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SECHS

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Als sie vor dem Kräuterstübchen aus Josephs klimatisiertem Auto stieg, musste Marie-Luise erst einmal stehen bleiben, denn diese Hitze nahm ihr den Atem. Nicht einmal elf Uhr, und es war schon heißer als die letzten Tage. Noch dazu knallte die Sonne auf die Vorderfront des Anwesens. Nicole hatte zwar die leuchtend rote Markise ausgefahren, die sich hübsch von der dunklen Holzverkleidung und den grünen Fensterläden abhob. Aber der Schutz reichte nur für die Fenster, in denen Kräutersträußchen, Teepackungen, Seifen und Flakons mit diversen Ölen und Badezusätzen vor der Sonne geschützt werden mussten. Auf den Gehweg davor fiel der Schatten nicht.

Matt hob Marie-Luise den Arm, um Joseph zu verabschieden. Er würde in einem der Cafés am Johannesplatz in der Stadtmitte auf sie warten, hatten sie ausgemacht. Sie sah ihm nicht nach, sondern drückte gleich die Ladentür auf. Das Läuten eines Glockenspiels drang durch das kleine Haus, in dem Nicole mit ihrer Mutter Constanze nicht nur wohnte, sondern auch arbeitete. Seit Nicole wieder hier war, lebten die beiden sicherlich recht beengt. Im Erdgeschoss gab es den nicht sehr geräumigen Laden, dahinter die kleine Wohnküche, die gleichzeitig auch als Labor diente. Dann gab es ein Gäste-WC und eine winzige Kammer, in der früher die Vorräte aufbewahrt wurden. Eine steile Stiege führte nach oben unter die Dachschräge, dort gab es ein kleines Bad und das Mansardenzimmer, das sich Mutter und Tochter Rossnagel damals geteilt hatten, als Marie-Luise die beiden auf der Suche nach Linderung für Raphaels Ausschlag kennenlernte.

Raphael war damals manchmal mitgekommen und hatte so Nicole kennengelernt, und 1975 – Nicole war gerade einundzwanzig geworden – hatten die beiden geheiratet. Marie-Luise hatte nie so ganz verstanden, was die beiden zu diesem Schritt bewogen hatte. Es gab wohl kaum Menschen, die unterschiedlicher waren, und sie war stets davon ausgegangen, dass es doch eher Gemeinsamkeiten sind, die ein Paar zusammenschweißen. Aber dann hatte die Ehe ja doch fünfundzwanzig Jahre gehalten, immerhin.

»Ich komme«, hörte sie Nicole von irgendwo draußen rufen. Ihre Stimme klang unbefangen und fröhlich. Armes, ahnungsloses Wesen.

Um sich abzulenken, sah sich Marie-Luise in dem altmodischgemütlichen Laden um. Wie immer hatte Nicole einige wenige, dafür besonders geschmackvolle Kräutersträuße vorgebunden. In einer großen Vase standen Freilandrosen, Rittersporn, Eisenhut, Schafgarbe, Steppenkerzen, Wicken, Ringelblumen und Lupinen aus dem Garten. Außerdem waren auf einem langen schmalen alten Holztisch kleine Töpfe mit diversen Kräutern aufgereiht, daneben Trockensträußchen und wie schon im Schaufenster Seifen, Kräuterkissen, Kräuterextrakte, Öle, Parfüms, Schnäpse und Liköre, Salben, Tropfen und besonders schöne Flakons. In einem altmodischen Küchenbüfett hatte Nicole außerdem alles zum Thema Tee vereint bis hin zu einigen ausgefallenen Teekannen, -bechern, -tassen und sogar Papierservietten mit Kräutermotiven. Ein betörender Duft lag im Raum, den Marie-Luise nicht eindeutig einordnen konnte. Es war ein Potpourri der schönsten Wohlgerüche, die sie sich vorstellen konnte.

Schließlich öffnete sich die Tür zum Garten, und Nicole erschien mit einem dicken Bündel offenbar gerade abgeerntetem Lavendel. Wieder war sie barfuß, die Sonne schien durch die Türöffnung von hinten direkt auf ihre offenen Haare und ließ sie wie einen Heiligenschein aufleuchten. Sie trug ein mädchenhaftes veilchenblaues Leinenkleid und eine dünne Halskette mit einem ebenso veilchenblauen Anhänger. Arglos lächelte sie Marie-Luise entgegen.

»Der Rest der Lieferung ist abgefüllt«, sagte sie freundlich. Als sie näher kam, sah Marie-Luise, dass sie offenbar geweint hatte. Wusste sie es schon? Aber dann wäre sie nicht so arglos.

