Читать книгу Tod auf der Rennbahn - Rita Hampp - Страница 9

FÜNF

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Andi war kaum wiederzuerkennen. Er bewegte sich wie eine Marionette, Sprache und Reaktionen waren verlangsamt, als habe er ein starkes Beruhigungsmittel genommen. Schock, ganz eindeutig, diagnostizierte Lea. Seine Hände waren eiskalt, als sie sie berührte.

Sie überredete ihn, das Pferd einzuschließen und sie zur schmucklosen Kantine für das Pferdepersonal zu begleiten, die sich am Beginn des Boxendorfes befand. Auf dem asphaltierten Platz setzten sie sich an einen kahlen Tisch auf kalte, jedoch überraschend bequeme Plastikstühle.

Andi schüttelte immer wieder wortlos den Kopf, als wolle er nicht glauben, dass sein Freund gerade gestorben war. Seine Wimperntusche war verlaufen, das Make-up fleckig. Er sah aus wie ein müder Clown nach der letzten Vorstellung, ausgebrannt, verzweifelt und traurig. Unendlich traurig.

»Es tut mir leid, Fips. Sehr, sehr leid. Er war dein bester Freund, nicht wahr?«, sagte Lea leise, ohne eine Antwort zu erwarten.

Verlegen entzog Andi ihr seine Hände. Er fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen. »Nicht, was du denkst. Er war ein wirklicher Freund. Einer, auf den man sich verlassen konnte. Hundert Prozent. Wir hatten viel Spaß miteinander und so große Pläne!« Er starrte angestrengt in den mittlerweile sternenklaren Nachthimmel.

»Wie war er?«

Andi lachte freudlos auf, es klang wie trockener Husten. »Wie Sonny war? Hinreißend. Immer gut drauf. Das Leben war ein großer Spaß für ihn. Er hatte, wie sagt man so schön, Champagner im Blut. Es gab keine Probleme für ihn. Wenn er lachte – das war so ansteckend! Er konnte über sich selbst lachen wie kein Zweiter. Und er war entwaffnend charmant.«

Lea fiel die Szene im Führring ein, aber sie traute sich nicht, mit der Tür ins Haus zu fallen. Sie fand es ja schon pietätlos, in dieser Situation den Notizblock zu zücken und Andi über mögliche Feinde seines Freundes zu befragen. Andererseits brauchte sic diese Informationen früher oder später. Das war nun mal ihr Beruf.

»Hat er sich mit seinem Charme nicht auch Feinde gemacht?«

Andi sah verblüfft aus. Dann lächelte er gequält. »Du musst nicht so drum herumschleichen, Lea. Das ist doch gar nicht deine Art. Ich verstehe ja, dass du Stoff für deinen Artikel brauchst und dass das nicht bis morgen Zeit hat. Ich versuche dir zu helfen, so gut ich kann. Es ist nur schwer für mich. Ich würde viel lieber über die Felder laufen und Abschied nehmen von Sonny. Du willst auf die Szene im Führring hinaus, als Sauerbrey auf ihn losging, nicht wahr?«

Lea nickte. Sie war überrascht, wie Fips sich verändert hatte. Früher wäre er schon wortlos aufgestanden und weggegangen, wenn sie ihm eine wesentlich harmlosere Frage gestellt hätte. Jetzt aber beugte er sich vor und konzentrierte sich. Seine Gesichtsfalten vertieften sich.

»Sauerbrey und er – das ist zehn Jahre her. Sonny, Udo Retzlaff und ich haben damals alle drei für das Gestüt Mainaue gearbeitet. Sonny – nun ja, Sonny war eben Sonny. Er fand Frauen aufregend, konnte einfach nicht die Finger von ihnen lassen. Auch nicht von Sauerbreys damaliger Frau, Fee. Fee allerdings verstand nicht, dass Sonny einfach gern unverbindliche Spiele spielte. Für sie wurde es ernst. So ernst, dass sie die Scheidung einreichte und Sauerbrey den Grund dafür beichtete. Ein Desaster, kann ich dir sagen. Sauerbrey tobte. Ich hatte den Eindruck, es ging ihm gar nicht so sehr um Liebe, sondern darum, dass Sonny ihm sein wertvollstes Sammlerstück gestohlen hatte. Gestohlen, ja, so drückte er sich aus. Sonny bekam eine Stunde, um das Gestüt zu verlassen.«

