Читать книгу Tod am Piz Beverin - Rita Juon - Страница 10
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Samstag
Annamaria Hunger sass an der Nähmaschine, umgeben von einem hübschen, bunten Stoff mit Entenmuster. Sie freute sich darauf, aus diesem zwei gleiche Jäckchen für ihre zwei- und dreijährigen Enkeltöchter zu nähen, die auf dem Hof wohnten. Eine Weste für den etwas älteren Enkel plante sie ebenfalls, mit einem aufgenähten Traktor, aber dazu würde die Zeit heute nicht mehr reichen.
Toni betrat die Stube und streckte sich, um nach dem Mittagsschläfchen wieder in Schwung zu kommen. Jetzt noch den Nacken lockern, dann war er bereit. «So, dann schauen wir mal, wer heute alles eintrifft», sagte er voller Vorfreude. «Frank sagte gestern, er erwarte Gäste aus Deutschland, Österreich, Zürich und Graubünden. Bin gespannt, ob ich wieder richtig rate.»
Wieso wieder?, dachte Annamaria, meistens liegst du weit daneben.
«Obwohl … Wieder kann ich eigentlich nicht sagen, meistens liege ich weit daneben», bemerkte Toni. Er schenkte sich aus dem Krug, der auf dem Fenstersims stand, ein Glas Sirup ein.
«Ich stelle den Krug weg, dann hast du von der Nähmaschine aus freien Blick auf die Zufahrt», sagte Toni eifrig. Er war überzeugt, dass seine Frau eine wesentlich höhere Trefferquote hätte als er, wenn sie sich an seinem Gastspiel, wie er es nannte, beteiligen würde. Jeden Samstag bei schönem Wetter beobachtete er die Gäste, die im Berggasthaus eintrafen, um ein paar Tage oder eine Ferienwoche auf dem Glaspass zu verbringen; wandernd, Velo fahrend, Beeren pflückend,
Kristalle suchend, Motorradtouren unternehmend. Sie den spärlichen Angaben von Frank, dem Wirt, zuzuordnen, machte Spass. Toni war auf der Bank vor dem Fenster noch damit beschäftigt, es sich bequem zu machen, als seine Frau ihn blitzartig herumfahren liess.
«Schau», sagte Annamaria.
Er setzte sich kerzengerade auf die Bank und kniff die Augenbrauen zusammen, um die Ankunft des ersten Autos besser sehen zu können.
«Aha, eine Frau. Allein. Jung. Hübsch», kommentierte Toni.
Hübsch? Das siehst du doch gar nicht auf diese Distanz, dachte Annamaria.
«Diese Brille ist nichts mehr wert», wetterte Toni, «ich sehe kaum, ob sie hübsch ist oder nicht. Aber diese Beine! Donnerwetter.» Unwillkürlich streckte er seinen Rücken, als er beobachtete, wie die Frau zum Kofferraum ging, um eine grosse Reisetasche auszuladen. «Was macht denn eine junge Frau allein auf dem Glaspass? Bestimmt trifft sie hier jemanden und reist am Abend wieder ab.»
Annamaria schüttelte den Kopf, als sie den Faden verknüpfte. Kaum, mit so viel Gepäck.
«Nein, das kann nicht sein», überlegte Toni, «mit so viel Gepäck wird sie eine Weile bleiben. Ob sie wohl jemanden besuchen kommt?»
Ohne dass wir davon gehört haben? Annamaria hob zweifelnd die Augenbraue.
«Was jedoch unwahrscheinlich ist, denn dann wüsste seit Tagen das ganze Dorf Bescheid. Also weiter. Ob sie wohl bei Frank im Gasthaus arbeiten wird?»
Kurz vor dem Saisonende?