»Komm, Kind«, sagte Marie-Luise, »lass uns einen Augenblick in den Garten gehen.« Tränen schossen ihr in die Augen, obwohl sie verzweifelt blinzelte.

Nicole wurde weiß wie die Wand, und ihre blauen Augen füllten sich ebenfalls. Achtlos ließ sie den Lavendel fallen und breitete die Arme aus. »Was ist los? Warum weinst du?«

Mit Mühe bugsierte Marie-Luise sie ins Freie. Die Sonne schien unangemessen hell und tat in den Augen weh. Die Bank stand unter einem Dachvorsprung im Schatten. Ein Schmetterling flog auf, als sie sich setzten, dann umkreiste sie eine neugierige Hummel. Ein paar Schritte entfernt nahm eine Meise in einem mit Wasser gefüllten Blumenuntersetzer ein ausgiebiges Bad. Es war so friedlich hier! Marie-Luise seufzte laut auf. Es half ja nichts.

Das nackte Beet im hinteren Teil des Gartens war frisch geharkt worden, fiel ihr auf. Ein paar kleine Lavendeltöpfe standen auf der Erde und warteten darauf, eingepflanzt zu werden, daneben steckte eine Erdvase, wie man sie sonst eher auf Friedhöfen sah. Sie war üppig mit voll aufgeblühten Schnittrosen bestückt.

»Was hast du? Ist dir nicht gut?«, brachte Nicole sie mit leiser Stimme wieder in die Gegenwart.

»Ach Kind! Es geht um Raphael.«

Nicole rückte ein Stück ab und verschränkte die Arme. Sie schien alle Muskeln anzuspannen und grub ihre Fingernägel tief in die Haut. Die Lippen verzog sie zu einem dünnen Strich.

Marie-Luise legte eine Hand auf Nicoles Arm. Er war trotz der Hitze eiskalt und mit Gänsehaut überzogen. Sie ahnte etwas, ganz bestimmt.

»Nicole, es ist etwas Schlimmes passiert.«

»Mit Ralf?«

Marie-Luise hatte sich immer daran gestört, dass Nicole Raphaels schönen Namen so verkürzte. Aber »Ralf« war immer noch besser als »Ralfi«, wie seine Ex-Verlobte ihn penetrant nannte. Außerdem spielte es sowieso keine Rolle mehr.

»Das Herz.« Es kostete sie große Überwindung zu sprechen.

»Ist er krank?«

»Schlimmer. Er, er hatte einen Herzanfall, und man hat ihn ins Krankenhaus gebracht. Dort ist er ... Er ist ...«

Nein, sie bekam das Wort »gestorben« nicht heraus. Genauso wenig würden »tot« oder gar »Mord« über ihre Lippen kommen. Es war genug. Nicole musste es doch verstanden haben. Warum reagierte sie nicht? Sie sollte etwas sagen, sich bewegen, irgendetwas tun. Nicht einfach nur dasitzen, starr wie ein Stein und stumm wie ein Fisch. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete tief ein und aus. Mehr nicht.

»Er ist tot«, sagte Nicole nach schier endlosen Minuten. Es war eine Feststellung wie von einem Mediziner: klinisch objektiv, ohne jede Emotion.

Marie-Luise seufzte wieder. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie hatte sich die Situation irgendwie anders vorgestellt. Gefühlsbetonter, tränenreicher. Auch wenn die beiden seit sechs Jahren geschieden waren, so waren sie doch vorher immerhin fünfundzwanzig Jahre zusammen gewesen. Ein Vierteljahrhundert! Sie hatten zusammen das Geschäft aufgebaut, klein angefangen, groß aufgehört. Sie hatten Umzüge und Krankheiten gemeistert, Schicksalsschläge wie den Tod seiner Eltern und seiner Schwester durchgestanden. Konnte man das alles mit einer Unterschrift unter einem Scheidungsurteil wegwischen?

Wie in Zeitlupe zog Nicole endlich ihre Füße auf die Bank, umschlang ihre Knie und wiegte sich vor und zurück, während sie das Gesicht vergrub. »Oh mein Gott«, stöhnte sie. »Das darf nicht wahr sein.« Ihre Stimme klang erstickt.

Marie-Luise öffnete ihre Handtasche und holte ihr Taschentuch heraus. »Hier«, sagte sie leise.

Nicole schüttelte den Kopf. Wie ein kleines Mädchen wischte sie sich das Gesicht mit dem Kleid ab, lehnte sich an die Hauswand zurück, sah in den Himmel hinauf und zog die Nase hoch.

»Das kann doch nicht möglich sein. Er war doch erst Freitag in der Zeitung«, murmelte sie.