»Sammlerstück? Das hört sich merkwürdig an.«

»Wenn du Sauerbrey kennen würdest, würdest du es verstehen. Der ist regelrecht davon besessen, Dinge zu besitzen, außergewöhnliche Dinge. Je wertvoller, umso besser. Das gilt für alles um ihn herum, inklusive Ehefrau.«

Andi holte Luft und schüttelte wieder den Kopf. »Fee tat uns allen leid. Sie lebte im sprichwörtlichen goldenen Käfig. Keinen Schritt durfte sie außerhalb des Gestüts ohne Sauerbrey machen, hatte ihren Beruf aufgeben müssen, um immer zu Hause zu sein. Nicht mal zur Kosmetikerin oder ins Fitnessstudio durfte sie. Gesichtsbehandlung? Die Kosmetikerin kam ins Haus. Laufbandtraining? Im Gestüt wurde das beste Fitnessstudio weit und breit eingerichtet, damit Fee das Grundstück nicht verlassen musste. Kein Wunder, dass sie den Kopf verlor, als Sonny in ihr Leben trat. Ach, du hättest Sonny kennen müssen, um das zu verstehen!«

Er verzog das Gesicht und verfiel in Schweigen.

Lea ließ ihm Zeit und sah sich um. Neugierige Augenpaare wandten sich ab, die Gespräche an den umliegenden Tischen schwollen an. Bedrückte Stimmung. Ihr fiel ihre Begegnung mit Sonnefelds Ehefrau Anna ein. Die robuste Person wirkte nicht gerade wie eine Traumfrau für einen Charmeur, der von Blüte zu Blüte flatterte.

»Wieso hat er dann geheiratet?«

»Anna war anders. Zum ersten Mal konnte er mit einer Frau über Pferde fachsimpeln. Sie ist so was von verrückt nach Pferden! Er hat sie als gleichwertigen Partner angesehen. Anna hatte ihrem Nachbarn, dem Rothhof, damals eine kleine, bescheidene Zucht abgekauft und wollte aus ihrem Hotel einen Reiterhof machen. Eigentlich ein Wahnsinn. Sie und ihr Vater hatten schon genug um die Ohren mit dem Hotel. Aber sie hatte sich dieses Projekt in den Kopf gesetzt. Ein Jugendtraum, hat sie mir mal verraten. Es war ein Glücksfall für sie, dass Sonny just in dem Moment bei Sauerbrey rausgeflogen war, als sie Hilfe brauchte. Sie hat ihn vom Fleck weg engagiert.«

Der Anflug eines warmen Lächelns überzog sein trockenes Gesicht wie ein feines Gitternetz. Dann wurde er wieder ernst und fuhr leise fort: »Sonny und sie saßen oft auf dem Zaun der Koppel und diskutierten, wie sie eine rentable Zucht aufbauen könnten. So kam die Idee mit den Vollblütern und den Pferderennen. Viel Geld war nicht da, es steckte alles in den Gebäuden und Grundstücken. Es kam also auf großes Geschick an, ganz anders als vorher bei Sauerbrey. Eine Herausforderung, nicht nur für Sonny. Anna blühte in dieser Zeit regelrecht auf. Man konnte ihr ansehen, dass sie mit jeder Faser verliebt war, und auch Sonny schien sich in ihrer Gegenwart wohl zu fühlen. Irgendwann war allen klar, dass sie heiraten würden. Sie hatten ein gemeinsames Ziel. Wer hat das schon. Als Rother Wind im Februar 2000 geboren wurde, war das ein großer Triumph für sie. Er war ihr Baby, verstehst du?«

Andis Hände zitterten, während er sich übers Gesicht fuhr. Er sah so schlecht aus, dass Lea Angst bekam.

