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VIER

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Kriminalhauptkommissar Gottlieb gab sich allergrößte Mühe, ruhig zu bleiben. Ein Mord in Brenners Parkhotel, und niemand informierte ihn, den Chef des Morddezernats? Das war im höchsten Maße suspekt. War die Polizei am Ende überhaupt nicht verständigt worden? Wenn die Ärzte, wie Frau Campenhausen behauptete, von einem natürlichen Tod ausgingen, war das durchaus im Rahmen des Möglichen, zumal Hotels generell dazu neigten, unangenehme Dinge diskret zu regeln. Das war zwar verständlich, aber bei Mord hörte der Spaß natürlich auf.

Er war heilfroh, dass er an dem Trollinger bislang nur genippt hatte, um später auf dem Saxophon noch die richtigen Töne zu treffen. So konnte er sich guten Gewissens als Chauffeur anbieten und dabei gleich selbst nach dem Rechten sehen.

Sein betagter Volvo sprang beim ersten Versuch an. Erleichtert gab er Gas und fuhr die enge Friedhofstraße hinab. Am Bertoldplatz warf er aus reiner Routine einen kurzen Blick nach links auf die Gestecke, Pflanzen und Tontöpfe, die das dort ansässige Blumengeschäft ungeachtet aller Kriminalstatistiken ungesichert vor der Tür aufgebaut hatte und auch übers Wochenende stehen ließ. Eigentlich eine provokative Einladung für jeden Langfinger. Erstaunlich, dass so gut wie nie ein Diebstahl angezeigt wurde. Das gab es wahrscheinlich nur in Baden-Baden, wo man selbst nachts in der Innenstadt die Caféstühle nicht ankettete. In Stuttgart wäre das undenkbar gewesen, und nicht nur aus diesem Grund beglückwünschte er sich wieder einmal, dass er sich nach seiner Scheidung vor sechs Jahren in diese idyllische Kurstadt hatte versetzen lassen.

Schon hatten sie die Schillerstraße erreicht, und er hielt direkt vor dem Eingang unter dem weinroten Baldachin, der den Eingangsbereich des Grandhotels majestätisch überwölbte. Dem Portier zuckte für einen Wimpernschlag ein missbilligender Zug über das Gesicht, als er den Volvo erblickte, und Gottlieb konnte es ihm nicht verübeln. Der Wagen hätte schon vor Wochen in die Waschstraße gehört, aber irgendwie war immer etwas dazwischengekommen.

Als er den Motor abstellte, sprang seine Adrenalinproduktion in den zweiten Gang. Kein Streifenwagen, keine Zivilfahnder in Sicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Hoteldirektor versuchte, einen Mord zu vertuschen. Gab es überhaupt ein Verbrechen, oder hatte sich Frau Campenhausen womöglich einen Krimi oder ein Gläschen Portwein zu viel genehmigt? Er kannte die rüstige Mittsiebzigerin seit über zwei Jahren und wusste, dass sie gern in die Rolle einer Detektivin schlüpfte. War beim Tod ihres Neffen etwa die Fantasie mit ihr durchgegangen?

Er warf einen Seitenblick auf seine Begleiterin. Eben war sie ihm noch verführerisch weich und entspannt vorgekommen, und nun hatte sie sich wieder in die kühle, routinierte Journalistin verwandelt, die er von vielen beruflichen Terminen her kannte. Ob sie vielleicht insgeheim über die Unterbrechung froh gewesen war? Schon als sie vorhin die Treppe hochgekommen war, hatte er ihr angesehen, wie unwohl sie sich gefühlt hatte.

Wahrscheinlich war diese Einladung ein schrecklicher Fehler gewesen, ein Missverständnis, Fehlleitung seiner aufgewühlten Hormone. Er sollte sich diese Frau aus dem Herzen reißen. Zugegeben, anfangs hatte er mit ihr beruflich auf Kriegsfuß gestanden, aber die letzten Monate hatte er lichterloh gebrannt. Das war ihm erst heute Nachmittag aufgegangen, als er sich mit diesem vertrackten Essen abgemüht hatte. Am liebsten hätte er sein mühseliges Kochexperiment unvollendet aufgegeben, vor allem als er versucht hatte, den klebrigen Nudelteig für die Maultaschen auf seinem Couchtisch auszurollen. Aber dann hatte er durchgehalten, weil er sich ausgemalt hatte, wie der Abend wohl ablaufen würde.

Vorhin, als sie zusammen am Fenster gestanden und in den kitschigen Sonnenuntergang geblickt hatten, da hatte nicht mehr viel gefehlt, und er hätte sie zu küssen versucht. Wenn sie sich nur noch einen Millimeter weiter nach hinten gelehnt, den Kopf ein winziges Stück in Richtung seiner Lippen gedreht hätte ... Und dann hatte dieses Telefon geklingelt, und sie war zu ihrem Rucksack gehechtet, als würde sie dadurch von allem Übel erlöst. Vielleicht hatte ihn sein Gefühl getäuscht. Vielleicht empfand sie nichts für ihn. Vielleicht war sie nur nett zu ihm, weil sie sich davon einen Informationsvorsprung vor der Konkurrenz erhoffte. Vielleicht war er gerade noch davor bewahrt worden, sich zum Narren zu machen. Ach verdammt. Wieso war alles so kompliziert?