Eine unsinnige Äußerung, aber Marie-Luise fand sie rührend. Die Arme hatte nichts begriffen. Gar nichts. Noch nicht. Vorsichtig strich sie Nicole übers Haar. Es war verschwitzt und roch nach Kamille. »Es muss ganz schnell gegangen sein«, flüsterte sie. »Er hat nicht leiden müssen. Ganz bestimmt nicht.« Und damit rollten auch ihr die Tränen über das Gesicht, obwohl sie sich doch so fest vorgenommen hatte, tapfer zu sein.

»Wo ist es passiert?«

»Im Hotel. Im Pool. Er ist einfach hineingefallen und untergegangen.«

»Und diese Sina?«

»Schschsch ...«

Nicole setzte sich auf. »Tante Marie-Lu, ich will alles wissen! Ich muss. Ich will mir das vorstellen können. Sonst ... sonst ...« Eine dicke Träne rollte über ihre Wange, zur Nase und über die Oberlippe. Nicole fing sie mit ihrer kleinen Zunge auf.

»Aber Kind, das hat doch keinen Sinn.«

»Keinen Sinn? Vielleicht ... vielleicht hast du recht.« Sie schloss die Augen. Stille senkte sich zwischen sie, Minuten lang. Dann richtete Nicole sich mit der müden Bewegung einer sehr alten Frau auf und erhob sich.

»Ich mache uns etwas zu trinken. Melisse tut jetzt gut. Melisse und etwas Johanniskraut.«

Marie-Luise blieb sitzen und ließ sie in der Küche hantieren. Nicole brauchte Zeit, die Nachricht zu verarbeiten, und sie war selbst froh, verschnaufen zu können. Sie zitterte, so sehr hatten sie die letzten Minuten angestrengt. Neben ihren Füßen knisterte etwas leise. Eine Eidechse huschte unter der Bank hindurch zum gepflasterten Gartenweg, der in der Sonne lag, und verharrte dort. Marie-Luise konnte den Herzschlag des kleinen Lebewesens sehen. Sie war gerührt, wie urtümlich und schutzlos das Tier aussah. Es hob den Kopf, stützte sich auf die kurzen Beine und genoss die Wärme ganz offensichtlich.

Marie-Luise lächelte versonnen. Natur kann heilen, dachte sie und schloss die Augen. Als es neben ihr raschelte, dachte sie sich zunächst nichts. Dann raschelte es noch einmal und noch einmal, lauter diesmal, regelrecht bedrohlich. Sie schreckte hoch. Tommi, Nicoles schwarzer Kater, lag nun an der Stelle, an der sich eben noch die Eidechse gesonnt hatte. Er hatte etwas im Maul, spuckte es aus, fing es blitzschnell mit den Pfoten wieder ein und schnappte erneut zu. Entsetzt sprang Marie-Luise auf. Tommi sah zu ihr hoch. Der Schwanz der Eidechse hing ihm aus dem Maul und zuckte, dann verschwand er ganz. Marie-Luise schrie und fuchtelte mit den Armen. Am liebsten hätte sie das Tier gepackt und geschüttelt. Tommi sah nicht verhungert aus, das war kein Überlebenstrieb gewesen, sondern nur ein grausames Spiel. Noch einmal schrie sie, und der Kater machte einen empörten Satz. Ein paar Meter entfernt blieb er jedoch stehen und beobachtete regungslos eine niedrige Trockenmauer, in der seine nächsten potenziellen Opfer erschreckt in die Spalten wuselten.

Marie-Luise klatschte in die Hände, bis das Tier endgültig, wenn auch widerwillig, davonschlich. Dann ging sie in die Küche. Nicole saß an dem großen Tisch, auf dem ein Häufchen mit verschiedenen getrockneten Kräutern sowie kleine Tüten neben einer Apothekerwaage lagen. Offenbar hatte sie heute vorgehabt, Teemischungen abzufüllen.

Sie hob eine Kanne und schenkte zwei Tassen ein. »Den Rest bekommt Mutter, sie hatte eine schlechte Nacht.«

»Wie geht es Constanze überhaupt?« Marie-Luise hatte Nicoles Mutter seit Jahren nicht mehr gesehen. Früher hatten sie oft zusammen auf der Gartenbank gegessen, doch das war lange her. Sehr lange. Damals war Raphael noch Student gewesen, und sie hatten gemeinsam das beste Kraut gegen seinen Ausschlag gesucht.

