau das denke ich auch. Fragen Sie doch Fiebig, wo er zur Tatzeit war.«

»Das werden wir.« Jetzt drückte Gottlieb doch auf den Lichtschalter der Tischlampe.

Wie in Zeitlupe drehte sich Anna Fröhlich um. Täuschte es, oder sah sie zufrieden aus? Nein, er irrte sich. Sie faltete ihre Hände so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden, dann sah sie zu Boden und flüsterte:

»Um Gottes willen, was habe ich da gesagt! So war das nicht gemeint. Ich will Fiebig nicht beschuldigen. Er war der beste und älteste Freund meines Mannes.«

Sie dachte einen Augenblick nach, dann warf sie den Kopf zurück. »Nach der Drogensache hatte er ein halbes Jahr Sperre, seine Stelle war futsch, niemand wollte ihn mehr haben. Sonny und ich haben ihm mit einem Exklusivvertrag einen ersten Neuanfang ermöglicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man jemanden umbringt, dem man so dankbar sein sollte. Das kann doch gar nicht sein. Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Bitte!«

Doch Gottlieb war schon aufgestanden. »Wir brauchen jeden noch so kleinen Hinweis. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Fröhlich. Wir werden behutsam vorgehen. Wenn Fiebig ein Alibi hat, ist ja alles in Ordnung. Kann ich Sie jetzt allein lassen? Brauchen Sie ein Beruhigungsmittel? Einen Arzt? Oder haben Sie Angehörige, die ich benachrichtigen soll? Geschwister vielleicht?«

Anna Fröhlich hob ruckartig den Kopf. »Meine Schwester? Nein, ich komme schon zurecht.«

»Wir haben einen Notfallkrisendienst. Es könnte jemand kommen, damit Sie nicht allein sein müssen.«

»Danke. Ist alles gut so. Ich will allein sein.«

»Ein Arzt könnte Ihnen ein Beruhigungsmittel geben.«

»Ich will nicht schlafen.« Wieder presste sie ihre Hände an den Mund, wie um ihre Fassung nicht zu verlieren.

Gottlieb ging zu Tür. »Ich brauche Sie morgen früh«, sagte er leise und packte den rettenden Türgriff. »Es tut mir sehr leid. Aber ich muss Sie bitten, um neun Uhr bei uns zu sein. Hier ist meine Karte, und hier die Karte vom Notfallkrisendienst. Für alle Fälle.«

Gottlieb legte die Karten auf den Tisch und reichte Anna Fröhlich zum Abschied die Hand. Er erwartete, dass ihre Finger eiskalt sein mussten. Aber sie waren es nicht. Erstaunlich, wie unterschiedlich Menschen auf enormen Stress reagierten, fand er.

»Die – äh«, begann Anna Fröhlich. »Ich meine – wann kann ich meinen Mann sehen?«

»Morgen. Wir fahren zusammen nach Freiburg in die Rechtsmedizin. Nach dem Protokoll.«

Und noch im Lift nach unten in die Eingangshalle bewunderte Gottlieb, wie gefasst die Frau gewesen war. Wahrscheinlich war sie gleich hinter ihm, noch an der Tür, zusammengebrochen. Aber in seiner Gegenwart hatte sie Haltung bewahrt.

»Fragen Sie bitte in zehn Minuten auf Zimmer 510 nach, ob Frau Fröhlich etwas braucht. Ich habe eine schlimme Nachricht überbringen müssen«, bat er die freundliche Dame an der Rezeption. Dann trat er hinaus in das unpassend fröhliche Treiben des Kurparkmeetings, für das er weder Auge noch Ohr hatte. Es kümmerte ihn noch nicht einmal, dass jemand auf der Bühne ganz begnadet auf dem Saxophon »My Way« intonierte, sein Lieblingslied.

*

Während Lea über die Schlaglöcher in der Sophien- und Rotenbachtalstraße rumpelte und dann weiter über den Schlossberg und den Autobahnzubringer stadtauswärts fuhr, sah sie vor sich im Westen die Sonne langsam rotgold versinken. Ihr fiel wieder ein, wie glücklich und hoffnungsvoll sie vor mehr als zwei Jahren gewesen war, als sie an ihrem vierzigsten Geburtstag beschlossen hatte, von Würzburg nach Baden-Baden zu ziehen. Es war ein guter Entschluss gewesen. Sie hatte ihn nie bereut. Der richtige Zeitpunkt, das Leben neu zu ordnen und Abstand vom lieben, aber erdrückenden Justus zu bekommen.