«Auch nicht besser. Die letzten paar Wochen der Sommersaison wird Frank es auch noch zusammen mit seinen bisherigen Helfern schaffen, wenn das bereits seit Monaten auf diese Weise funktioniert hat. Oh!», unterbrach er sich aufgeregt. «Jetzt schaut sie sich um. Soll ich ihr zuwinken? Wenn ich nur sähe, ob sie in unsere Richtung blickt. Ein herzerfreuender Anblick, solche Beine in so kurzen Hosen, braungebrannt und kerzengerade. Ob ich ihr die Tasche tragen soll?»
Mach dich nicht lächerlich, kommentierte Annamaria im Geiste, bis du oben an der Strasse bist, hat sie längst ausgepackt.
«Ach, das Alter! Bis ich die Strasse erreicht hätte, wäre sie längst im Gasthaus verschwunden. Ah, jetzt schaut sie aber wirklich zu uns!» Toni winkte der jungen Frau freudig zu, die sich rasch umwandte und den kurzen Anstieg zum Gasthaus in Angriff nahm.
«Die ist bestimmt aus einer deutschen Grossstadt», maulte Toni enttäuscht. «Sie hat bis anhin so viele schlechte Erfahrungen gemacht, dass sie ein freundliches Winken schon für aufdringlich hält. Ich tippe auf Berlin, Hannover oder Rostock. Sie studiert Geologie und hat vermögende Eltern, die ihr einen Studienurlaub in den Alpen finanzieren. Zu Hause hat sie einen Freund, der ihr …»
Der Rest ging im Rattern der Nähmaschine unter. Annamaria beendete die Naht und blickte kurz aus dem Fenster. Falsch, dachte sie. Das Fräulein hat einen schleppenden Gang, das liegt nicht nur am Gewicht der Tasche, da ist etwas, das sie bedrückt.
«Irgendwie fehlt der Tatendrang», sinnierte Toni. «Sie ist vielleicht doch nicht so unbelastet. Hat sie eine Prüfung nicht bestanden? Kranke Eltern? Annamaria, was denkst du?»
«Liebeskummer», antwortete Annamaria.
«Liebeskummer? Ja!», freute sich Toni, «ein ehemaliger Ossi hat sie sitzen gelassen!»
Wenn schon, wäre es ein Sohn von einem ehemaligen Ossi, korrigierte Annamaria für sich. Für eine Nord- oder Ostdeutsche ist sie aber zu zierlich.
«Gibt es überhaupt so kleine deutsche Frauen?», überlegte Toni. «Schöne Beine gibt es tatsächlich auch in Deutschland, aber im Übrigen stimmt die Machart einfach nicht. Graubünden? Macht eine Bündnerin allein Ferien auf dem Glaspass?»
Annamaria schüttelte den Kopf.
«Zürich!», rief Toni mit voller Überzeugung.
Bingo, dachte Annamaria und drückte aufs Pedal ihrer Maschine.
Sandra Studacher, die so eingehend beobachtete junge Frau, hatte ihre Klischeevorstellungen von einem Bergdorf erfüllt gesehen, als sie die Fraktion Ausserglas erreicht hatte. Jahrhunderte alte, dunkelbraun gebrannte Holzhäuser, Kühe, deren Glocken fröhlich bimmelten, Alpenrosen- und Beerenstauden, sogar kleine Wölkchen am blauen Himmel – alles war da. Einzig der Sonderling, der am Dorfeingang vor seinem Haus sass und Selbstgespräche führte, schien das Bild zu stören. Sandra fühlte sich stark an die obdachlosen Alkoholiker erinnert, die in Zürich-Oerlikon, wo sie wohnte, an den Bushaltestellen sassen und unverständliches Zeug brabbelten, zwischen den Knien eine Papiertüte, deren Inhalt leicht zu erraten und häufig auch zu riechen war. Beim Alten hier in Glas, dessen graublonder Bart bei seinem Gemurmel nach allen Richtungen tanzte wie Wäsche an der Leine, hatte sie zwar weder Tasche noch Flasche bemerkt, doch hatte er seinen Vorrat bestimmt hinter dem geöffneten Fenster in seinem Rücken gelagert, so dass er für den nächsten Schluck bloss den Arm auszustrecken brauchte. Allzu genau wollte sie es gar nicht wissen, vielmehr wandte sie sich dem Gasthaus zu, das vor ihr lag. Dort also würde sie die kommenden Tage verbringen.