Lea Weidenbach war bereits ausgestiegen und eilte gerade durch die Drehtür ins Hotel. Wie immer ging ihm das Herz auf, als er ihr nachsah. Die Beleuchtung des Eingangs ließ ihre halblangen braunen Haare fast golden schimmern, die Jeans passten perfekt zu ihrem sportlich-eleganten Typ. Er wollte sich vorstellen, dass sie sich gleich umdrehen und ihm lächelnd zuwinken würde. Aber so war es nicht. Sie war im Dienst, auf der Jagd nach einer neuen, exklusiven Story und hatte ihn bereits vergessen. Und eigentlich sollte auch er mit den Ermittlungen beginnen.

Er fand sie in der Kaminhalle auf einer Couch neben Frau Campenhausen. Die alte Dame weinte heftig, und bei diesem Anblick begann sein Polizistenherz zu galoppieren. Automatisch zog er sein Handy aus der Hosentasche und seinen kleinen Notizblock, den er immer bei sich trug. Er machte dem Kellner ein Zeichen, und wenig später standen Kaffee, Mineralwasser und für Frau Campenhausen ein Cognac auf dem niedrigen Tisch.

Die alte Dame gab sich große Mühe, ihre Beherrschung zu wahren. Mit zittriger Stimme teilte sie ihm die nötigsten Informationen über den Toten mit. Beim Punkt Gesundheits-Check und dem angeblichen Resultat »kerngesund« malte er ein Fragezeichen auf die Seite. Angehörige waren häufig die Letzten, die über den wahren Gesundheitszustand eines Menschen aufgeklärt wurden. Er persönlich konnte sich nicht vorstellen, dass jemand freiwillig zu einer solchen Untersuchung ging, wenn ihm nichts Ernsthaftes fehlte.

In Frau Campenhausens kleinem Vogelgesicht machte sich erneut eine Träne selbständig. Sie tupfte sie schnell weg.

»Es war kein Unfall. Das kann nicht sein«, flüsterte sie. »Glauben Sie mir! Helfen Sie mir!«

Lea Weidenbach nahm sie in den Arm und wiegte sie hin und her, während der weißhaarige Begleiter ihr von der anderen Seite seine Hand auf den Arm legte. Gottlieb stand auf, ging hinaus in die Empfangshalle und ließ sich von der Einsatzzentrale die Telefonnummer des diensthabenden Notarztes geben. Als er den Namen hörte, atmete er auf. Er kannte den Mann, ein hervorragender Spezialist und sauberer Diagnostiker mit stets kühlem Kopf.

Heute hörte sich der Mann allerdings gestresst an. Er käme gerade von einem weiteren Einsatz, entschuldigte er sich.

Gottliebs Fragen beantwortete er, ohne zu zögern. »Ich habe den Mann im Pool-Bereich vorgefunden. Er hatte sich allein dort aufgehalten, hat man mir gesagt. Das Personal hatte ihn schon aus dem Wasser gezogen und erste Wiederbelebungsversuche unternommen. Ich habe ihn in die Stadtklinik bringen lassen. Exitus bei der Einlieferung. Herzversagen.«

»Hinweise auf unnatürliche Todesursache?«

»Wie bitte? Nein, um Gottes willen.«

Gottlieb sah auf seine Notizen, dann durch die Glastür zu der alten Dame am Kamin.

»Hm. Können Sie trotzdem zum Tatort kommen?«

»Unglücksort.«

»Meinetwegen.«

»Wann? Jetzt? Hier ist die Hölle los. Das Wetter. Hat das nicht Zeit bis morgen früh? Ich habe bis sieben Bereitschaft.«

Sein Instinkt befahl Gottlieb, den Mann sofort herzuholen, den Staatsanwalt und die Kollegen des Dezernats und der Spurensicherung zu alarmieren – kurz: das große Programm zu fahren. Aber ohne konkrete Anhaltspunkte auf eine Straftat? Nur weil eine alte Dame Zweifel verspürte?

»Ich melde mich gleich wieder«, sagte er. Dann rief er in der Stadtklinik an und sprach mit der zuständigen Ärztin in der Notaufnahme.

»Herzversagen«, war auch deren Diagnose.

»Geht das genauer?«

»Da müssen Sie sich bis morgen gedulden. Natürlich wird eine Leichenschau veranlasst. Die nächste Angehörige, wo habe ich den Namen, hier, Frau Campenhausen war damit einverstanden. Polizei, sagen Sie? Wird das ein staatsanwaltschaftlicher Sektionsantrag? Dann lassen wir die Leiche gleich zu den Kollegen in Freiburg bringen.«

»So weit sind die Ermittlungen noch nicht.«

Die Ärztin seufzte genervt. »Dann warten wir, bis Sie sich entschieden haben. Wir haben genug um die Ohren, da sparen wir uns gern unnötige Arbeit. Was für einen Verdacht haben Sie eigentlich? Ich habe den Mann gesehen. Äußerlich habe ich nichts Außergewöhnliches feststellen können. Sie können uns helfen, wenn Sie den Namen seines Hausarztes feststellen. Wir müssen ihn nach Vorerkrankungen fragen.«

