Читать книгу Mord im Grandhotel - Rita Hampp - Страница 9
FÜNF
Оглавление»Sie werden sehen, Ihr Kommissar wird nichts unternehmen«, seufzte Marie-Luise Campenhausen und zog und zerrte an ihrem hübschen Taschentuch mit der Häkelumrandung. Es war gleich zwei Uhr morgens, und ihre Gedanken bewegten sich nur noch bleiern in ihrem Kopf. Ihre junge Freundin hatte bis jetzt tapfer durchgehalten, und es hatte tatsächlich gutgetan, schier endlos über Raphael reden zu dürfen, über die Erinnerungen, zu denen keine neuen mehr hinzukommen würden. Sie hatte ihrer Mieterin Fotos gezeigt, Bilder, die er für sie in der Schule gemalt hatte, die Hochzeitsanzeige, einen Zeitungsausschnitt mit Bild von seiner ersten Teilnahme am Oldtimer-Treffen, bei dem er stolz in ihrem Mercedes vorgefahren war. Irgendwann hatte sie nicht mehr weitermachen können, es kamen keine Tränen mehr und keine Worte.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie daran gedacht, aufzugeben. Sich ins Bett zu legen und zu warten, bis die letzte Kraft sie verließ. Ihr war schwindelig geworden, und ein glühender Eisenring hatte sich um ihre Brust gelegt. Sie dachte daran, dass ausgerechnet heute Nachmittag in ihrer Abwesenheit die Seniorenresidenz Bellevue ihr auf dem Anrufbeantworter mitgeteilt hatte, dass soeben ein Zimmer frei geworden sei und sie auf der Warteliste ganz oben stehe. Sie könne sofort einziehen, wenn sie sich binnen zwei Wochen dazu entschließen könnte. Wie verlockend, alle Verantwortung abgeben zu können und sich ganz diesem unendlichen Schmerz über Raphaels Tod hingeben zu dürfen.
»Ganz bestimmt wird er ermitteln. Er ist ein guter Polizist!«, unterbrach Lea Weidenbach ihre Spirale in die Hoffnungslosigkeit.
»Ach Kind, wie denn, wenn die Ärzte sagen, es war das Herz? Ich mache ihm ja keinen Vorwurf.«
»Aber das Geld! Der Bruch der Verlobung! Wer weiß, was noch so alles ans Licht kommt.«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Was aber wäre, wenn ich mich in meinem Neffen getäuscht habe? Wenn er gar nicht der Goldschatz war, den ich in ihm immer hatte sehen wollen? Er war ja wie ein Sohn für mich. Wissen Sie, dass er auf den Tag neun Monate nach unserer Hochzeit geboren wurde? Ich habe das immer als besonderes Zeichen genommen und hatte deshalb dieses innige Verhältnis zu ihm. Obwohl ich ihn eigentlich nicht den anderen Neffen und Nichten aus meiner Linie hätte vorziehen dürfen.«
Marie-Luise beobachtete, wie ihre Hand zitterte, als sie die Tasse mit dem inzwischen kalten Tee anhob. Wollte sie überhaupt, dass der Tod aufgeklärt wurde? Wäre es nicht besser, ihre gute Erinnerung an Raphael zu bewahren? Aber dann ermahnte sie sich, sich zusammenzureißen.
Es würde ihr doch keine Ruhe lassen, solange sie nicht wusste, warum er hatte sterben müssen. Wenn zweifelsfrei feststand, dass es ein überraschender Herzanfall gewesen war, würde sie es akzeptieren, auch wenn Raphael nie etwas über Gesundheitsprobleme hatte fallen lassen. Schließlich verriet sie auch niemandem, dass ihr Herz ihr in letzter Zeit manchmal Angst einjagte. Wahrscheinlich hatte er seinen Zustand aus dem gleichen Grund verschwiegen wie sie: aus Furcht, das gewohnte aktive Leben dann einen Gang zurückfahren zu müssen. Wenn allerdings ein Fremder an seinem Tod schuld war, dann sollte er dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Und wenn die Polizei ihr nicht half, den Tod aufzuklären, musste es ihre Mieterin tun. Als Polizeireporterin hatte sie alle Möglichkeiten und den nötigen Sachverstand.