Eine Woche Ferien auf dem Glaspass. So ein Mist. Sie liebte die Berge, das Wandern, das Biken. Ihren Freund hingegen liebte sie nicht mehr. Oder vielleicht doch? Oder vielleicht war er ihr Exfreund? Verdammter Mist.
Nach drei gemeinsamen Jahren standen sie nun vor der Trennung. Oder nach der Trennung? Vielleicht am ehesten im Trennungsprozess. Drei Jahre! Drei glückliche Jahre. Na ja, drei einigermassen glückliche Jahre, sicher drei nicht schlechte Jahre. Auf jeden Fall drei bequeme Jahre. Er war immer da, stand zur Verfügung für gemeinsame Ausflüge in die Berge, Ausgang in Zürich, Ferien in Alaska und zum Überstehen öder Familientreffen.
Und jetzt warf er ihr drei gemeinsame Jahre vor die Füsse, wie der gallische Häuptling seinen Schild Cäsar hingeschmettert hatte, und meldete sein Bedürfnis nach Abstand an. Ausgerechnet vor den Ferien, die sie eigentlich gemeinsam in den Bündner Bergen hatten verbringen wollen, in die sie nun aber notgedrungen allein aufgebrochen war. Verdammter … Sie wiederholte sich. Sie öffnete die Tür zum Gasthaus und wandte sich praktischeren Dingen zu.
Toni Hunger sass träge in der Sonne, längst nicht mehr kerzengerade. Die Tagesausflügler, die er unterdessen beobachtet hatte, weckten seine Neugier nur schwach. Unschwer teilte er sie seinen nicht vorurteilsfreien Kategorien zu, die sich immer wieder bestätigten und die Annamaria längst auswendig kannte. Er unterschied Wandervögel und Bereifte. In der ersten Gruppe begegnete er ehrgeizigen Angebern mit Verachtung, geniesserischen Naturliebhabern mit Offenheit und jungen Draufgängern sowohl mit Anerkennung als auch mit Sorge. Unter den Touristen, die den Glaspass mit Fahrzeugen heimsuchten, machte er zahlreiche Mountainbike- und Motorradfahrer aus sowie Ausflügler, die ein Reisecar auf den Glaspass gebracht hatte.
«Oh, die Beine!» Toni richtete sich behände auf und schüttelte seinen schläfrigen Dämmerzustand ab. Mit eingezogenem Bauch beobachtete er, wie die mutmassliche Zürcherin ein Mountainbike bestieg und die Zufahrt vom Berggasthaus herunterrollte. Offensichtlich musste sie die Einstellungen erst testen, sie schien sich eines der Räder, die im Gasthaus bereit standen, ausgeliehen zu haben. Toni freute sich an ihrem Anblick, während sie in seine Richtung fuhr, und liess ein triumphierendes «Hahaaa!» vernehmen, als sie direkt oberhalb seines Hauses vom Sattel stieg und dessen Höhe verstellte.
«Schau nur, Annamaria, was für ein erfreulicher Anblick!», röhrte Toni begeistert ins Hausinnere. Er begann zu winken und rief der jungen Dame zu: «Brauchen Sie Hilfe? Soll ich Werkzeug bringen?»
Die Radlerin zuckte zusammen. Sie stand rasch auf, schüttelte den Kopf in Tonis Richtung, schwang sich aufs Rad und fuhr eilig davon.
Mein lieber Mann, auf einen AHV-Bezüger scheint sie nicht erpicht zu sein, dachte Annamaria.
