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ZWEI

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Marie-Luise Campenhausen genoss das Treiben in der Kaminhalle wie ein junges Mädchen. Solange sie denken konnte, war Brenners Parkhotel Baden-Badens allererste Adresse. Früher hatte sie sich manchmal gewünscht, in einer anderen Stadt zu leben, denn dann hätte sie genau hier ihre Urlaube verlebt. Doch sie wohnte nur wenige Meter entfernt, da war ein solcher Gedanke eigentlich ein wenig – nun ja – töricht.

Leider war selbst an einem Ort wie diesem nicht mehr alles so, wie es einmal gewesen war. Im Kamin zum Beispiel hatte früher echtes Holz geknistert und einen unvergleichlichen Geruch verbreitet. Heute war das Flammenspiel zwar immer noch stilvoll, aber aus Gas gespeist. Früher war dies eine große, weitläufige Halle gewesen, heute ein eher intimer Salon. Aber den Geist des Hauses hatte man bei all den Modernisierungen erhalten, und darauf kam es an.

Entzückt schloss sie die Augen, als Hauspianist Frederico di Giorgio auf dem Flügel einen Evergreen anstimmte. »A kiss is still a kiss«, summte sie insgeheim mit. Passte diese altmodische Melodie nicht großartig zu einer alten Dame in einem altehrwürdigen Grandhotel? Ach, wie sie die Besuche in dieses Haus jedes Jahr genoss! Raphael hatte alles wieder genauso arrangiert wie immer. Das war ja schon wie beim »Dinner for one«, dachte sie und kicherte unhörbar in sich hinein: Nur die Anzahl der Gäste war eine andere als in der berühmtem Vorlage.

Sie war sehr froh, dass das ungezogene, vorlaute, viel zu junge Fräulein Kuhn ihr dieses Mal nicht die Laune verderben würde. Eine Person ohne Benimm. Sie unterbrach Gespräche, feilte sich zwischen den Gängen bei Tisch die Nägel, behängte sich mit zu protzigem Schmuck zur unpassenden Tageszeit, benutzte ein aufdringlich süßes Parfüm und trug unanständig tiefe Ausschnitte. Wahrscheinlich war das sowieso nur etwas Sexuelles zwischen den beiden gewesen; ein Mann Mitte fünfzig brauchte das vermutlich.

Eigentlich hatte Marie-Luise vorgehabt, diesmal ihre Vorbehalte herunterzuschlucken und dieser unmöglichen Frau so gut es ging entgegenzukommen. Immerhin waren die beiden nun schon sechs Jahre zusammen, da war kühle Reserviertheit vielleicht nicht mehr angebracht. Doch dann hatte sie vorgestern ausgerechnet dem Badischen Morgen entnehmen müssen, dass die beiden am zweiten Oktober heiraten wollten. Unerhört, dass die eigene Tante eine solche Nachricht aus der Zeitung erfuhr! Sie hatte Raphael sofort die Meinung sagen wollen, aber dann hatte sie es sich gerade noch rechtzeitig überlegt, den ersten Zorn heruntergeschluckt und eine Nacht darüber geschlafen. Gestern hatte sie ihn nicht erreichen können, und so hatte sie die Aussprache auf heute Nachmittag verschoben.

Und jetzt war plötzlich alles anders, aus und vorbei. Raphael hatte die Lippen zusammengepresst und ihr das Wort abgeschnitten.

»Wir sind nicht mehr verlobt.«

Mehr sagte er zu dem Thema nicht. Und sie würde sich hüten, den Namen Sina Kuhn noch einmal in den Mund zu nehmen. Die Lektion hatte sie vor sechs Jahren gelernt, als er sich ausgerechnet einen Monat vor der Silberhochzeit von der stillen, zarten Nicole scheiden ließ und deren Name ab diesem Tag tabu war. Wenig später war Fräulein Kuhn aufgetaucht, wie ein kleiner Springteufel aus der Schachtel. Vermutlich war sie an dem ganzen Schlamassel schuld gewesen.