Marie-Luise ergriff die schmale, feste Hand ihrer Vertrauten. »Finden Sie heraus, was geschehen ist, bitte! Versprechen Sie mir das!«
Frau Weidenbachs Hand umschloss die ihre. »Gleich morgen früh fange ich an. Ich werde alles tun, um den Fall aufzuklären.«
Marie-Luise war beruhigt. Fall! Aufklären! Das hörte sich gut an. Wenn Lea Weidenbach die Sache übernahm, dann würde die Wahrheit herauskommen. Auch sie selbst würde natürlich ihr Möglichstes dazu beitragen. Aber erst einmal musste sie schlafen. Sie war unendlich müde!
Tief und traumlos war ihr Schlaf, eine Oase des Vergessens. Aber sobald die Sonne sie am frühen Morgen weckte, war das Wissen wieder da und kroch wie ein unheimliches Schattentier über die Bettdecke, immer näher, bis in ihr Herz: Raphael war tot.
Ein Brennen kratzte in ihren Augen. Sie stand auf, schlüpfte in ihren Morgenmantel und zwang sich, wie jeden Morgen die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen, Teewasser aufzusetzen, Brot zu schneiden, den Tisch zu decken. Das Radio ließ sie heute aus. Sie wollte weder Musik noch einen gut gelaunten Moderator hören. Viel tröstlicher war es da schon, wie Mienchen ihr mit einem leisen Maunzen hinterhergeschlichen kam. Das Tier hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte, hatte sich über alle Verbote hinweggesetzt und war heute Nacht in ihr Bett gekrochen und hatte ihr die Füße gewärmt, die trotz der draußen brütenden Hitze eiskalt gewesen waren.
»Gutes Mienchen«, summte Marie-Luise und füllte ihrer Katze das Schälchen.
Mit automatischen Bewegungen und ohne nachzudenken machte sie sich im Badezimmer zurecht und setzte sich dann an den Frühstückstisch. Vor ihren Augen verschwamm alles. Sie konnte nicht einmal die Überschriften in der Zeitung lesen. Krampfhaft versuchte sie, Haltung zu bewahren. Sie konnte jetzt den ganzen Tag heulen, doch davon würde Raphael nicht lebendig. Selbstmitleid wäre das, einer Campenhausen unwürdig.
Das Frühstücksbrot schmeckte wie Löschpapier, aber sie zwang sich, die ganze Scheibe zu essen. Routine hatte sie schon vor zweiundzwanzig Jahren davor bewahrt, in ein tiefes Loch zu fallen, als ihr geliebter Willi sie nach kurzer Krankheit verlassen hatte. Sie hatte seinen Tod überlebt, also würde sie auch Raphaels Dahinscheiden überstehen, obwohl das im Augenblick schwer vorstellbar war. Sie hatte an dem Jungen gehangen, auch wenn sie sich zuletzt sehr selten persönlich getroffen hatten.
Marie-Luise holte sich einen Schreibblock und begann aufzulisten, was heute zu erledigen war, was morgen, was übermorgen. Eine gute Übung, Trauer und mögliches Selbstmitleid in Schach zu halten, fand sie.
Wenig später ertappte sie sich, wie sie eine zweite Liste angefangen hatte. »Motive« lautete die Überschrift, und sie hatte »Geld«, »Neid«, »Rache«, »Eifersucht«, »Hass«, »Demütigung«, »Sex« aufgeschrieben. Nachdenklich besah sie sich die Aufzählung. Auf wen konnten solche Motive zutreffen? Was war Raphael eigentlich für ein Mensch gewesen? Hatte sie ihn überhaupt wirklich gekannt?
Jemand, der in der Baubranche in Frankfurt am Main so erfolgreich war wie er, musste doch ein unbeugsamer Geschäftsmann sein. Raphael hatte nie viel über seine Arbeit gesprochen. Manchmal hatte sie in der Zeitung gelesen, dass er wieder einen neuen Bürokomplex oder eine Wohnanlage fertiggestellt hatte. Konkurrenten könnten ihn aus dem Weg geräumt haben. Vielleicht hatte sich jemand betrogen gefühlt? Vielleicht hatte er jemandem ein großes Geschäft verdorben?
Vielleicht hatte sein Tod aber auch mit den drei Millionen Euro zu tun? Was hatte er mit der Geld in Baden-Baden anfangen wollen? Ein Objekt kaufen? Das ging nicht ohne Notar. Er hatte heute Mittag wieder abfahren wollen, dann hätte er also, da das Geld noch in seinem Besitz war, am Morgen einen Notartermin haben müssen. Das ließ sich nachprüfen! Wenn es einen solchen Termin gab, dann wäre sie wenigstens die Sorge los, er könne womöglich in eine illegale Transaktion verstrickt gewesen sein.