Sandra Studacher fluchte. Schon wieder dieser alte Spinner, und schon wieder war sie fast zu Tode erschrocken! Irgendetwas von Werkzeug hatte er gerufen. Als ob sie Werkzeug brauchen würde, um die Sattelhöhe einzustellen. Vermutlich hatte er in seinem Keller noch ein Militärvelo aus dem Aktivdienst stehen, eine Tonne schwer und mit nur einem Gang. Was wusste der von einem Mountainbike, er konnte doch nicht einmal das Wort aussprechen. Nie im Leben hätte sie sich eingestanden, dass sie sich weit mehr über sich selbst und ihre Ängstlichkeit ärgerte als über den Alten. Sie warf den Gedanken an ihn im Geiste über die Schulter. Das spöttische Grinsen ihres Beziehungspartners im Trennungsprozess, das sich vor ihr inneres Auge drängte, schmiss sie energisch hinterher. Entschlossen reckte sie die Nase in die Höhe und legte noch etwas Tempo zu auf der Hochebene, bevor sie sich genussvoll der Talfahrt über die enge Bergstrasse nach Obertschappina hinunter hingab.
«Dieses Hilfsangebot scheint bei der Radfahrerin nicht gut angekommen zu sein!» Vor Toni stand ein nicht mehr ganz junges Pärchen, dessen Herkunft Toni bei den ersten Worten der lächelnden Frau unschwer erraten konnte.
«Tatsächlich, ein Rat zum Rad war nicht willkommen.» Toni lachte die Österreicherin an und bedeutete den beiden, neben ihm auf der Bank Platz zu nehmen.
«Der Rat mit dem Gerat fürs Rad war wohl etwas unbeholfen …»
«Auch nicht schlimmer als dieses Wortspiel. Ä-Punkte weglassen gilt nicht! Gerat, also bitte. Mögt ihr einen Sirup?»
«Ja, gerne!»
Toni holte zwei Gläser und reichte sie den beiden Wanderern, die sich als Georg und Petra Steingruber vorstellten.
«Ja, Österreicher», bestätigte Petra Tonis Vermutung.
Treffer, dachte Toni, und schaute seine Frau triumphierend an.
Gemogelt, du hast sie sprechen gehört, antwortete Annamaria mit einem Blick.
Sandra Studacher war nach ihrer rasanten Abfahrt verschiedenen Alpwegen gefolgt, so dass sie in einem weiten Bogen über den Heinzenberg bis zur Obergmeind aufgestiegen war. Die kleine Siedlung bestand hauptsächlich aus Ferienhäusern, meist ehemaligen Bauernhäusern, und Touristenlagern und lag direkt an der Mittelstation der Skilifte, die ihre Zugseile über zurzeit noch grünbraune Hänge spannten. Eines der Restaurants hatte geöffnet. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts den Schweiss von der Stirn, als sie die Treppe zur Terrasse hinaufstieg.
«Herrlich ist es hier», sagte sie aus tiefster Seele zu der Frau und den beiden Kindern, die auf der Laube sassen. Die Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, schauten sie mit grossen Augen an.
Die Frau lächelte. «Ja, das ist es, nicht wahr?», antwortete sie.
Sandra setzte sich an den Tisch neben der kleinen Gruppe und begann zu plaudern.
Die Mädchen löffelten beide einen grossen Coupe mit viel Schlagrahm und schienen sich etwas über die Redseligkeit der Fremden zu wundern, wandten sich aber bald wieder ihrem Gespräch und Gekicher zu. Die Frau hingegen freute sich über die Gelegenheit zu einem Schwatz.
«Wo wohnen Sie in Glas?», fragte sie Sandra, nachdem diese ihren Ferienort genannt hatte.
«Im Berggasthaus Beverin. Kennen Sie es?»
«Aber ja. Wir wohnen auch dort.»
«Sie machen dort Ferien? Ich hätte gedacht, Sie seien einheimisch hier. Die Kinder sprechen doch Bündner Dialekt, oder nicht?»