»Es wird immer schlimmer. Sie soll möglichst nur noch liegen, sagen die Ärzte. Sie hat die Chemotherapie leidlich überstanden, aber jetzt hat man festgestellt, dass ein Wirbel angebrochen ist. Osteoporose. Eine falsche Regung, und sie muss für immer in den Rollstuhl. Dazu die Depressionen – es ist manchmal nicht leicht.«

»Kann ich sie sehen?«

Nicole machte eine Kopfbewegung zu der schmalen Kammertür, die von der Küche abging. »Ich war gerade bei ihr. Sie schläft.«

»Dann ein andermal. Sag ihr Grüße, ja?«

»Natürlich. Honig?«

Marie-Luise nickte. Sie mochte zwar keinen Honig im Tee, aber sie war froh, etwas tun zu können, und wenn es nur das war, den Löffel in das Glas zu tauchen, die bernsteinfarbene Masse darum zu wickeln, noch einmal zu wickeln und sie dann mit einer schnellen Bewegung in die Tasse zu transportieren. Selten hatte sie etwas aufmerksamer beobachtet als diesen Klumpen Honig, der sich trotz beständigen Rührens nicht richtig auflösen wollte.

An der anderen Tischseite begann Nicole wie ein kleines Mädchen zu schniefen.

Automatisch holte Marie-Luise das Taschentuch wieder hervor und hielt es ihr hin, aber Nicole stand auf, ging zum Spülbecken und riss sich dort ein Stück von der Küchenrolle ab. Marie-Luise gab sich Mühe, ihre Miene nicht zu verziehen. Eigentlich sollte man Küchenrolle oder Papierservietten nur in Notfällen zum Naseputzen benutzen! Aber es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, über Etikette nachzudenken.

Die Ladenglocke ging, und Nicole schleppte sich müde nach draußen.

»Wir haben geschlossen«, hörte Marie-Luise sie mit belegter Stimme sagen. »Ein Trauerfall. Morgen wieder. Bitte!« Dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss.

Es dauerte eine Weile, bis Nicole zurückkehrte. Inzwischen kostete Marie-Luise den Tee. Er schmeckte scheußlich. Sie nippte noch einmal, dann schob sie die Tasse weg.

Nicole lehnte sich an den Türrahmen. »Sechs Jahre ist die Scheidung her«, murmelte sie, »aber ich fühle mich trotzdem wie eine Witwe. Ich weiß nur nicht ... ich meine ... als Geschiedene, geht das? Darf man das? Trauern?«

Marie-Luise kämpfte schon wieder mit den Tränen. »Oh Kind, aber natürlich! Selbstverständlich!«

Mehr brachte sie nicht heraus, dann war es auch um ihre Fassung geschehen. Verzweifelt zwinkerte sie, aber es half nicht. Die Bilder der Hochzeit tauchten vor ihren Augen auf, das Lachen, das Glück, der Walzer ...

Schweigend saßen sie am Tisch, wischten sich über die Augen, tranken Tee und hingen ihren Gedanken nach. Fünf Minuten, zehn, fünfzehn.

Im Ort schlug eine Kirchturmuhr elfmal. Marie-Luise seufzte leise. Sie brachte es einfach nicht übers Herz, Nicole allein zu lassen, aber Joseph wartete, und außerdem musste sie sich um die Beerdigung kümmern. Raphael hatte ja nach dem Tod seiner Eltern, seiner Schwester und ihres lieben Willi keine Verwandten mehr außer ihr.

»Ich glaube, es geht wieder«, flüsterte Nicole endlich. »Weißt du schon, wann die Beerdigung ist?«

»Darum kümmere ich mich heute Nachmittag.«

»Du? Warum nicht diese Sina?«

»Die hat nichts zu entscheiden.«

»Aber in der Zeitung stand, sie wollten am zweiten Oktober heiraten. Hast du das Foto von den beiden nicht gesehen? Wie sie vor dem Mercedes standen und sich anhimmelten?«

»Sie haben sich Samstag getrennt.«

Nicole begann wieder zu weinen. Marie-Luise sah zur Küchenuhr, um sich zu fassen, aber Nicole deutete den Blick falsch.

»Du willst los, natürlich. Die Beerdigung muss arrangiert werden. Wusstest du übrigens, dass er verbrannt werden wollte?«

»Wir haben nie darüber geredet. Bist du sicher?«

»Er sagte es mir, als seine Schwester starb. Das würde ihm hundertmal lieber sein, als wie sie im Boden zu vermodern.« Nicole rollten die Tränen haltlos über die Wangen. »Das hört sich furchtbar an, ich weiß, aber genauso hat er es formuliert. Du kennst ihn ja. Er hat sich immer so hart ausgedrückt. Oh Gott, ich kann gar nicht glauben, dass er tot ist.«