Aufgeregt suchte Marie-Luise die Telefonnummer des Grundbuchamts heraus.
»Herr Raphael Wittemann hatte heute Morgen einen Termin bei Ihnen, aber er wird ihn nicht einhalten können«, behauptete sie.
»Wittemann?«, hörte sie die Angestellte am anderen Ende des Telefons erstaunt sagen. »Moment.« Papier raschelte, ein Klicken war zu hören, dann wurde der Hörer abgedeckt, und nur noch gedämpftes Murmeln drang an ihr Ohr.
Sie wurde verbunden und musste noch einmal alles erklären. Dann stand fest, dass Raphael zumindest in Baden-Baden keinen Termin gehabt hatte. Marie-Luise sackte ein Stück in sich zusammen. Wofür sonst konnte er nur so viel Bargeld bei sich gehabt haben? Drei Millionen – da fielen ihr nur noch Schmiergeld oder Erpressung ein. Nein, nein, nein und noch mal nein. Sie las eindeutig zu viele Kriminalromane. Raphael war ein guter Junge. Er hatte Korruption nicht nötig, und er erpresste niemanden. So etwas tat er bestimmt nicht. Er hatte ein weiches Herz, auch wenn er sich nach außen manchmal grob und störrisch gab. Zuletzt hatte er es ja über sie persönlich bei Nicole bewiesen und noch nicht einmal zugelassen, dass die Arme wusste, wer dahintersteckte.
Bei dem Gedanken an Nicole fuhr Marie-Luise zusammen. Das arme Ding musste erfahren, was geschehen war, auch wenn sie seit Jahren geschieden waren. Außerdem wartete sie bestimmt, dass der Rest der vereinbarten Lieferung abgeholt wurde. Sie hatte sich schon gestern Nachmittag auf dem Anrufbeantworter gemeldet, jedoch nur ihren Namen und den Anfang eines Satzes hinterlassen. Dann hatte sie es sich offenbar anders überlegt und aufgelegt. Wahrscheinlich rechnete sie mit einem Rückruf, aber am Telefon wollte Marie-Luise ihr die traurige Nachricht nicht überbringen.
Am liebsten wäre sie sofort nach Bühl gefahren, doch so einfach war das leider nicht. Wie hatte sie nur so kurzsichtig sein können, an ihrem siebzigsten Geburtstag ihren Führerschein abzugeben. Nur wegen dieser zwei kleinen Beulen im Auto, liebe Güte! Welche Einschränkungen sie damit auf sich nahm, hatte sie ja erst hinterher gemerkt. Jetzt zum Beispiel: Es fuhr zwar ein Bus nach Bühl, aber allein die Worte Fahrplan und Haltestelle waren mit Hitze, Ungeduld und Trauer unvereinbar.
Würde sie ein Taxi nehmen, würde sie Joseph beleidigen, der sich immer bereit erklärte, sie zu chauffieren. Doch diesmal wäre sie lieber allein gefahren, ohne sich verpflichtet zu fühlen, ihn nicht warten zu lassen. Ach, solche Überlegungen waren natürlich Unsinn. Joseph würde alles für sie tun, das wusste sie doch. Sie war die große Abwechslung in seinem langweiligen Leben. Es machte ihm bestimmt nichts aus, sich für eine Stunde in Bühl die Zeit zu vertreiben. Sie war es nur nicht gewohnt, jemanden um einen Gefallen zu bitten.
Sorgenvoll begann sie, sich auf den Trauerbesuch vorzubereiten. Vor allem steckte sie ein frisches Taschentuch ein. Wie Nicole die Nachricht wohl aufnehmen würde? Und wie würde es ihr selbst dabei ergehen, sie zu überbringen?
*
Morgens um sieben sah die Spa-Abteilung angesichts des tragischen Ereignisses immer noch unangebracht romantisch und einladend aus. Oberstaatsanwalt Pahlke hatte in ihrem nächtlichen Telefonat mit Gottlieb übereingestimmt, dass es vorerst reichte, den Leichnam Wittemanns umgehend in die Rechtmedizin in Freiburg zu bringen. Dort würde man schon herausfinden, woran der Mann gestorben war. Bis dahin sollte Gottlieb im Alleingang mögliche Zeugen befragen und nach Anhaltspunkten für eine Straftat suchen.