»Er hatte dieser Tage im Brenners einen Gesundheits-Check.«

»Beim Kollegen Jaeger? Gute Nachricht. Leite ich gleich an die Pathologie weiter. Dann können wir ihn morgen Mittag bestimmt freigeben.«

Nachdenklich legte Gottlieb auf. Allem Anschein nach handelte es sich hier um einen ganz normalen Todesfall. Andererseits war es seine Pflicht, Ermittlungen aufzunehmen, wenn Angehörige den Verdacht auf eine Straftat äußerten. Es gab allerdings bislang keinen Grund, Frau Campenhausens Verdacht ernst zu nehmen, außer der Sympathie, die er für sie hegte. Andererseits wollte er sich hinterher auch nichts vorwerfen.

Er ging zurück an den Kamin.

»Die Ärzte gehen von natürlichem Tod aus«, begann er vorsichtig.

»Das kann nicht sein.«

»Ich habe bisher keinen Anlass, es nicht zu glauben.«

»Aber ...« Frau Campenhausen stockte und begann, am Verschluss ihres kleinen altmodischen Handtäschchens zu spielen.

Auf, zu, auf, zu.

Gottliebs Nackenhaare sträubten sich. Da war etwas. Frau Campenhausen hatte einen Grund für ihre Vermutung. Warum nannte sie ihm den nicht?

»Wie kommen Sie darauf, dass es Mord sein könnte?«, insistierte er.

Auf, zu, auf, zu.

Lea Weidenbach runzelte widerwillig die Stirn, sagte aber nichts.

»Frau Campenhausen, wissen Sie etwas? Verheimlichen Sie mir etwas?«

Auf, zu, auf, zu.

»Frau Campenhausen!«

Lea Weidenbach schnaubte wütend. »Sie sehen doch, dass sie völlig am Ende ist!«

»Schon gut, Kindchen. Ja, es – es gibt da etwas: Aber ich weiß nicht, ob es Raphael recht wäre, wenn, wenn ... Vielleicht – nun, vielleicht ... Herr Gottlieb, darf ich Ihnen privat etwas anvertrauen, ohne dass Sie ein Ermittlungsverfahren gegen meinen Neffen in Gang setzen?«

»Wenn Sie Kenntnis von einer Straftat haben – nein!«

»Ach, wenn ich das nur wüsste. Es ... es ist so: In seinem Zimmer habe ich Bargeld gefunden.«

Der Ton, in dem sie das sagte, ließ seine Alarmglocken erklingen. »Wie viel?«

»D-drei ...«

»Dreitausend Euro?«

Sie schüttelte den Kopf und hob ihre Hand, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Er beugte sich zu ihr. »Drei Millionen«, verstand er.

»Millio...?«

»Pssst. Die sind noch auf dem Zimmer. Suite 123. Im Koffer. Ich wusste so schnell nicht, wohin damit.«

Drei Millionen Euro in bar in einem Hotelzimmer, und der Besitzer hatte einen plötzlichen Herztod erlitten? Gottlieb erhob sich. »Haben Sie den Schlüssel? Zeigen Sie mir das Zimmer.«

Frau Campenhausen rappelte sich schwankend hoch und strich ihren Kostümrock glatt. »Versprechen Sie mir, dass Sie Raphael keiner Straftat verdächtigen!«

Gottlieb musste schmunzeln. »Gegen Tote ermitteln wir grundsätzlich nicht, Frau ...«

Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment betrat die schönste Frau, die er je gesehen hatte, die Lobby und sah sich suchend um. Dann kam sie zielstrebig direkt auf ihn zu. Ihre schwarze Lockenmähne wippte mit jedem Schritt ihrer zierlichen Füße, die vollen roten Lippen verzogen sich zu einem bezaubernden Lächeln, ihre grünen Augen funkelten. Sie trug ein fantasievolles Kleid aus flaschengrüner Rohseide, unter der schmalen Taille weit gebauscht, mit einem federleichten, fast durchsichtigen rostroten Oberteil, das mit kleinen Perlen verziert war und sich wie eine Wolke um ihre perfekt gerundeten Schultern schmiegte. Darunter trug sie ein hautenges flaschengrünes Seidentop, das den Ansatz ihrer vollen Brüste zur Geltung brachte. Gottlieb wurde es warm. Galt ihr Lächeln ihm? Wollte sie zu ihm?

»Frau Campenhausen!«, rief die Frau mit einer verführerisch dunklen Stimme. »Ich habe mich verspätet. Wo haben wir denn das Geburtstagskind?«

Frau Campenhausen wurde blass, tat einen Schritt nach hinten und plumpste auf das Sofa zurück.