Marie-Luise strich sich angestrengt über den schwarzen Rock. »Noch eine Frage: Hatte Raphael Feinde, hast du damals etwas mitbekommen? Traust du ihm zu, etwas Unrechtes zu tun?«

Nicole sprang hoch. »Niemals! Wie kommst du darauf. Was hat das mit ... Was meinst du damit?«

Es war bestimmt zu früh, Nicole mit ihrer Theorie zu konfrontieren. Sie musste sich erst einmal fangen. Morgen war auch noch Zeit für Nachforschungen. Trotzdem quälte sie eine Frage so sehr, dass sie schließlich aus ihr herausschlüpfte. »Kannst du dir vorstellen, was Raphael mit drei Millionen Euro in bar machen wollte?«

Nicole ließ sich mit einem Plumps auf den Küchenstuhl fallen. »Drei Millionen? In bar?«, hauchte sie. Nein, sie konnte es sich offensichtlich nicht vorstellen.

»Kind, vergiss es. Ich komme morgen oder übermorgen wieder, ja? Vielleicht kannst du helfen, den Tod aufzuklären.«

»Aufzuklären?«

»Schon gut, reg dich nicht auf. Es ist wahrscheinlich nur eine fixe Idee von mir. Hat Raphael je über Herzbeschwerden geklagt?«

»Bei mir nicht. Aber frag doch seine junge Freundin.« Nicoles Mund wurde spitz.

»Ja, ja, das mache ich. Ich geh dann jetzt.«

»Moment. Ich versteh das alles nicht. Warum fragst du so etwas? Meinst du, es war gar kein Herzanfall? Was war es dann?«

»Nichts, das ist es ja. Bis jetzt gibt es keine Anhaltspunkte, es ist nur so ein Gefühl von mir. Entschuldige, Kind, ich hätte nicht fragen sollen. Das beunruhigt dich nur unnötig. Bis ich nach Baden-Baden zurückkomme, hat die Polizei sicher alles aufgeklärt.«

Nicole wurde noch blasser. »Polizei? Die Polizei ist eingeschaltet?« Sie drehte an dem kleinen Anhänger ihrer Halskette. »Kann ich irgendwie helfen?«

»Nein, nein, das war schon alles. Mach dir keine Sorgen. Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich mich nicht beherrscht habe. Jetzt regst du dich auf. Es tut mir wirklich leid!« Unwillkürlich war Marie-Luise lauter geworden, als sie es gewollt hatte. Aus der kleinen Kammer nebenan war ein Klopfen zu hören.

Verschreckt machte Nicole eine kleine Kopfbewegung in Richtung der schmalen Tür und stand auf. »Ich sehe nach ihr, Tantchen. Du kannst den Laden ruhig offen lassen, wenn du gehst.«

Joseph war so lieb gewesen und hatte einen hübschen Schattenplatz ausgewählt. Dankbar ließ sie sich neben ihm in den Sitz sinken und betrachtete das Treiben auf dem Platz. Wie gut es tat, wieder normales Leben zu sehen. Es kam ihr vor, als sei sie aus einem dunklen traurigen Kinofilm wieder ins Tageslicht aufgetaucht.

Als Joseph seine Hand auf die ihre legte, wurde ihr allerdings bewusst, dass der Film noch lange nicht zu Ende war. Sie bestellte sich Kaffee und ein Stück Erdbeertorte, aber nichts schmeckte ihr. Sie musste an Raphael denken und zermarterte sich den Kopf, was er mit den drei Millionen Euro hatte anfangen wollen und was die wahre Ursache für seinen Tod gewesen war. Hatte ihm jemand einen Schlag versetzt? Ihn vergiftet? Unter Wasser gezogen? Aber warum, warum? Hatte sie erst ein Motiv, dann war sie auch dem Mörder ein Stück näher. Ob Kriminalhauptkommissar Gottlieb schon etwas herausgefunden hatte? Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden bedauerte sie es, kein Handy zu besitzen.

*

Endlich machte das »Gagarin« auf. Gottlieb hatte schon viel über den stadtbekannten Promitreff am Augustaplatz gehört, war selbst jedoch nie Gast dort gewesen. Er wusste, dass der Wirt Pit Fiolka seit über vierzig Jahren für Stimmung in der Stadt sorgte, Anfang der sechziger Jahre mit seinem »Pit’s Club«, in dem sich die großen deutschen Schlagerstars die Klinke in die Hand gaben, dann mit dem »Whisky a Gogo«, Deutschlands erster Diskothek, in der nach Schallplatten getanzt wurde. Seit 1978 betrieb er das »Gagarin« und seit sechzehn Jahren zusätzlich das »Augustaplatz-Meeting« während der Rennwochen. Im Herbst wollte er sich zur Ruhe setzen. Kollegin Sonja Schöller hatte dies vor ein paar Tagen am Rande einer Besprechung verkündet, und an dem Tag war mit den Kollegen dienstlich nicht mehr viel anzufangen gewesen. Er hatte noch mitbekommen, wie plötzlich alle nach der Uhr schielten und den Feierabend herbeisehnten, und am nächsten Morgen waren sie mit geröteten Augen und teilweise verräucherter Kleidung zum Dienst erschienen.