An Weihnachten hatten sie sich endgültig voneinander verabschiedet, als Justus sie zum tausendsten Mal gedrängt hatte, den Job aufzugeben, zurück nach Würzburg zu ziehen und eine untätige, brave Ehefrau an seiner Seite, in seiner Wohnung, in seinem Leben zu werden. Es ging einfach nicht. Sie brauchte ihre Privatsphäre wie die Luft zum Atmen. Sie brauchte Zeit für sich selbst. Viel Zeit. Und das war an seiner Seite ausgeschlossen. Manchmal telefonierten sie noch, aber es waren eher Pflichtgespräche, wie man sie mit entfernten Verwandten dann und wann führt.

Während Lea das Ortsschild von Iffezheim passierte und wenig später langsam in die stille schmale Rennbahnstraße einbog, versuchte sie, diese Gedanken abzuschütteln. Ganz bewusst merkte sie sich Einzelheiten für ihren nächsten Artikel: Menschen standen in Grüppchen zusammen, mit gesenkten Köpfen und hilflosen Gesten. Manche umarmten sich. Aus den Fenstern der Gasthäuser drang nur gedämpftes Stimmengewirr, wesentlich leiser als an anderen Tagen. Ihr Auto wurde misstrauisch beobachtet. Später am Schreibtisch würde sie die richtigen Worte finden.

Im Schritttempo fuhr sie über die schmalen Wege nach hinten zum Boxendorf. Hier und da standen Tische und Stühle vor den Boxen, hatten sich Menschen versammelt.

Niemand nahm Notiz von ihr.

Sie stellte das Auto ab und fragte nach Andi. Aber niemand hatte ihn gesehen. Ihre Anrufversuche liefen ebenfalls weiterhin ins Leere.

An dem abgesperrten Boxenabschnitt 361 arbeiteten die Ermittler noch. Wahrscheinlich drehten sie jeden Strohhalm um auf der Suche nach einem abgerissenen Knopf des Mörders, einem Haar oder einem Hautpartikelchen. Hier war sie im Moment nicht willkommen. Wenn herauskam, dass sie vor ihnen im Stall gewesen war und fotografiert hatte, würde die Hölle los sein.

Auf der anderen Seite des Weges entdeckte sie den Pferdepfleger, der Rother Wind geführt hatte. Er saß mit einer Bierflasche in der Hand auf einer umgedrehten Schubkarre und sah den Ermittlern bei der Arbeit zu. Lea gesellte sich zu ihm. Er sah nicht auf, rührte sich nicht, machte ihr keinen Platz. Also blieb sie vor ihm stehen.

»Schlimme Sache«, begann sie vorsichtig.

»Jau.«

»Wie lange kannten Sie ihn?«

»Halbes Leben.«

Der Mann schaukelte die Bierflasche zwischen den Fingern und sah nicht hoch. Ganz offensichtlich wollte er seine Ruhe haben. Das sollte sie eigentlich akzeptieren. Aber sie musste mehr herausfinden.

»Wann ist es passiert?«

»Weiß nicht. Als ich weg war.« Der Mann nahm einen langen Schluck aus der Flasche.

»Wo ist denn das Pferd?«, versuchte sie es wieder.

Er machte eine unbestimmte Kopfbewegung. »Da hinten.«

»Wissen Sie sonst noch was über den Mord?«

»Nein.«

»Ich meine, was redet man? Hatte Sonnefeld Feinde?«

»Nee.«

Was für ein Sturkopf! So kam sie nicht weiter. Morgen vielleicht. Sie sah zu den Ermittlern in ihren weißen Schutzanzügen hinüber, die inzwischen Lampen aufgebaut hatten und sich leise beratschlagten. Sie zu fragen würde ähnlich zwecklos sein. Die Beamten durften keine Presseauskunft geben, das wusste sie. Sie musste also doch auf eine offizielle Information warten. Aber ob Gottlieb heute noch etwas Neues herausgab? Eher nicht.

Ein letzter Versuch. »Haben Sie Andi Fiebig gesehen?«

»Da hinten, in der letzten Reihe. Beim Gaul. Das ist man gut so. Denn kann ich mal in Ruhe …« Der Mann sprach nicht weiter, sondern nahm erneut einen kräftigen Schluck.

Erleichtert lief Lea los. Andi war hier! Gott sei Dank! Jetzt würde sie die Antworten bekommen, die sie brauchte: Was für ein Mensch war Sonnefeld gewesen? Wer konnte ein Motiv für den Mord gehabt haben? Aber auch: War er ermordet worden, während er auf sie wartete? Oder gerade weil er auf sie gewartet hatte? Und wo hatte Andi eigentlich während der ganzen Zeit gesteckt?

Tod auf der Rennbahn

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