Marie-Luise seufzte bei dem Gedanken an Nicole. Armes Ding! Erst gestern hatte sie mit ihr in ihrem zauberhaften romantischen Garten gesessen, auf einer halb morschen blauen Holzbank, mit Nicoles kleinem schwarzen Kater Tommi auf dem Schoß. Sie hatte den Bienen und Vögeln gelauscht, Schmetterlinge beobachtet, den Duft von Rosen eingeatmet und dem Frieden nachgespürt, der sich in dem großen Garten hinter dem kleinen alten Holzhaus erstreckte. Eine himmlische Ruhe, obwohl das Grundstück fast mitten im alten Ortskern lag. Seit drei Jahren lebte Nicole wieder in Bühl, bei ihrer kranken Mutter, und sie schien deren Kräuterstübchen trotz aller Umstände gern weiterzuführen.

Nicole neben ihr war barfuß gewesen. Mit den offenen hellblonden Haaren und dem mädchenhaften Blümchenkleid hatte sie wie eine Elfe ausgesehen.

Als Joseph sich schließlich von drinnen bemerkbar machte und zum Aufbruch drängte, hatte sie mit Nicole noch den üblichen Rundgang gemacht, durch den Rosengarten zum Gartenteich, durch einen über und über mit rosa Blüten überwucherten Rosenbogen in den durch hohe Hainbuchen abgetrennten Kräutergarten, in dem, von niedrigen Buchshecken umgeben, die unterschiedlichsten Gewürz- und Heilpflanzen wuchsen, und dann an einem frisch umgegrabenen, mit einem gravierten Stein bestückten Beet vorbei zurück zum Haus.

Zum Abschied hatte Nicole ihr das Päckchen in die Hand gedrückt, das überraschend klein gewesen war.

»Der Rest kommt nächste Woche«, hatte sie geflüstert, und dabei waren ihr Tränen in die Augen geschossen.

Die Arme, die Trennung ging ihr also immer noch nahe.

Erstaunt sah Marie-Luise auf ihre zierliche Armbanduhr. Gleich sieben! Wie hatte die Zeit nur so verfliegen können! Raphael konnte jeden Augenblick kommen.

Ah, und da war Joseph auch schon! Heller Anzug, Fliege und zwei Rosen in der Hand, eine rot, eine gelb, bestimmt für sie und dieses Fräulein Kuhn. Ein vornehmer, stattlicher Herr! Leider besaßen weder er noch sie selbst ein Handy, und so hatte sie ihn nicht mehr rechtzeitig von der neuen Wendung in der Tischordnung unterrichten können.

Joseph machte eine kleine bedauernde Handbewegung, als sie ihm von der geplatzten Verlobung berichtete. Dann reichte er ihr lächelnd beide Rosen und bot ihr seinen Arm an. Sie schlenderten zum Speisesaal. Raphael musste ja jede Minute hier sein. Er war zwar ziemlich sparsam und eitel, aber eines war er gewiss nicht: unpünktlich. Voller Vorfreude auf den Abend ließ sich Marie-Luise zum reservierten Tisch geleiten, derselbe wie seit dreißig Jahren, direkt an der großen Fensterfront.

Sie setzte sich und lächelte Joseph zu.

»Du wirst ihn mögen«, sagte sie und berührte seine Hand. »Raphael wirkt vielleicht auf den ersten Blick etwas grob. Er hat viel von seinem verstorbenen Vater, dem Bruder meines lieben Willi. Aber wenn du hinter sein Gehabe siehst, wirst du einen netten, hilfsbereiten Menschen entdecken. Seltsam, dass er noch nicht da ist.«

Sie klopfte auf ihre Uhr. Fünf Minuten zu spät. Das sah ihm gar nicht ähnlich.

Um die Wartezeit zu überbrücken, bestellten sie Mineralwasser und vertieften sich in die Speisekarte. Hummer mit Avocado, Stubenkükenbrüstchen mit Flusskrebsen, Steinbutt mit Champagnersauce, Rehrücken an Pfeffer-Gewürzsauce ...