Jetzt hatte er einen beruflichen Grund, die Gaststätte aufzusuchen: die stattliche Rechnung Wittemanns vom Vorabend seines Todes.

Neugierig betrat er das berühmte Lokal. Es war ein großer, niedriger dunkler Raum, in dem es zwei Barbereiche gab. Besonders gemütlich erschien ihm die Theke gleich am Eingang, denn die Barhocker waren nur so hoch wie normale Stühle. Er hasste es, auf hohen Hockern zu balancieren, die man erst mit etlichen Verrenkungen erklomm, nur um dann dem Wirt beim Gläserspülen zuzusehen.

Eine Fotogalerie an den Wänden zeugte von den Glanzjahren des deutschen Schlagers: Udo Jürgens, Tony Marshall, Roy Black, Cindy und Bert, Harald Juhnke, Roberto Blanco – alle schienen in diesen Räumen glückselige Abende verbracht zu haben. Auch Konterfeis von Mitgliedern der europäischen Adelshäuser, sogar des einstmals berühmten Herzchirurgen Christian Barnard, konnte man bestaunen.

Der Wirt erschien, und Gottlieb registrierte amüsiert, dass er fast augenblicklich begann, sich zu entspannen. Der Mann besaß tatsächlich die Aura des perfekten Gastgebers. Er stellte sich vor, zeigte ein Foto von Wittemann und die Rechnung.

Fiolka konnte sich sofort erinnern. Wittemann war am späten Samstagabend zusammen mit einem Russen namens Wladimir in der Bar eingefallen. Die beiden hatten anscheinend schon vorher getrunken, aber noch nicht genug gehabt. Es war viel los gewesen, denn das Oldtimer-Treffen verlagerte sich von der Kurhauswiese ins Lokal, je später der Abend wurde. Wittemann war offenbar mieser Laune gewesen und hatte sich seinen Ärger von der Seele geredet und mit Whisky nachgespült. Sein Begleiter hatte ihm geduldig zugehört und einen Wodka nach dem anderen geordert. Zwischendurch hatten die beiden etwas zu essen bestellt, und als Fiolka servierte, hatte er aufgeschnappt, wie der Russe von untreuen Täubchen, Wittemann von einem Miststück sprach.

Die beiden hatten sich die Rechnung geteilt, Wittemann hatte die Getränke, der Russe das Essen gezahlt, und zwar mit Kreditkarte. Gottlieb konnte sein Glück kaum fassen. Es dauerte eine Weile, bis der Wirt die Papiere sortiert hatte, dann hatte Gottlieb den vollen Namen: Wladimir Sergejewitsch, und er wusste auch, dass beide denselben Heimweg gehabt hatten: ins Brenners Parkhotel.

Eilig verließ er das Lokal. Draußen musste er sich durch eine gut gekleidete Gesellschaft drängen, die vor dem rosafarbenen Gebäude Aufstellung genommen hatte. Im ersten Stock befand sich das Standesamt der Stadt, das sich auch bei ausländischen Gästen großer Beliebtheit erfreute, weil es eines von vier Hauptstandesämtern in Deutschland war und sich somit auch Paare, die keinen Wohnsitz in Deutschland hatten, hier zur Eheschließung anmelden und natürlich auch in Baden-Baden heiraten konnten. Unwillkürlich zog er den Kopf ein, als bei Erscheinen des Brautpaares die ersten Reiskörner und Sektkorken flogen, und überlegte, welcher Nationalität die Gesellschaft wohl angehörte. Osteuropäisch, so viel stand fest, aber nicht russisch, denn an den Klang hatte er sich in den letzten Jahren bereits gewöhnt.