Deshalb befand er sich also hier im Empfangsbereich des Untergeschosses, müde, ohne Frühstück, passend zum Notarzt, der gerade herbeieilte. Auch er sah übernächtigt und gehetzt aus, Bartstoppeln zeugten von einer langen Nacht und seinem Bedürfnis nach Kaffee und Schlaf. Der junge Mann, der für das Schwimmbad und die Reinigungsaktion am Vorabend verantwortlich gewesen war, stand ebenfalls bereit und wirkte nicht viel munterer.
Jetzt, wo er den müden Krieger vor sich sah, schluckte Gottlieb seinen Ärger herunter und nahm erst einmal die Personalien auf. Robert Oser, zwanzig Jahre, Ferienjob bis zum Studienbeginn.
»Ich habe versucht, Sie heute Nacht zu erreichen.«
Der junge Mann zappelte vor Verlegenheit und wich seinem Blick aus. An seinem Hals bildeten sich rote Flecken. Sofort kroch Gottlieb das berufsbedingte Misstrauen den Rücken herauf, gepaart allerdings mit Nachsicht, denn die Kleider des unrasierten Jungen rochen nach Kneipe, seine Haare nach sehr weiblichem blumigem Shampoo. Wahrscheinlich hatte er die Nacht bei einer Frau verbracht.
»Ich habe gerade erst gehört, dass der Gast von gestern Abend im Krankenhaus gestorben ist.«
Gottlieb betrachtete noch einmal den Monitor auf Osers Arbeitsplatz. Unbemerkt konnte hier wirklich niemand umgebracht werden.
»Was haben Sie gesehen? Wer war noch da oben?«
»Niemand. Der Gast war allein. Die Fensterfront war geschlossen, weil es draußen wesentlich heißer gewesen ist als innen. Die Fenster kann man von außen nicht öffnen.«
Gottlieb sah den kleinen Sherlock Holmes belustigt an. »Sehen Sie gern Krimis im Fernsehen?«
Der Junge nickte. »Ich ... ich werde Jura studieren.«
Jura, auch das noch. Gottlieb hatte eine leichte Aversion gegen Juristen. Die brachten Ärger, wo immer sie auftauchten: Staatsanwälte spielten sich als etwas Besseres auf, Rechtsanwälte versuchten, ihm Fallen zu stellen und ihn auszutricksen, und die Quereinsteiger, die an ihm vorbei in den höheren Dienst eintraten, waren die Schlimmsten, denn die wussten alles besser. Vorurteile, zugegeben, aber meistens trafen sie zu.
Jetzt also dieser unglückselige Bursche hier. Ein Streber noch dazu: Auf seinem Arbeitsplatz lag tatsächlich Fachlektüre über kriminalistisches Denken. Gottlieb schlug das Buch an einer x-beliebigen Stelle auf und musste gegen seinen Willen lachen. »Die Beseitigung von Spuren, irreführende erste Angaben über den Vorfall, aber auch die übertriebene Bereitwilligkeit, der Polizei zu helfen, sind verdächtig«, stand da.
Er beschloss, den Knaben vorerst in die positive Schublade zu stecken.
»Was haben Sie also beobachtet?«
»Der Gast hat sich eine Weile im Spiegel betrachtet. Dann, äh, dann habe ich ein paar Minuten nicht hingesehen, sondern, äh, einer Kollegin mit den Handtüchern geholfen. Als ich wieder auf den Monitor blickte, sah der Poolbereich für mich leer aus. Ich nahm an, dass der Gast unbemerkt gegangen war, aber dann habe ich seinen Bademantel auf der Bank entdeckt. Ich wollte ihn aufräumen und bin die Treppe hoch, und als ich halb oben war, habe ich gesehen, dass Glasscherben auf dem Boden lagen und sich unser Duschgel auf den Fliesen ausbreitete. Da habe ich Putzzeug geholt. Ich wollte nicht, dass das Zeug in den Pool kommt. Den Mann am Grund des Beckens habe ich bis dahin noch gar nicht gesehen.«
»Duschgel? Kein Champagner?«
»Spirit of Jaipur, aus unserer hauseigenen Kosmetikreihe. Dunkelrot, deshalb fiel es mir auf dem Marmorboden gleich auf. Ich habe mir vorgenommen, sofort Bericht zu machen, weil seit Kurzem Glas im Poolbereich verboten ist. Aber das Duschgel wird weiter in kleinen Flakons verkauft. Als ich oben war, habe ich erst gesehen, dass der Mann reglos im Pool lag. Ich habe ihn sofort herausgezogen und Wiederbelebungsversuche gemacht und meine Kollegin gerufen. Die hat gleich den Notarzt geholt, und der war im Handumdrehen da. Aber es war wohl doch zu spät. Wenn ich nur nicht ... Ich meine, das mit den Handtüchern hätte auch noch Zeit gehabt. Vielleicht würde er noch leben, wenn ich nicht ...«
Wieder diese roten Flecken am Hals. Allmählich vermutete Gottlieb, dass der junge Mann seiner Kollegin nicht ausschließlich bei den Handtüchern geholfen hatte.