Die Frau drehte sich suchend um. Sie war noch jung, Mitte zwanzig vielleicht, und sie duftete betörend nach Orient und Sünde. »Ich war bei der Eröffnung dieses neuen Modesalons, Isa-Isa. Haben Sie davon gehört? Fantastisch, sage ich Ihnen! Das muss man gesehen haben. Es tut mir leid, ich habe mich dort verplaudert. Warum sehen Sie mich so an? Ist etwas ...? Oh mein Gott, Frau Campenhausen, Sie weinen ja! Wo ist Ralfi? Ich meine, Raphael? Ich wollte ihm gratulieren.«

Gottlieb räusperte sich. Da Frau Campenhausen ihren Mund nur tonlos auf- und zuklappen konnte, stellte er sich vor und kam sofort zur Sache. »Sie kannten Herrn Wittemann?«

Selbst in ihrem Erstaunen sah diese Frau einfach göttlich aus. Ihre Brüste hoben und senkten sich wie die Sahnehäubchen auf Donauwellen. Er liebte Donauwellen. Klara, seine geschiedene Frau, hatte die allerbesten der Welt gebacken.

»Polizei?«, fragte die schöne Frau und sah verwirrt aus.

»Das ist Sina Kuhn, die Ex-Verlobte meines Neffen. Sie haben nichts mehr miteinander zu tun«, mischte sich Frau Campenhausen ein. Sie klang verärgert und hatte einen ungewohnt harten Zug um den Mund. »Fräulein Kuhn, wo waren Sie heute zwischen achtzehn Uhr und neunzehn Uhr dreißig?«

»Was bedeutet das? Was ist hier los? Wo ist Ralfi?«

Frau Campenhausens Gesicht färbte sich rot. Ihre blauen Augen sprühten vor Zorn. Sie holte Luft und ... Es war Zeit, einzugreifen.

Vorsichtig nahm Gottlieb den weichen Ellbogen der Göttin und führte sie ein Stück abseits. Dann versuchte er möglichst sensibel, sie vom Tod ihres Ex-Verlobten zu unterrichten. Ihre Augen wurden dunkel, so unergründlich wie ein tiefer Bergsee.

»Tot? Aber wann ... wie ... und warum?«, stotterte sie. Eine Träne hing an ihren langen schwarzen Wimpern. Gottlieb schluckte. Was war denn mit ihm los? Hilfesuchend drehte er sich zu Lea Weidenbach um, aber die beschäftigte sich mit Frau Campenhausen, deren Gesicht ganz spitz aussah und die gerade unentschlossen auf ihre Armbanduhr blickte.

»Ich ... ich glaube, ich brauche einen Grappa«, sagte Sina Kuhn und machte ein paar Schritte in Richtung Bar. Bevor sie sie erreicht hatte, knickte sie an einem der schweren Sessel halb ein. Sie kam gerade noch auf der Lehne zu sitzen.

Gottlieb folgte ihr und beugte sich zu ihr herunter. Dabei bemühte er sich krampfhaft, nicht in ihren tiefen Ausschnitt zu sehen. »Ich brauche Ihre Personalien. Sie waren seine Verlobte?«

Sina Kuhn fasste sich und richtete sich auf. »Kommen Sie, gehen wir an die Bar. Ich bin immer noch seine Verlobte, glauben Sie Frau Campenhausen bloß nicht alles. Sie ist ja sehr rührend, aber sie bringt in letzter Zeit einiges durcheinander. Darf ich?«

Sie setzte sich auf einen der grünen Barhocker unter einem großen Pferdegemälde, gab ihre Bestellung auf und holte ein goldenes Zigarettenetui aus ihrer Handtasche, klappte es auf und zog eine extra lange, dünne schneeweiße Zigarette heraus. Sachte nahm Gottlieb ihr das Feuerzeug aus der Hand, und diese Berührung durchfuhr ihn wie ein glühendes Schwert.

Als die Zigarette brannte, riss er sich mühsam von ihren Augen los und schlug seinen Notizblock auf. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er verhielt sich nicht professionell. Diese Frau war eine Zeugin, vielleicht in einem Mordfall. Wo blieb denn nur sein Anspruch, ein guter Polizist zu sein?

Er blickte nicht mehr hoch, als er ihre Personalien notierte. Bei der Zimmernummer stutzte er. »Sie wohnten nicht zusammen?«

»Das kann ich erklären. Aber sagen Sie mir doch bitte endlich, was geschehen ist.«

Er tastete zur Brusttasche und holte sich selbst eine Zigarette heraus. »Er ist in den Pool gestürzt.«

»Ralfi? Ertrunken? Das glaube ich nicht.«

»Die Ärzte tippen auf einen Herzanfall.«

»Ach.« Langsam schnippte sie ein wenig Asche von ihrer Zigarette und nahm einen Schluck Grappa. Ihre Bewegungen waren kontrolliert, nachdenklich. Gottlieb betrachtete ihre langen Finger. Rostroter Nagellack, passend zum Oberteil. Mit einem Ruck warf sie ihren Kopf zurück. Ihre goldenen Ohrringe schaukelten. Es war eine elegante Bewegung, anmutig und aufreizend zugleich. »Das Herz also.« Sie nickte, als hätte sie es schon immer geahnt.