Im Brenners versuchte er erneut, seine Hauptzeugin zu erreichen, aber entweder schlief die Dame immer noch, oder sie war bereits unterwegs. Er gab der Angestellten an der Rezeption seine Karte und schärfte ihr ein, ihn sofort zu verständigen, wenn Sina Kuhn auftauchen sollte. Wladimir Sergejewitsch zu finden war entschieden einfacher. Die Angestellte machte auf seine Nachfrage eine vielsagende Kopfbewegung, und er wusste sofort Bescheid: Die Oleander-Bar hatte inzwischen geöffnet, und dort saß nur ein einziger Gast vor einem Wodka. Er war teuer gekleidet, schwarze Hose, schwarzes Armani-T-Shirt, glänzend goldene Armbanduhr. Sein gesamter Halsbereich und auch die Arme bis zu den Handgelenken waren tätowiert. Gottlieb versuchte, alle aufsteigenden Vorurteile herunterzuschlucken, aber trotzdem sehnte er sich nach seiner Dienstwaffe, als er sich neben den Mann setzte.

Der Mann schob sein Glas beiseite und bestellte einen Kaffee. »Von der Polizei? Ich habe nichts getan«, antwortete er, nachdem Gottlieb sich vorgestellt und vergewissert hatte, dass dies der gesuchte Sergejewitsch war.

Sergejewitschs Deutsch war hervorragend, nur mit größter Anstrengung konnte man einen leichten Akzent heraushören, wenn er das »R« rollte und beim »Ch« und »H« einen eher fauchenden Laut ausstieß.

»Sie kannten Raphael Wittemann?«

»Natürlich! Warum?«

Gottlieb erklärte es ihm.

Sergejewitsch schien betroffen und überrascht zu sein. »Raphael tot? Ich habe ihn noch gestern gesehen, genau hier. Er hat Champagner geholt, im Bademantel. Das gibt es nicht. Ertrunken, sagen Sie?«

»Das wird noch untersucht«, antwortete Gottlieb und sah den Russen scharf an. Erschrak er bei der Vorstellung, dass eine Untersuchung des Todesfalls lief? Hatte er ein schlechtes Gewissen? Vielleicht hätte er den Namen des Mannes vorher durch den Fahndungscomputer laufen lassen sollen. Möglicherweise hatten die Kollegen von der Abteilung Organisierte Kriminalität etwas über ihn. Gottlieb ärgerte sich über sein Versäumnis, dann wiederum redete er sich ein, dass seine Polizistenfantasie nur verrückt spielte, weil er es hier mit einem russischen Staatsbürger zu tun hatte, einem reichen noch dazu.

Er wusste aus internen Berichten, dass derzeit mindestens zwanzig Milliarden Dollar im Jahr aus den ehemaligen Sowjetstaaten illegal in den Westen geschafft und dort investiert wurden, und ein nicht unerheblicher Teil davon eben in Baden-Baden. Stammten die drei Millionen in Wittemanns Zimmer aus einer solchen Quelle? Etwa von genau diesem Mann?

Gottlieb ließ ihn nicht aus den Augen, doch Sergejewitsch zog nur die Augenbrauen hoch und trank einen Schluck Kaffee.

»Wir waren gut bekannt«, begann der Russe dann. »Ich wollte ein Geschäft mit ihm machen, ein großes Projekt. Da ist dieses Grundstück mitten in der Stadt, unbebaut, beste Lage. Wir hätten ein Apartmenthaus der Spitzenklasse darauf bauen können, mit Dienstbotenflügel, Sicherheitsdienst, Arztpraxen, Dampfbädern, was weiß ich. Ich habe geredet und geredet, aber er wollte nicht. Keine Ahnung, warum.«

»Sie sind auch in der Baubranche?«

Sergejewitsch blinzelte. »Investitionsbranche würde ich das nennen. Alles legal, das interessiert die Polizei doch am meisten, oder? Schade, das wäre ein tolles Ding geworden. Aber Raphael wollte sich nicht in Baden-Baden engagieren, da war er nicht zu überreden. Nicht in dieser Stadt, sagte er. Sehr schade. Ich habe ihn letztes Jahr kennengelernt, wir waren beide zur selben Zeit hier im Hotel. Ein gutes Haus. Ich würde niemals irgendwo anders absteigen wollen als hier.«

Er rührte heftig in seiner Kaffeetasse. »Wir haben damals an der Bar gestanden und die halbe Nacht Luftschlösser gebaut, wie man das eben so macht nach ein paar Drinks. Seitdem ist mir die Idee mit dem Apartmenthaus nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Baden-Baden ist für Russen ein gutes Pflaster zum Investieren.«