»Der Name der Kollegin?«
Das Rot überschwemmte nun das gesamte Jungengesicht vom Hals bis zu den Ohren. »Claudia. Claudia Wegmann.« Seine Stimme kiekste.
Oho! Gottlieb hätte seine Zigaretten darauf verwettet, dass diese Dame die Besitzerin des süßlichen Shampoos war.
»Ist sie hier?«
Ein kurzes Nicken. »Soll ich …?«
»Später.«
Der Junge sah immer noch kreuzunglücklich aus, und Gottlieb bekam Mitleid mit dem armen Kerl.
»Nun machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie haben alles richtig gemacht. Sie sollen zwar ein Auge auf die Gäste haben, aber sie bestimmt nicht lückenlos überwachen. Was ist Ihnen aufgefallen, als Sie ihn herauszogen?«
»Ich ... ich weiß nicht. Ich habe keinen Puls gefühlt, er hat auf meine Wiederbelebungsversuche nicht reagiert. Er hat die Augenlider nicht bewegt, aber ich hatte das Gefühl, er starrte mich an, als bekäme er alles mit, und sei nur gelähmt. Unheimlich war das. Ich habe heute Nacht richtig schlecht geschlafen.«
Gottlieb dachte sich seinen Teil und verkniff sich ein Grinsen. Eine Mitschuld an der unruhigen Nacht trug sicherlich auch Kollegin Claudia.
»Wo sind die Putzlappen?«
»Die habe ich zusammen mit den Gummihandschuhen weggeworfen. Das rote Zeug ging beim Ausspülen nicht mehr raus.«
»Wo sind die Mülltonnen?«
»Heute ist Montag, die Müllabfuhr ist schon durch.«
Gottlieb sträubten sich die Nackenhaare. Verdammt. Vielleicht hatte er mit seiner unerklärlichen Unschlüssigkeit doch einen Fehler gemacht!
»Ist Ihnen vorher etwas aufgefallen, als er in den Poolbereich ging?«
»Nun ja ... ich musste ihn unterrichten, dass Sektgläser nicht mehr am Pool erlaubt sind. Er hat seinen Champagner deshalb hier unten ausgetrunken. Brauchen Sie das Glas? Ich habe es sichergestellt, als er ins Krankenhaus kam. Vorsichtshalber.« Oser zog eine Schublade auf und reichte Gottlieb stolz das Glas, das er in eine dieser Plastikhauben gewickelt hatte.
»Das war schon mal gut, Kollege«, lobte ihn Gottlieb und erntete einen dankbaren Blick und ein Geständnis: »Am liebsten würde ich zur Polizei gehen.«
»Tun Sie das! Tüchtige Männer können wir immer gebrauchen. Wie lange war der Bereich unbeaufsichtigt?«
Der Knabe wurde rot. »Äh, ich – ich habe meiner Kollegin kurz geholfen. Zwei Minuten. Vielleicht vier. Oder fünf.«
»Konnte jemand hereinkommen und Wittemann getötet haben?«
»Das hätte ich gehört. Ich war gleich da vorne.« Oser deutete auf eine Schwingtür und sah dabei aus, als würde er am liebsten im Boden versinken. Das bestärkte Gottliebs Vermutung, dass die beiden wahrlich nicht nur Handtücher gezählt hatten.