»Das überrascht Sie nicht?«

»Er hat in letzter Zeit öfter über sein Herz geklagt.«

»Frau Campenhausen sagt, er habe sich erst diese Woche durchchecken lassen und sei vollkommen gesund gewesen.«

»Sehen Sie?« Sie blies den Rauch aus und kräuselte dabei ihre vollen Lippen wie zu einem Kuss. »Das habe ich gemeint. Sie ist in letzter Zeit wirklich etwas durcheinander. Fünfundsiebzig, meine Güte, wer weiß, wie wir mit fünfundsiebzig sind. Dafür ist sie körperlich noch ganz rüstig, oder?« Sie beugte sich vor, um an ihm vorbei zu der alten Dame am Kamin zu sehen.

Wieder stieg ihm ihr orientalisches Parfüm in die Nase, süß und schwer. Etwas für heiße Sommernächte.

Was waren das nur für Gedanken? Also wirklich! Gottlieb räusperte sich. »Sie behaupten also, er habe über sein Herz geklagt.«

Sina Kuhn nickte. »Weshalb hat er sich sonst jedes Jahr durchchecken lassen? Das hat er seiner Tante natürlich verschwiegen. Er wollte sie nicht beunruhigen. Er hat es nicht einmal mir direkt gesagt. Und wer weiß, ob er dem zuständigen Arzt immer reinen Wein eingeschenkt hat. Der sollte ihn einfach nur untersuchen, und entweder würde er etwas finden oder eben nicht. Er selbst würde niemals über Beschwerden klagen. So war Ralfi. Immer stark.«

Sie wich seinem Blick aus, und sofort schaltete sich der kleine Teil seines Verstandes ein, der noch funktionstüchtig war.

»Ich werde das überprüfen, Frau Kuhn. Sie sagten, er habe Beschwerden gehabt ...«

»Nachts vor allem, da war er regelmäßig nass geschwitzt und hat geröchelt. Da ist es mir richtig angst geworden. Und deshalb ...« Sie drückte gewissenhaft ihre Zigarette aus, dachte nach und hob dann den Kopf. Ihre grünen Augen glänzten hypnotisch. »Deshalb bin ich kurzfristig ausgezogen. Ralfi sollte ungestört sein. Vielleicht wäre das besser für ihn, haben wir uns überlegt. Aber dass es so schnell ...«

Sie seufzte, und es hörte sich an wie ein Schluchzen. Dann griff sie zum Glas und kippte den Rest hinunter. »Wie geht es jetzt weiter? Weswegen ermitteln Sie?«

Das wusste er ja selbst noch nicht. »Gegenfrage: Wollte er in den nächsten Tagen ein größeres Geschäft tätigen?«

Sina Kuhn lachte unsicher. »Er hatte immer ein paar Eisen im Feuer. Meinen Sie etwas Konkretes?«

»Wickelte er seine Geschäfte üblicherweise in bar ab?«

»Wie bitte? Aber nein. Nicht dass ich wüsste. Aber er sagte mir nicht alles. Schon gar nicht, wenn etwas nicht zumindest spruchreif war. Um ehrlich zu sein, wenn ich nun nachdenke ... ich kann es Ihnen überhaupt nicht sagen. In diesen Dingen war Ralfi eigen.«

Bevor er das Geld nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, wollte Gottlieb nicht konkreter nachfragen. »Kann ich Sie morgen hier erreichen, wenn ich noch Fragen habe?«

»Wo soll ich denn hin? Darf ich ihn noch einmal sehen? Wo ... wo ist er überhaupt hingebracht worden?«

»In die Stadtklinik.«

Sie machte wieder ihre allwissend anmutende Kopfbewegung. »Ich glaube, ich würde jetzt gern allein sein«, flüsterte sie. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich heute Abend mit Ralfi hier sitzen und auf sein Wohl einen Champagner trinken wollte ...« Wieder glitzerte eine Träne in ihren Wimpern.

Gottlieb rutschte vom Barhocker. »Tut mir leid«, murmelte er. »Ich melde mich morgen bei Ihnen.«

Unschlüssig ging er zu der Sitzgruppe zurück, in der Frau Campenhausen auf ihn wartete. Ihr Begleiter war nicht zu sehen, und Lea sah angesäuert aus.

»Frau Campenhausen würde gern nach Hause gehen, Herr Gottlieb«, sagte sie, und er ärgerte sich über ihren gouvernantenhaften Ton.

»Ich habe die Zeugin erst vernehmen müssen. Sie sagt, Herr Wittemann habe Herzprobleme gehabt, auch in den letzten Tagen.«

Frau Campenhausen hob den Kopf und funkelte ihn empört an. »Herzprobleme? Wegen ihr vielleicht! Zeugin nennen Sie diese Person? Haben Sie schon ihr Alibi zur Tatzeit überprüft?«

»Noch gibt es keine Tat«, belehrte er sie und wagte einen kurzen Blick zurück. Sina Kuhn hatte ihre Beine übereinandergeschlagen und wippte mit ihren schwarzen Stöckelschuhen. Sie hatte sich ein weiteres Glas bestellt. Vielleicht blieb sie noch an der Bar, und er konnte die Befragung später fortsetzen?