»Warum?«

»Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew – ah, sie alle schwärmen uns in ihren wunderbaren Werken schon während unserer Schulzeit von der Glanzzeit Baden-Badens im neunzehnten Jahrhundert vor, als die Stadt Sommerhauptstadt Europas war. Jedes Kind in Russland kennt Ihre Stadt, Herr Gottlieb! Seit Boris Jelzin vor zehn Jahren in Baden-Baden war und das russische Fernsehen eine Woche von hier Berichte sandte, wollte ich unbedingt herkommen. Die Thermalquellen, das Friedrichsbad, das Spielkasino! Und jetzt auch noch die Auftritte des Petersburger Mariinsky-Theaters im Festspielhaus! Hier wird alles für uns Russen getan, hier sind wir willkommen. Einige meiner Landsleute kaufen sich hier große Villen, nur als Zukunftsinvestition. Sie wohnen gar nicht dort, sie wollen einfach nur eine Geldanlage in der Nähe der Schweiz und von Frankreich haben. Mit anderen Worten: höchste Qualität, die geht! Es gäbe also einen Markt für ein solches Apartmenthaus. Ich hätte es gern mit Raphael zusammen gebaut. Er ist ein anständiger Kerl. War, besser gesagt. Wann ist er gestorben?«

»Kurz vor neunzehn Uhr. Wo waren Sie zu der Zeit?«

»Hier. Mein Freund, der Barkeeper, kann das bezeugen, und der Bon-Computer bestimmt auch.«

»Woher können Sie so gut Deutsch?«

»Ich habe es studiert. Einmal den ›Faust‹ im Original lesen, das war mein größter Wunsch.«

Gottlieb nahm sich vor, demnächst mit seinen Vorurteilen etwas vorsichtiger zu sein. Dieser Mann war nicht nur gebildet, sondern auch, falls die Fahndungsakten nichts anderes ergaben, ausgesprochen angenehm.

»Ich habe in Wittemanns Kalender gesehen, dass Sie sich schon am Donnerstag mit ihm getroffen haben.«

»Das stimmt. Er konnte nicht an der Oldtimer-Ausfahrt teilnehmen, irgendetwas war mit den Bremsen, und der Wagen stand in der Werkstatt. Er war sehr verärgert, wollte aber nicht weiter darüber reden. Wir trafen uns im ›Medici‹. Ich hoffte, ich könnte ihn doch noch überreden. Nach unserem Gespräch vor einem Jahr hatte ich sogar Pläne dabei. Aber wie gesagt, es war nichts zu machen.«

»Gibt es Zeugen?«

»Er war mit der schönen Sina da! Haben Sie sie schon kennengelernt?«

Gottlieb nickte vorsichtig und versuchte, möglichst neutral auszusehen. »Ich dachte, die beiden hätten sich getrennt?« Vielleicht war Frau Campenhausen ja doch etwas durcheinander?

»Das war Samstag. Deshalb ist es so spät geworden. Wir haben gemeinsam den Ärger heruntergespült.«

»Kennen Sie den Grund für die Trennung?«

»Nicht genau. Raphael hatte schon getrunken, als ich ihn im Kurpark vor seinem Wagen traf. Ein wirklich prachtvoller alter Mercedes! Den sollten Sie sich ansehen. Großartig in Schuss! Glücklich, wer den Wagen nun bekommt! Ich würde ihn sofort kaufen, zu jedem Preis.«

»Wir sprachen über die Trennung.«

»Richtig. Im ›Gagarin‹ hat er zum Bier einige Whiskys gekippt, ehe er endlich anfing zu erzählen. Leider war er nur noch schwer zu verstehen, und ich bin nicht ganz schlau daraus geworden. Es muss mit dem Friedrichsbad zu tun gehabt haben, etwas, das er entdeckt hat.«

Sergejewitsch bestellte noch einen Kaffee, dann erhellte sich sein Gesicht. »Mir fällt gerade ein, er hat den Namen Urbanek erwähnt. Den Zusammenhang weiß ich nicht mehr. Es ging alles durcheinander. Außerdem redete er von einem Unfall. Für seine Sina hatte er nur Schimpfwörter. Ein Miststück sei sie, das gar nichts mit den Pagenhardts zu tun habe, sondern ihn hintergangen habe. Ich erinnere mich leider nur noch an diese Bruchstücke. Ich vertrage einiges, aber ich fürchte, am Ende hatten wir beide nicht mehr den richtigen Durchblick.«

Gottlieb schluckte seine Enttäuschung herunter. Viel war das nicht. Aber immerhin hatte er ein paar Namen, die er überprüfen konnte: Urbanek, schon wieder Pagenhardt und natürlich auch Sergejewitsch. Er verabschiedete sich und zog schon im Gehen das Handy aus der Hosentasche, um den Kollegen erste Anweisungen durchzugeben. Doch als er in die angrenzende Kaminhalle kam, wäre er, noch bevor er die Nummer eingegeben hatte, fast gestolpert vor Überraschung: Sina Kuhn saß dort an einem der kleinen Tischchen und ihr gegenüber Lea Weidenbach!

Mord im Grandhotel

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