Der Notarzt mischte sich ein. »Getötet? Was soll das? Der Mann hatte weder ein Messer im Rücken noch Würgemale noch eine Schussverletzung noch Vergiftungserscheinungen. Brauchen Sie mich eigentlich noch? Ich habe in fünf Stunden wieder Dienst.«
»Woran ist er Ihrer Meinung nach gestorben?«
»Das sagte ich Ihnen gestern Abend doch schon. Plötzlicher Herztod. Jede Stunde sterben in Deutschland zehn Menschen daran. Ich habe sofort mit Defibrillation begonnen, aber ... leider. Ich habe gehofft, er würde es in der Klinik schaffen.«
»Was ist die Ursache von Herzversagen? Eine Vorerkrankung? Ich habe unterschiedliche Aussagen von Zeugen. Die eine berichtet, der Mann sei vollkommen gesund gewesen, die andere sagt, er habe über Herzprobleme und Nachtschweiß geklagt. Können Sie damit etwas anfangen?«
»Warten Sie doch bis zur Obduktion.«
»Wer weiß, wann ich das Ergebnis bekomme.«
»Oh, na ja. Hm. Haben Sie sein Zimmer durchsucht? Hatte er Herzmedikamente dabei?«
»Nur eine Packung Aspirin.«
»Tja. Dann weiß ich auch nicht. Fragen Sie den Hausarzt.«
»Später. Jetzt möchte ich Ihre Meinung! Sie waren bei ihm!«
»Sorry, ich kann nichts anderes sagen, als dass es das Herz war. Kollaps, Bewusstlosigkeit, Apnoe, also Atemstillstand, unwirksame Reanimation – wollen Sie noch mehr Details? Ich tippe auf Kammerflimmern. Auf jeden Fall gab es für mich keinen Anhaltspunkt für eine unnatürliche Todesursache. Kann ich jetzt?«
Missmutig ließ Gottlieb den Mann ziehen, nahm die Personalien von Osers wirklich sehr hübschen, jungen Kollegin auf, doch auch sie konnte nicht weiterhelfen. Wittemann war ihr kurz vor seinem Tod streitlustig, aber kerngesund erschienen.
Frustriert begab er sich zum Frühstückssalon. Gleich acht; er starb vor Hunger, und vielleicht traf er dort seine wohl wichtigste Zeugin.
Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als er den Anschlag mit den Angeboten des Büfetts überflog: Bratwürstchen, Speck, Lachs, Leberwurst, Schinken, Käse, Müsli und Eier in jeder erdenklichen Zubereitungsart.
Dummerweise fiel ihm genau jetzt sein nächtlicher Vorsatz ein. Also gut, dann vielleicht ein kleines Brötchen ohne Butter, nur mit einer dünnen Scheibe Schwarzwälder Schinken – das war doch nicht zu viel, oder? Summend wippte er auf den Zehenspitzen und lächelte dem Frühstückskellner schon voller Vorfreude zu, als er sah, was der kleine Spaß kosten sollte: fünfundzwanzig Euro! Das waren ja fünfzig Mark! Fast so viel wie ein Kistchen Trollinger!
Also Nulldiät. Seine Hand tastete zur Brusttasche, und er warf lediglich einen kurzen, kostenlosen Blick in den Raum. Nein, Sina Kuhn war nicht da. Natürlich nicht. Schöne Frauen standen niemals früh auf und sie frühstückten auch nicht.
Er ging zur Rezeption und ließ auf ihrem Zimmer anrufen, aber sie nahm nicht ab.
»Hatten Sie Samstag Dienst?«, fragte er die Dame an der Rezeption.
Deren freundliches Gesicht verschloss sich automatisch.
Er wedelte mit seinem Dienstausweis, doch das machte die Sache nicht besser. Die Dame griff zum Telefon. Wahrscheinlich wollte sie den Hoteldirektor anrufen. Der war zwar in der Nacht ausgesprochen hilfsbereit gewesen, aber bestimmt würde er morgens um acht keine größeren Befragungen zulassen, wenn nicht einmal feststand, ob es überhaupt Mord gewesen war. Gottlieb versuchte es mit einem harmlosen Lächeln und der ganzen Dienstgewalt in seiner Stimme.
»Es gab gestern einen Todesfall im Haus, das haben Sie sicher schon gehört.«
Die Dame nickte, sichtlich verunsichert.
»Frau Kuhn war mit dem Todesopfer zusammen angereist.«
Wieder ein Nicken.