»Möchtest du etwas essen?«, fragte sie und ärgerte sich, dass sie nicht früher daran gedacht hatte. Sie hatte ihn doch genau deshalb hierher gelotst.

Andi schüttelte den Kopf voller Widerwillen. »Essen? Um Gottes willen.«

»Etwas zu trinken? Wein? Bier? Cola?«

Wieder wildes Kopfschütteln. »Lass mich einfach.«

»Fips, sei vernünftig. Wenn du dich sehen könntest. Du siehst ja aus wie der Tod. Ausgemergelt und halb verdurstet.«

»Ich muss bis Sonntag noch ein Kilo runterhaben.«

»Ein Kilo? Du bist doch nur Haut und Knochen. Wie soll das gehen?«

»Wie immer: Joggen, Gewichte stemmen, Sauna. Vor allem nichts essen und nichts trinken, gerade nur das Allernotwendigste. Erst Sonntagabend wieder.«

»Das ist ungesund. Es ist viel zu warm. Ich hole dir jetzt wenigstens ein Glas Wasser.«

Lea stapfte energisch in das Kantinengebäude und gab ihre Bestellung auf. Das Wasser nahm sie gleich mit.

Andi ergriff das Glas mit beiden Händen und drehte es bedächtig. Dann trank er vorsichtig einen winzigen Schluck und spülte ihn wie bei einer Weinprobe im Mund hin und her, ehe er ihn endlich mit aller Aufmerksamkeit hinunterschluckte. Langsam schob er das Glas weg. »Köstlich, Lea, danke.«

Sie schob es ihm wieder zu. »Das war viel zu wenig!«

»Hör auf! Du bist ja schon wie Anna. Die bemuttert mich auch ständig. Ich bin oft bei ihnen, und dann tischt sie immer auf, als wäre ich Ringer oder Kugelstoßer« Wieder hob er den Kopf und starrte, merklich nach Fassung ringend, in den Himmel.

Lea ließ ihm Zeit. Ihr alkoholfreies Bier kam, eiskalt, wie es sein sollte. Durstig stürzte sie ein halbes Glas hinunter. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie seit Stunden nichts mehr getrunken hatte. Seit der Einladung von Gottlieb, vor einer halben Ewigkeit.

»Wie hältst du das nur aus ohne zu trinken?«, fragte sie.

»Unser Gewicht zu halten ist unser Job – oder vielmehr seine Kehrseite. Aber dafür kriegen wir gutes Geld, das kann man nicht anders sagen. Fünf Prozent des Preisgeldes, plus Spesen. Das gleicht vieles aus. Ich habe mir schon ein Polster angespart.« Wieder schluckte er trocken und hob den Kopf. »Aber was nützt mir das. Sonny ist tot.«

»Was hattest du mit dem Geld vor?«

Er wich ihrem Blick aus. »Am liebsten in eine Zucht einsteigen. Ich bin zweiundvierzig, höchste Zeit umzusatteln. Sonny hat das mit dem Hungern schon viel früher nicht mehr gepackt, der hat mit neunundzwanzig seine Jockey-Karriere hingeschmissen, den Meister gemacht und wurde Gestütsleiter. Aber dazu muss man fleißig sein und gern lernen. Nicht so mein Fall. Sport ist schon eher mein Ding, das weißt du ja noch, oder? Kannst du dich erinnern? An damals?«

Lea konnte es kaum glauben. Wollte er tatsächlich über die Vergangenheit reden? Gab er ihr die Chance, endlich alles richtig zu stellen? Die Bilder in ihrem Kopf überschlugen sich. Fips, der Hänfling mit den O-Beinen, die Sportskanone. Schulbester des Armin-Knab-Gymnasiums in Kitzingen im Fünftausendmeterlauf, gefragter Fußballstürmer in der B-Jugend Kreisklasse.