»Lassen Sie mich das Zimmer sehen, Frau Campenhausen. Den Rest erledigen wir morgen, in Ordnung?«

Lea fummelte in ihrem Rucksack herum und holte einen Fotoapparat heraus. Er zuckte zusammen. Sie hatte also zu diesem rein privaten Abend ihre gesamte Ausrüstung mitgenommen! Wahrscheinlich hatte sie heimlich seine Wohnung fotografiert, als er am Herd abgelenkt gewesen war. Was war er nur für ein heillos romantischer Narr!

»Wollen Sie, dass Frau Weidenbach das Zimmer Ihres Neffen für die Zeitung fotografiert, Frau Campenhausen?«

Die Weidenbach rollte die Augen und schüttelte leicht den Kopf. »Herr Gottlieb, was ist denn los mit Ihnen? Ich will nur das Geld fotografieren, denn falls es wirklich Mord war, könnte das doch nützlich ein, oder?«

»Fragt sich nur, für wen«, nuschelte er muffig und fühlte sich gleichzeitig schlecht dabei. Er verstand sich ja selbst nicht und hatte keine Ahnung, warum er so patzig zu ihr war.

Als Frau Campenhausen die Zimmertür öffnete, musste er einen anerkennenden Pfiff unterdrücken. Die Suite maß bestimmt fünfundsiebzig Quadratmeter und war im englischen Landhausstil eingerichtet, mit gemusterten Stoffen, die ihm persönlich allerdings etwas zu auffällig waren. Die Fenster zeigten auf die Parkanlage der Lichtentaler Allee.

Frau Campenhausen eilte zum Schrank, öffnete ihn und zerrte einen großen Koffer heraus. Gottlieb sprang dazu und half ihr. Anzüge und Jacken lagen in dem Koffer, und Sina Kuhns Bemerkungen über Frau Campenhausens Geisteszustand kamen ihm in den Sinn. Wie sollte er jetzt reagieren, wenn gar kein Geld in dem Koffer war? Verständnisvoll? Vielleicht ein bisschen flapsig? Lieber gar nicht. Es würde der Krimiexpertin auch ohne eine einzige Bemerkung schon peinlich genug sein. Da brauchte er nicht noch eins draufzusetzen.

Doch in dem Moment zog sie das letzte Oberhemd weg und präsentierte ihm wie eine Zauberin die Geldbündel. Blitzlicht flammte auf. Lea Weidenbach fotografierte und atmete heftig. Als sie fertig war, beugte er sich über die Scheine, die ihm echt erschienen, ließ die Bündel durch seine Hände gleiten, dann begann er sorgfältig zu zählen. Hundert Scheine à fünfhundert Euro. Das machte fünfzigtausend pro Bündel. Die anderen Bündel waren exakt gleich hoch, jedes von ihnen maß nur etwa einen Zentimeter.

»Sechzig, es sind sechzig Bündel!«, flüsterte Frau Campenhausen, und er glaubte ihr. Trotzdem zählte er nach.

Drei Millionen, wie sie gesagt hatte.

Niemand tätigte legale Geschäfte mit so viel Bargeld. Wenn das Geld aber für eine Straftat benutzt werden sollte, dann müsste er es sicherstellen. Dafür wiederum hatte er noch nicht genug Fakten.

»Nehmen Sie es!«, drängte Frau Campenhausen. »Ich kann es doch nicht hier lassen, und mit nach Hause nehmen will ich es auch nicht.«

Jetzt wurde es verzwickt. Er konnte das Geld nicht einfach so beschlagnahmen. Dafür musste er ein Ermittlungsverfahren einleiten, ganz offiziell. Aber gegen wen? Doch nicht gegen einen Toten. Und weswegen überhaupt? Mord? Betrug? Geldwäsche? Er müsste zumindest nachweisen, dass das Geld aus einer Straftat stammte. Hatte Wittemann es von seiner Bank bekommen, war nichts zu machen. Das konnte erst morgen geklärt werden, wenn er die Bank erreichte.

Gottlieb nahm eine Plastiktüte, die unten im Koffer lag, und stopfte die Scheine hinein, während er sich wunderte, wie wenig Platz so viel Geld brauchte. Es musste einen Safe im Hotel geben. Dort würde er das Geld deponieren und morgen entscheiden, wie er weiter verfahren wollte. Der Ordnung halber stellte er Frau Campenhausen eine Quittung aus.

Dann verabschiedeten sich die beiden Frauen, und er hatte Zeit, sich umzusehen. Im Papierkorb lag zerknülltes Geschenkpapier, im Bad eine aufgerissene Packung Aspirin. In der Tasche eines senfgelben Sakkos fand Gottlieb eine gesalzene Rechung aus dem Restaurant »Gagarin«. Offenbar hatte Wittemann in der vergangenen Nacht üppig gezecht. Gottlieb warf einen zweiten Blick auf die Rechnung. Vierzehn Bier, sechs Whisky, acht Wodka – das schaffte niemand allein. Das sah nach einer zünftigen Männerrunde aus, vielleicht mit möglichen Zeugen, vielleicht auch mit dem möglichen Mörder, wenn es denn Mord gewesen war.