Marie-Luises Magen meldete sich, und sie versuchte sich abzulenken, indem sie Joseph von ihrem Nachmittag mit ihrem Neffen erzählte. Sie waren in ihrem alten Auto über die Schwarzwaldhochstraße gefahren, und sie hatte sich Jahrzehnte zurückversetzt gefühlt.

»Ein weinroter Mercedes 170 S, Baujahr 1950«, schwärmte sie. »Willi hat mich damit zur Hochzeit abgeholt. Ich weiß noch heute, wie es gerochen hat: nach Holz und Leder und Benzin. Willi hatte das Radio angemacht, und es kam ›Der lachende Vagabund‹. Wie war ich glücklich!« Sie sah aus dem Fenster zur angrenzenden Parkanlage der Lichtentaler Allee, dann wieder zu Joseph, der ebenso versonnen lächelte. Wahrscheinlich dachte er gerade an seine eigene Hochzeit und seine ebenfalls verstorbene Frau.

»1975 haben wir Raphael den Wagen anvertraut, und er liebt das Auto genauso wie ich. Seit 1976 kommt er jedes Jahr Mitte Juli zum Oldtimer-Treffen. Er hat am 16. Juli Geburtstag. Das lässt sich gut verbinden, und neuerdings geht er während der Zeit auch gleich zum Gesundheits-Check, wie das heute heißt«, fuhr Marie-Luise fort, aber so ganz war sie nicht bei der Sache.

Auch Joseph sah auf die Uhr, dann zur Tür. Gleich halb acht, und immer noch keine Spur von Raphael. Das war sehr merkwürdig. Vielleicht ein wichtiges geschäftliches Telefonat? Aber an einem Sonntag?

»Wir nehmen schon den Aperitif«, beschloss Marie-Luise. »Wie wäre es mit einem kleinen Sherry?«

Irgendwann fiel ihnen kein Gesprächsstoff mehr ein, weil sie immer ungeduldiger auf die Hauptperson warteten. Schließlich hielt es Marie-Luise nicht mehr aus. Es war Viertel vor acht, und sie hatte nur noch eine Erklärung für sein Ausbleiben. Sie winkte den Ober herbei. »Lassen Sie bitte das Zimmer meines Neffen anrufen. Wittemann, Raphael Wittemann. Wahrscheinlich hat er sich kurz hingelegt und ist eingenickt.«

Der Ober verbeugte sich formvollendet und entschwand.

Irgendwo waren Martinshörner zu hören. Im Saal erklang leise Klaviermusik. Ein Kellner zündete die Kerze auf ihrem Tisch an.

Joseph und Marie-Luise sahen sich ratlos an. »Ich verstehe das nicht«, murmelte Marie-Luise. »Er ist immer pünktlich.«

Nach weiteren endlosen Minuten erschien der Ober wieder, gefolgt vom Direktor des Hotels, Frank Marrenbach. Marie-Luise kannte ihn vom Sehen, aber nie hatte er so ernst geblickt wie jetzt. Ihr Herz stolperte.

»Sie sind die Tante von Herrn Raphael Wittemann aus Frankfurt?«

Marie-Luise konnte nicht einmal nicken. Sie tastete nach Josephs Hand. Angstvoll blickte sie dem Hoteldirektor ins Gesicht, denn sie ahnte schon, dass er keine gute Nachricht für sie hatte.