1978 waren sie beide fünfzehn gewesen und gingen in dieselbe Klasse. Ein paar Mitschülerinnen flüsterten bereits von ihren ersten Freunden, die Jungen in der Klasse begannen, kichernde Bemerkungen über Miniröcke und Büstenhalter fallen zu lassen. Nur Fips nicht. Fips rannte und machte Klimmzüge und übte Weitwurf wie ein Besessener. Ein komischer Kauz, ein Einzelgänger, der selbst bei seinen Sportkameraden auf Distanz blieb. Man begann, Witze über ihn zu reißen. »Würstchen«, »Klammeraffe«, »Rennschwein«. Er reagierte biestig und zog sich noch mehr aus der Klassengemeinschaft zurück. »Giftzwerg« folgte.

Lea war die Einzige, die ihn weiterhin mit »Fips« anredete und sich normal mit ihm unterhielt. Sie war auch die Einzige, die er noch an sich heranließ, vielleicht weil sie den gleichen Schulweg hatten, vielleicht weil sie schon damals lieber zuhörte als über sich zu reden. Da waren sie sich ähnlich.

In der Schule wurde er immer verschlossener und geheimnisvoller, anders eben. Und damit zur Zielscheibe immer größerer Gemeinheiten vonseiten seiner pubertierenden Mitschüler. Sie versteckten seine Hefte, piesackten ihn mit Reißzwecken auf dem Stuhl, quittierten seine Referate mit eisigem Schweigen. Er tat Lea leid. Aber sie wunderte sich auch, was ihn dazu bewog, alles klaglos hinzunehmen und damit den Zorn seiner Peiniger erst recht anzufachen.

Nur durch Zufall kam Lea schließlich hinter sein Geheimnis. Sie hatte nicht spionieren wollen, ganz bestimmt nicht. Sie hatte wirklich ihre Turnschuhe nach dem Sportunterricht vergessen gehabt. Schnell, ehe abgeschlossen wurde, war sie zurück in die Umkleide gerannt. Und da hatte sie es gehört. Sie hatte immer schon ein extrem gutes Gehör gehabt. Diese Geräusche verursachten ihr eine Gänsehaut. Da war jemand, der versuchte, kein Geräusch zu machen! Hinter der Tür der Knabenumkleidekabine. Ein Dieb! Mehr dachte sie nicht, als sie mit Herzklopfen gegen die Tür hämmerte und lauthals befahl: »Komm da raus. Ich habe alles gehört.«

Ein unterdrücktes Murmeln, ein Rascheln, dann waren Fips und der gut aussehende Horst Blank aus der Abiturklasse mit hochroten Köpfen in der Tür erschienen. »Lea, bitte, sag nichts«, hatte Fips sie angefleht und sein Handtuch um die Hüfte straff gezogen. Lea war mit einem Schlag klar geworden, was sie gerade entdeckt hatte. Nein, sie hatte es niemandem verraten. Niemals. Sie hätte sich viel zu sehr geschämt. Was sie da gesehen hatte, durfte es doch gar nicht geben! Homosexuelle Liebe war damals nicht nur bei Strafe verboten, sondern ein Tabu. Fips würde seines Lebens nicht mehr froh werden an der Schule! Sie würde ihren Mund halten. Niemals würde ihr auch nur eine Andeutung entschlüpfen!

Aber schon am nächsten Tag hatte es die Runde gemacht. Bis heute hatte sie keine Ahnung, wer außer ihr die Szene noch beobachtet haben könnte. Schon vor der ersten Schulstunde waren die Klassenkameraden über Fips hergefallen, hatten ihn bespuckt, ihn lachend hin und her geschubst, auf den Boden geworfen, mit Füßen traktiert. »Schwule Sau«, »Schwuchtel«.