Der Terminkalender des Toten ergab, dass Wittemann sich tatsächlich die ganze Woche über in Baden-Baden aufgehalten hatte. Montag war er angereist, Dienstag und Mittwoch hatte er den Gesundheits-Check durchführen lassen, für Donnerstag und Freitag hatte er Oldtimer-Ausflüge ins Elsass und in den Schwarzwald eingetragen, die Fahrt am Donnerstag aber durchgestrichen und »Werkstatt« dahinter gekritzelt. Am gleichen Tag hatte er sich um achtzehn Uhr im Schickimicki-Lokal »Medici« mit einem gewissen Wladimir verabredet. Am Samstag hatte er sich für zehn Uhr morgens das Friedrichsbad eingetragen, für den Sonntagmittag das Treffen mit seiner Tante und für abends das Essen im Parkrestaurant des Hotels. Morgen wollte er wieder nach Frankfurt abreisen, und Dienstag hätte er den ersten Baustellentermin gehabt. Nichts Besonderes, bis auf diesen Wladimir.

Wladimir. Klang russisch. Russen gab es derzeit etliche in Baden-Baden. Sie überfluteten die Stadt seit ein paar Jahren und kauften alles, was ihnen in die Hände fiel, Pelzmäntel, Juwelen, die prächtigsten Villen und Hotels. Immobilien über zwei Millionen gingen in erster Linie an sie, sagte man. Arztpraxen, Kosmetikstudios, Nobelgeschäfte und Restaurants der Stadt hatten Schilder in ihren Auslagen, dass man Russisch sprach. Von außen betrachtet kamen diese Leute tatsächlich in erster Linie nach Baden-Baden, um sich verwöhnen und medizinisch versorgen zu lassen. Die Kollegen aus den Dezernaten Organisierte Kriminalität, Betrug und Geldwäsche hielten Augen und Ohren offen, doch ohne Ergebnis. Reich zu sein war kein Verbrechen. Aber er würde zu gern wissen, woher das Geld stammte, das sie mit vollen Händen ausgaben.

Hier nun lagen drei Millionen in bar, dazu kam eine Verabredung mit einem Russen. Gottliebs Jagdeifer erwachte. Stück für Stück, Millimeter für Millimeter ging er das Hotelzimmer durch. Schubladen, Schränke, Jackentaschen. Er sah unter dem Bett, unter der Matratze, in Lampenschirmen, hinter Vorhängen und unter den Teppichen nach. Das Einzige, was er fand, war ein Notizblock neben dem Telefon, auf dem sich ein Wort durchgedrückt hatte: »Pagenhardt«, daneben mehrere Ausrufezeichen. Aber stammte die Notiz von Wittemann oder vom Vorbewohner der Suite? Und was sollte der Name bedeuten?

Kurz vor Mitternacht verließ er das Zimmer. An der Rezeption half man ihm mit dem Safe, dann öffnete ihm ein blass aussehender Angestellter den Pool-Bereich. Hier war alles blank geputzt. Man hatte, wie er erfuhr, noch während man auf den Notarzt wartete, mit der Reinigung begonnen. Glasscherben mussten sofort beseitigt werden, hieß es. Wahrscheinlich war dem Mann ein Glas mit Champagner aus der Hand gerutscht. Oder ein Glas Whisky, den schien er ja zu lieben. Gottlieb hasste es, auf Vermutungen angewiesen zu sein.

»Wer hat das mit der Reinigung veranlasst?«, blaffte er verärgert.

Der Angestellte zog unsicher die Schultern hoch. »Der Kollege, der heute Dienst hatte. Sie können ihm keinen Vorwurf machen. Ein Gast kippt um, Scherben liegen im Poolbereich, wo man barfuß läuft. Das wäre nach Erster Hilfe und Alarmierung des Notarztes zwangsläufig das Nächste, was ich auch getan hätte.«

»Ich hätte gern den Namen.«

»Robert Oser. Eine Aushilfe. Sehr tüchtig.«

»Adresse und Telefonnummer?«

Der Mann sah zur Uhr und zog die Augenbrauen hoch, eilte aber davon und kam mit den gewünschten Informationen zurück, die er auf eine Karteikarte geschrieben hatte. »Sie können ihn morgen früh sprechen. Er hat ab sieben Dienst.«

Gottlieb ignorierte den Einwand, tippte die Telefonnummer in sein Handy und ließ es elfmal klingeln. Dann klappte er das Handy zu und steckte es missmutig in die Hosentasche zurück.

Der Angestellte sah ihm neugierig zu. »Meinen Sie, es steckt mehr dahinter als ein Herzanfall?«

»Genau das will ich herausfinden.«

Gottlieb musterte nachdenklich den Arbeitsplatz Osers, auf dem ein Monitor stand, mit dem man den gesamten Schwimmbadbereich im oberen Stockwerk überblicken konnte. Er ärgerte sich, dass er den Mann nicht erreichen konnte. Immerhin ein möglicher Augenzeuge, auch wenn Wittemann zum Zeitpunkt seines Todes angeblich allein gewesen war.