»Ihr Neffe hatte in unserem Pool-Bereich einen Unfall«, begann Marrenbach vorsichtig. »Der Notarzt hat ihn in die Stadtklinik transportieren lassen. Sicherlich wollen Sie ihm ein paar Sachen bringen. Hier ist der Schlüssel für sein Zimmer. Wir werden es ihm selbstverständlich für die nächsten Tage frei halten.«

Marie-Luise blieb auf ihrem Stuhl sitzen. Sie wusste, dass sie jetzt etwas antworten sollte, dass sie handeln musste. Aber sie konnte nicht. Tausend Szenen gingen ihr durch den Kopf. Raphael als Baby. Raphael in den Schulferien. Seine Miene, als er den alten Mercedes geschenkt bekam. Raphael bei seiner Hochzeit, dann als Stütze auf Willis Beerdigung, später als witziger Höhepunkt ihres siebzigsten Geburtstags. Ein gut aussehender, erfolgreicher, dynamischer und gesunder Mann in den besten Jahren! Es konnte nichts Ernstes sein!

»Was ist denn passiert?«

»Das Herz, meint der Notarzt. Es sieht nicht gut aus.«

»Herz?«, echote Marie-Luise. »Das kann doch nicht sein. Sein Herz war vollkommen in Ordnung, das hat er mir heute Nachmittag noch gesagt.«

Marrenbach behielt seine dezent freundlich-besorgte Miene bei. Er wartete geduldig darauf, dass sie sich fing und aufstand. Aber sie konnte nicht. Niemals würde sie ihre weichen Beine dazu überreden können, sie aus dem Saal in Raphaels Hotelzimmer zu tragen. Aber sie musste. Er hatte doch sonst niemanden.

»Frau Kuhn ist leider außer Haus. Wir haben ihr eine Nachricht auf ihrem Zimmer hinterlassen.«

Marie-Luise fand es zwar sonderbar, dass diese Person trotz der aufgelösten Verlobung immer noch im selben Hotel, wenn auch in einem eigenen Zimmer wohnte, aber sie war viel zu durcheinander, um sich weiter darüber Gedanken zu machen.

»Wo ... wo ist Raphaels Zimmer?«, brachte sie heraus und stemmte sich mühsam aus dem Stuhl hoch. Tatsächlich, die Füße gehorchten ihr. In Krisenzeiten war sie immer stark gewesen. Das hatte schon ihrem Willi imponiert. Auch Joseph hatte plötzlich diesen bewundernden Zug im Gesicht. Er machte eine Bewegung, als wollte er sie stützen, und das brachte sie wieder zur Besinnung.

»Hol doch bitte den Wagen und warte vor dem Eingang. Ich bin gleich da«, bat sie ihn und folgte dem Hotelchef mit wackligen Knien durch eine Halle und einen schier endlosen Gang. Endlich blieb Marrenbach stehen und schloss auf, gab ihr den Schlüssel und entfernte sich rücksichtsvoll.

Überrascht blieb Marie-Luise an der Tür stehen. Raphael hatte eine geräumige Juniorsuite gemietet. Das hätte sie bei seiner Sparsamkeit nicht erwartet. Nun, wahrscheinlich hatte Fräulein Kuhn ihn dazu überredet.

Was würde er im Krankenhaus brauchen? Er war am Pool zusammengebrochen, wenn sie den Direktor richtig verstanden hatte. Also Nachtwäsche, Unterhosen, Socken, Hemd und Hose. Sie legte alles aufs Bett. Viel war es nicht. Der Koffer dort in der Ecke war für das kleine Häufchen entschieden zu groß. Im Schrank hatte sie eine Sporttasche gesehen, genau das Richtige. Als sie sie herauszog, wunderte sie sich, wie schwer sie war. Hatte er etwa Bücher dabei? Das sah ihm gar nicht ähnlich, leider.

Langsam zog sie den Reißverschluss auf, und ohne es zu wollen entfuhr ihr ein schriller Schrei. Ungläubig öffnete sie die Tasche weiter und griff mit beiden Händen hinein. Geld! Die ganze Tasche war voll damit. Dutzende von Geldbündeln, alles Fünfhundert-Euro-Scheine.

Kraftlos setzte sie sich aufs Bett und begann mechanisch, die Bündel in Zehner-Stapel zu ordnen. Einhundert Scheine befanden sich in einem Bündel, sechzig Bündel lagen schließlich vor ihr. Das waren – das waren ja drei Millionen Euro!

Mord im Grandhotel

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