»Warum bewohnt sie jetzt ein eigenes Zimmer. Gab es Streit?«
»Ich hole Herrn Marrenbach.«
»Mich interessiert nur der Zeitpunkt des Zimmerwechsels.«
Die Dame tippte etwas in den Computer, sah angestrengt auf den Bildschirm, dann sagte sie: »Sie hat am Samstag um vierzehn Uhr zehn in ihrem neuen Zimmer eingecheckt.«
»Hat sie einen Grund genannt?«
Die junge Frau lächelte mit einer Spur Unbehaglichkeit. »Was soll ich sagen ...«
»Die Wahrheit.«
»Nun, Herr Wittemann war kurz zuvor gekommen und hatte angeordnet, dass man ihr den Schlüssel der gemeinsamen Suite nicht aushändigen sollte. Eine sehr unangenehme Situation.«
»Hat er das Ersatzzimmer bestellt?«
»Nein. Frau Kuhn hat noch versucht, ihn durch die verschlossene Tür zur Rede zu stellen, bis der Etagenkellner eingriff. Dann kam sie mit ihrem Gepäck zur Rezeption und verlangte ein neues Zimmer.«
»Mit dem Gepäck? Bedeutet das, er hatte ihr die Koffer vor die Tür gestellt?«
Das Nicken war kaum mehr wahrnehmbar, als wäre es ihr Fehler gewesen.
»Geht das neue Zimmer auf eigene Rechnung?«
»Endgültig entscheidet sich das sowieso erst beim Auschecken. Manchmal gibt es private Spannungen, und oft erledigt sich das bis zur Abreise.«
Hinter Gottlieb räusperte sich jemand: ein bulliger Mann in einem schlecht sitzenden Anzug mit einer weiblichen Begleitung wie aus dem Mode- oder Kosmetikmagazin. Sie wechselten untereinander ein paar russisch klingende Worte, dann orderte der Mann in gebrochenem Deutsch einen Limousinenservice für sich und seine Frau. Die Rezeptionsdame erledigte es mit dem gleichen verbindlichen Lächeln, mit dem sie Gottlieb wenig später mit »Prevent«, der medizinischen Vorsorgeabteilung des Hauses in der gegenüberliegenden Residenz Turgenjew, verband und ihn bei Dr. Jaeger, dem zuständigen Arzt, anmeldete.
Gottlieb schätzte den Arzt auf Mitte fünfzig bis maximal Anfang sechzig; er war groß, schlank und kräftig und sah aus wie jemand, der durchtrainiert genug war, um direkt vom Schreibtisch aus zu einer Expedition an den Amazonas oder in den Himalaja aufzubrechen.
»Tot?«, wiederholte Dr. Jaeger betroffen und sah die Karteikarte des Patienten durch, die vor ihm lag, weil er gerade den ausführlichen Untersuchungsbericht geschrieben hatte.
Gottlieb ließ ihm Zeit, sich zu sammeln, und sah sich in dem luftigen hellen Sprechzimmer um. Auf dem Kirschholz-Schreibtisch stand das gerahmte Foto einer lustig wirkenden jungen Frau mit widerspenstigen blonden Locken und einem vielleicht vierjährigen blonden Lausbub.
»Tragisch«, sagte der Arzt langsam. »Dabei habe ich ihm letzte Woche noch geraten, in Frankfurt zu einem Kardiologen zu gehen.«
Er räusperte sich, stand auf und trat ans Fenster. »Ein Alptraum, wenn ein Patient kurz nach dem Check-up stirbt. Was immer die Todesursache war, ich habe sie letzte Woche bei der Vorsorge nicht erkannt. Keine lebensbedrohlichen Anzeichen. Nichts Akutes. Sonst hätte ich doch sofort geeignete Maßnahmen eingeleitet.« Er hob die Schultern. »Plötzlicher Herztod, sagen Sie? Tja. Da ist man machtlos. Nicht angenehm für den Arzt.«
Wieder schwieg er. Ganz offensichtlich machte er sich Vorwürfe, oder er ging den Fall im Geist noch einmal durch. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und blätterte in den Unterlagen.
Schließlich zog er das Modell eines Herzens, das auf dem Schreibtisch stand, heran und drehte es zu Gottlieb.
»Normalerweise schlägt das Herz hundertmal in der Minute. Beim Kammerflattern bis dreihundertmal und beim Kammerflimmern noch häufiger. In so einem Fall kreist die elektrische Erregung ständig im Herzmuskel, sodass ihm keine Ruhepause gegönnt wird. Dann schlägt, eher müsste es heißen, zuckt das Herz teilweise mehr als fünfhundertmal in der Minute, unkoordiniert. Das Blut wird nicht mehr weitergepumpt. Man nennt diesen Zustand auch funktionellen Herzstillstand. Etwa hunderttausend Menschen sterben in Deutschland jährlich daran.«
Hunderttausend? Gottlieb merkte, wie auch sein Herz plötzlich aussetzte, dann umso schneller schlug. Er bekam Angst. »Was ist die Ursache?«
»Es gibt verschiedene Herzkrankheiten, die mit diesen Extraschlägen einhergehen, die jederzeit ein solches Kammerflimmern auslösen können. Herzinfarkt, Herzschwäche und Herzmuskelentzündung. Ich habe bei Herrn Wittemann aber nur eine leichte Herzrhythmus-Störung festgestellt, gepaart mit Bluthochdruck.«
Jaeger lehnte sich zurück und schwieg eine Weile. »Ich habe ihm ein Rezept mitgegeben«, sagte er eher zu sich selbst.