Er stieg die Treppe hoch, blieb auf der obersten Stufe stehen und blickte über die glatte Wasseroberfläche. Allmählich bekam er Zweifel, ob Abwarten wirklich richtig war. Diese drei Millionen ließen vermuten, dass Wittemann möglicherweise in eine Straftat verwickelt gewesen war. Sollte er besser doch die Ermittlungsmaschinerie anwerfen und das große Programm fahren? Machte er einen gewaltigen Fehler, wenn er es nicht tat? Oder hatten Notarzt und Krankenhaus recht, wenn sie auf natürlichen Tod tippten? Ärzte irrten sich beim Ausfüllen des Totenscheins häufig, viel zu oft eigentlich. Das wusste er doch. Warum also zögerte er? Er konnte es sich nicht erklären. Drei Millionen und ein Todesfall waren doch wahrlich sonderbar genug!

Er sah auf seine Armbanduhr. Nach Mitternacht. Hier in diesem porentief reinen Poolbereich würde wahrscheinlich niemand mehr eine Spur finden. Er würde das Areal vorsorglich sperren lassen, und morgen, wenn er mit dem Poolangestellten, dem Notarzt und dem Facharzt persönlich gesprochen hatte, würde er neu entscheiden.

Er machte einen Schritt nach vorn, doch der Angestellte, der ihn begleitet hatte, hielt ihn zurück.

»Nicht mit Straßenschuhen, bitte. Moment, ich hole Ihnen etwas.«

Geduldig wartete er, bis der Mann mit rotem Kopf zurückkam.

»Tut mir leid, Herr Kommissar, ich habe die Überzieher nicht gefunden. Aber nehmen Sie bitte das hier.«

Grinsend streifte Gottlieb sich die Teile über und war froh, dass niemand ihn sah. Das wäre ein Fest für die Kollegen: der Chef mit Badehauben an den Füßen! Nur die Spurensicherer würden sich ehrlich darüber freuen.

»Veranlassen Sie bitte, dass bis morgen früh niemand mehr diesen Bereich oder Herrn Wittemanns Zimmer betritt«, ordnete er an.

Der Angestellte nahm Haltung an. »Brauchen Sie sonst noch etwas?«

Gottlieb schüttelte den Kopf und ging nach vorn an die Glasfront, an der mehrere Ruheliegen standen.

»Sie können das Licht ausmachen«, rief er dem jungen Mann nach. »Ich finde dann schon hinaus.«

Die Lampen erloschen, und er starrte in die Dunkelheit, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Es war Halbmond. Die Bäume der Lichtentaler Allee standen schwarz und mächtig vor ihm. Kein Blatt regte sich. Es war immer noch heiß draußen, und die Hitze kroch fast ungefiltert durch die riesigen Fensterscheiben in diese Halle hinein. Sein Poloshirt klebte ihm feucht und heiß am Rücken. Mit möglichst steifem Oberkörper setzte er sich auf eine der Liegen. Kein Laut war zu hören. Es roch nach Sauberkeit, Ozon und frisch gewaschenen Handtüchern. Das Wasser stand still im Becken, die Wände aus rötlichem Marmor schienen im Dämmerlicht fast zu glühen, die weißen Säulen ragten schimmernd empor wie in einem antiken römischen Bad. Ein schöner Ort, um zu sterben, wenn das Schicksal wirklich wollte, dass einem die Stunde schlug.

War es so gewesen? Schicksal? Ein Stolpern des Herzens, ein Erschrecken und Exitus? Fünfundfünfzig – das war doch kein Alter! Wittemann war nur ein Jahr älter gewesen als er selbst! Konnte es wirklich so schnell gehen? Gottlieb tastete nach den Zigaretten in seiner Hemdtasche. Verdammt, er sollte wirklich aufhören. Wie oft hatte er es sich schon vorgenommen. Vielleicht konnte er das Schicksal dadurch gnädiger stimmen? Sein Verstand sagte ihm schon lange, dass er sein Leben dringend ändern musste. Aber kein Nikotin, kein Rotwein und keine Hamburger, stattdessen Muskelkater, Körnerbrötchen und Schlaflosigkeit? Nicht sehr verlockend.

Energisch verdrängte er die Gedanken und zwang sich, noch einmal durchzugehen, was er über Wittemann und die Umstände seines Ablebens wusste, doch er kam nicht weit.

Drei Millionen, drei Millionen, hämmerte es in seinem Kopf.

Er rutschte tiefer in die Liege. Die Augen fielen ihm zu.

Und da war dieses Bild wieder: seine Mutter am Fuße der Kellertreppe, die Glieder verdreht, der Kopf in einer schwarzen Blutlache, Opfer eines unbekannten Einbrechers. Er hatte sie nach der Schule gefunden. Damals war er zehn gewesen. Entsetzen und Hilflosigkeit, aber auch Wut, weil die Polizei den Täter niemals fand, hatten sein weiteres Leben geprägt. Er hatte es besser machen wollen, hatte ein guter Polizist werden wollen. War es also richtig, dass er zögerte, ein Ermittlungsverfahren in Gang zu setzen, anstatt es den Experten zu überlassen, versteckte Hinweise und Spuren zu finden und zu deuten? Ach verdammt, die Sache hörte sich, bis auf das Geld, immer noch viel zu harmlos an. Aber um sein Gewissen zu beruhigen, holte er noch einmal sein Handy heraus.

Mord im Grandhotel

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