Fips ließ alles mit sich geschehen. Unverwandt und schweigend starrte er Lea an, und diesen Blick würde sie nie mehr im Leben vergessen. Sie war wie gelähmt. Fips dachte, sie hätte alles ausgeplaudert! Vor Entsetzen brachte sie keinen Ton heraus und stand wortlos dabei, bis ein Lehrer dazwischenfuhr. In der ersten Stunde wurde Fips zum Direktor gerufen und kehrte nicht mehr ins Klassenzimmer zurück. Auch Horst Blank verschwand am selben Tag. Ihn hatte sie Jahre später, während ihres Studiums in Würzburg, als Aushilfsbedienung auf dem Kilianifest gesehen. Von Weitem nur. Sie hatte sich umgedreht und war schnell weggegangen, denn eine Begegnung wäre ihr selbst damals noch peinlich gewesen. Auch von Fips hatte sie nie mehr gehört, bis letzten Freitag in der Redaktionskonferenz.

»Die Sache damals«, begann sie nun. »Ich war es nicht. Ich habe niemandem etwas gesagt. Es muss euch noch jemand beobachtet haben.« Sie begann zu schwitzen. Es war ihr unangenehm, die Sache aufzuwärmen, aber es musste sein. Um ihres Seelenfriedens willen. Es war nicht gerecht, dass Fips glaubte, sie hätte ihn verraten. Er musste – ja, was musste er? Ihr Absolution erteilen? Was tat sie hier eigentlich? Was verlangte sie von ihm? Sein bester Freund war gerade ermordet worden und sie –

»Ach Lea«, unterbrach Andi ihre Gedanken, »ich habe so viele Gemeinheiten und Verrat erlebt, es ist egal. Wirklich vollkommen egal.«

»Aber mir nicht!«

Er zuckte mit den Schultern und trank einen weiteren Schluck von dem Wasser. »Die Polizei hier, ist die gut? Meinst du, die finden Sonnys Mörder?«, fragte er mit belegter Stimme.

Lea griff den Themenwechsel dankbar auf. »Bestimmt. Kriminalhauptkommissar Gottlieb ist ein fähiger Kopf. Der wird nicht eher ruhen, bis der Täter gefasst ist.«

»Gottlieb? So? Mich hat vorhin ein junger Polizist befragt. Decker oder so ähnlich. Sehr unangenehm. Als wenn ich etwas mit dem Mord zu tun haben könnte. Was für eine absurde Idee. Aber so sind sie, die Polizisten. Schwarz und Weiß. Du weißt, dass ich vor ein paar Jahren für Rennen gesperrt war?«

»Drogen. Ich habe im Archiv davon gelesen.«

»Drogen, Mann, wie sich das anhört. Disqualifiziert. Gesperrt. Dabei habe ich mit der Prise Koks nur versucht, diesen verdammten Hunger noch einen Nachmittag lang auszuhalten. Einen Nachmittag! Verrat begleitet mein Leben. Irgendjemand von den lieben Kollegen hat mich verpfiffen. Jemand, der wahrscheinlich von sich selbst ablenken wollte. Was meinst du, was hinter den Kulissen los ist? Jeder ist blöde, der nichts nimmt. Aber noch blöder ist der, der sich erwischen lässt. Ich glaube, nur das haben sie mir angekreidet.«

Andi tauchte den Zeigefinger in das Glas und strich sich damit über die Lippen. »Sonny hat mir damals geholfen. Er hat mir ein halbes Jahr nach der Sperre angeboten, seine Pferde vom Rothhof exklusiv zu reiten. Damit hat er mir geholfen, mich selbständig zu machen. Im September 2002 saß ich nach neun Monaten Pause endlich wieder auf einem Pferd, auf Rother Wind. Es war sein erstes Rennen, und ich habe geschworen, dass ich alles geben werde, um aus diesem Prachtkerl das Beste herauszuholen. Weißt du, dass ich bei seiner Geburt dabei war? Normalerweise ist man in diesem Geschäft nicht sehr emotional. Die Pferde werden in der Regel nur als Maschinen angesehen, die ihren Zweck erfüllen und Geld bringen sollen. Aber bei Rother Wind war das anders. Er hat uns allen sehr viel bedeutet. Dabei sah man es dem Gaul zuerst gar nicht an! Aber dann, Mannomann, dann hat er losgelegt.«