»Es gab kein Rezept auf seinem Zimmer und kein Herzmittel. Nur Aspirin.«
»So habe ich ihn eingeschätzt. Er hat es nicht ernst genommen. Er hat nur das Wort ›leicht‹ gehört, und damit war der Fall für ihn erledigt. Er kommt regelmäßig zu mir, und dieses Jahr habe ich das zum ersten Mal festgestellt. Er war nie krank und hätte sich das auch nie gestattet. Er hatte zwar einen üblen chronischen Hautausschlag, aber daran stirbt man nicht. Was hätte ich tun können? Ich habe ihm ins Gewissen geredet, es nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Entscheiden muss der Patient dann aber selbst, ob er ein Rezept einlöst, ob er die Pillen schluckt und ob er zum Spezialisten geht. Im Pool ist er gestorben? Meine Güte!« Jaeger blickte auf das Foto. »Meine Frau und ich gönnen uns manchmal einen Nachmittag dort. Ein schöner Ort ...«
»Was geschieht, wenn dieses Kammerflimmern einsetzt?«
»Durch die ineffektive Herztätigkeit fällt man in eine Bewusstlosigkeit. Das Kammerflimmern verursacht ein Herz-Kreislauf-Versagen mit Atem- und Herzstillstand. Der Patient ist nicht ansprechbar, er reagiert nicht auf Schmerzreize. Seine Pupillen sind geweitet und starr. Wenn er nicht sofort behandelt wird, kommt es zum sogenannten plötzlichen Herztod.«
»Was kann man dagegen tun?«
»Man kann versuchen, ihm einen kräftigen Faustschlag auf die Brust zu versetzen. Oft hilft das. Wenn nicht, dann braucht der Patient sofort Elektroschock. Aber wirklich sofort. Daran hapert es meistens. In Deutschland überleben nur etwa drei bis acht Prozent der Betroffenen. In den USA sind es fünfzehn bis sechzig Prozent, dort sind an vielen Stellen Defibrillatoren öffentlich zugänglich. Das ist natürlich der Idealfall. Wenn im Poolbereich ein solches Gerät griffbereit gewesen wäre ...« Jaeger stockte. »Hier in der Praxis gibt es zwar eines. Aber das kann der Laie nicht bedienen. Wirklich tragisch.«
Gottlieb klappte seinen Notizblock zu. Wenn jetzt noch die Rechtsmedizin zum selben Ergebnis kam, war alles klar. Im Prinzip war der Fall schon halb bei den Akten. Wenn es da nicht die Sache mit den drei Millionen und die Verabredung mit dem Russen gäbe. Er stand auf und war froh, dass sich sein Herz wieder beruhigt hatte.
Jaeger blieb am Schreibtisch sitzen und sah grinsend zu ihm hoch. »Wie wäre es mit einem Termin bei mir? Ihnen zuliebe opfere ich auch ein Wochenende. Die Vorsorge sollte man alle zwei Jahre machen lassen, und bei Ihrem Beruf, gepaart mit Zigaretten, Wein und Fastfood ... da wäre das dringend zu empfehlen.«
Gottlieb erschrak. Zigaretten, Wein und Fastfood – woher wusste der Kerl das?
Jaegers Grinsen wurde breiter, und er erhob sich nun ebenfalls. »Herr Gottlieb, mir macht niemand was vor. Ich bin schon zu lange hier. Überlegen Sie es sich. Tut nicht weh. Und ich verbiete Ihnen nichts, was ich nicht unbedingt muss.«
Gottlieb musste ebenfalls lachen. »Okay, okay. Ich denk drüber nach. Vielleicht.«
Wieder auf der Straße, griff er automatisch zu den Zigaretten, zauderte jedoch, ob er sich wirklich eine anzünden sollte. Eigentlich war ihm die Lust am Rauchen schon halb vergangen. Aber dann verlor er den Kampf.