»Heute hat er verloren.«

»Das verstehe ich nicht. Ich verstehe gar nichts mehr. Gut, er war im Führring ein bisschen behäbig. Dann diese Aufregung am Ausgang des Rings. Ich weiß immer noch nicht, was ihn da so erschreckt hat. Ich habe ihn kaum beruhigen können. Aber als er endlich in der Startmaschine war, da dachte ich, alles wird gut. Er lief so gut los wie noch nie. Vielleicht war das noch der Stress von der Aufregung vorher. Und dann – puff. Als hätte jemand den Stecker gezogen. Ich hatte Angst, er bricht unter mir zusammen.« Andi schwieg einen Moment und starrte ins Glas. Dann hob er den Kopf und sah Lea an. Diesen Blick kannte sie. Er hatte sie all die Jahre verfolgt. »Sie haben vorhin einen Drogentest mit mir gemacht. Einmal Drogen, immer Drogen. Dabei bin ich nicht mal vorbestraft. Damals ist das Doping nur von der Rennkommission geahndet worden. Seitdem bin ich clean! Nicht mal ein Bier in der Freizeit. Nichts.«

»Dann hast du doch nichts zu befürchten.«

Wieder dieser Blick. Lea wurde es mulmig.

Doch dann sackte Andi zusammen. »Richtig«, murmelte er. »Gar nichts.«

»Wann hast du Sonny zuletzt gesehen?«

Er sah zur Seite. »Weiß nicht. Keine Ahnung.«

Das Herz begann ihr bis in den Hals zu klopfen. »Habt ihr euch nicht für Viertel nach sechs an der Box verabredet? Für mein Interview?«

»Interview? Mit Sonny? Spinnst du jetzt? Wolltest du jetzt eine Story über mich schreiben oder über Sonny?.

Jetzt war er eingeschnappt. Sofort bekam Lea ein schlechtes Gewissen. Wie schaffte Fips das nur immer? War das alles kompliziert! »Nicht ich, er hat das Treffen vorgeschlagen. Er wollte mir Rother Wind zeigen. Für eine Geschichte über Ross und Reiter, wie er sagte.«

»Ja, das glaube ich sofort. Sieht ihm ähnlich!«

Das war keine Antwort, die ihr weiterhalf. Also hatte Sonnefeld allein auf sie gewartet und war wegen ihrer Verspätung seinem Mörder begegnet. Das durfte doch nicht wahr sein! Dann wieder rief sie sich zur Ordnung. Sie war nicht schuld an dem Geschehen! Entweder war es eine Tat im Affekt gewesen, Zufall also, oder aber geplanter Mord. Der jedoch hätte so oder so stattgefunden, auch ohne sie, vielleicht nur zu einem anderen Zeitpunkt. Trotzdem, beruhigt war sie nicht. Es wäre ihr viel lieber gewesen, Andi hätte etwas gesagt, das ihr komisches schlechtes Gewissen entlastet hätte. Doch er sah so aus, als sei das Gespräch für ihn für heute beendet.

»Das war’s dann wohl, oder? Deine Reportage wirst du wahrscheinlich nicht mehr machen wollen, oder? Mit einem Verlierer auf der ganzen Linie?«

Im Prinzip hatte er recht. Andererseits – sollte er, nur weil er verloren hatte, wirklich keine Zeile mehr wert sein? Sie kam sich bei dieser Vorstellung schlecht vor. Sie könnte doch eine ganz andere Geschichte daraus machen, eine mit Tiefgang, über jemanden, der alles gegeben und nun nicht nur ein wichtiges Rennen, sondern auch seinen besten Freund verloren hatte. Warum schlug sie ihm das nicht vor?

Er legte seine kalte Hand auf ihren Arm. »Ich wäre heute sowieso nicht in Stimmung, Lea. Lass mich jetzt in Ruhe, ja? Ich muss über so viele Dinge nachdenken.«

Er stand auf und ging davon. Lea sah ihm nach und wusste selbst nicht, warum sie sich so unwohl fühlte.

Tod auf der Rennbahn

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