«Wir wohnen in Chur. Die Kinder haben am Montag schulfrei, so habe ich sie eingeladen, drei Tage mit mir in Glas zu verbringen.»
«Ist eines der Mädels ihre Tochter?»
«Nein, ich habe keine Kinder. Jana ist die Tochter einer guten Freundin, Julia ist ihre Kameradin. Sie gehen zusammen zur Schule.» Die Mädchen nahmen keine Notiz davon, dass von ihnen die Rede war, sondern unterhielten sich angeregt über irgendwelche Grössen der Musikszene.
Bald duzten sich die beiden Frauen. Angela Oberhofer, erfuhr Sandra, arbeitete als Pflegerin im Kantonsspital in Chur, war Mitte vierzig und alleinstehend. Ansonsten sprach sie nicht gerne von sich, lieber von den Kindern, oder hörte Sandra zu. Bereitwillig erklärte sie ihr das Panorama und zeigte ihr einige bekannte Bergspitzen, die von der Obergmeind aus zu sehen waren.
«Die Fernsicht ist grandios», staunte Sandra.
«Ja, bei diesem Wetter ist die Sicht atemberaubend. Das liegt am Föhn. Wenn Südwind bläst, ist die Luft besonders klar und die Berge erscheinen einem viel näher als sonst.»
«Wenn das so ist, hoffe ich, dass der Föhn die ganze Woche aktiv ist, denn so lange bleibe ich hier.»
«Das wird kaum der Fall sein», dämpfte Angela ihre Hoffnungen. «Er bricht bald zusammen, danach wird es regnen.»
Genau dieselbe Auskunft hatte Toni Hunger seinen neuen österreichischen Bekannten gegeben, und genau wie Sandra Studacher waren diese in keiner Weise geneigt, sich mit dem Gedanken an schlechtes Wetter zu beschäftigen.
Petra Steingruber streckte die Beine, stöhnte wohlig und liess den Blick über die Hochebene schweifen. «Das Bächlein hier oben ist beneidenswert. Jung, fröhlich sprudelnd, unbelastet von Schmutz oder schlechten Erfahrungen. Es kommt mir vor wie ein junger Hund, voller Tatendrang und gespannt, was die Zukunft alles zu bieten hat. Der Fluss bei uns zu Hause hingegen ist alt, träge, eingeengt durch Dämme, mit wenig Hoffnung, dass die Zukunft noch Gutes bringen kann.»
Ihr Mann Georg widersprach. «Aus dir spricht eine, die das Landleben liebt. Der Fluss bei uns ist ein Städter! Er braucht kein sauberes Wasser, viel lieber ist ihm seines, das angereichert ist mit Erfahrungen, Erlebnissen, Eindrücken, die er alle auf Hunderten von Kilometern gesammelt hat. Er möchte nie wieder klein, einsam und unwissend hoch oben in den Bergen sein, gewürzt höchstens mit Kuhfladen und Hühnerpisse.»
Toni lachte. «Es sind aber genau die ersten Erfahrungen mit Kuhfladen und Hühnerpisse, die das Bächlein prägen. Der Fluss bei euch daheim hat auch so angefangen und führt die Erinnerung daran immer noch mit sich, angereichert mit allem anderen, was danach gefolgt ist. Wer weiss schon, ob er sich mit Wehmut oder mit Abscheu an die ersten Fäkalien erinnert.»
«Jedenfalls muss das Bächlein sich keine Gedanken über den Sinn seines Daseins machen», sinnierte Petra. «Von der Quelle an ist das Ziel bekannt, der Endpunkt der Reise ist das Meer.»
«Na, das ist ja nun auch keine bestimmtere Aussage, als dass der Endpunkt des Lebens der Tod ist», widersprach ihr Mann. «Meine liebe Petra, diese Aussage ist zu wenig differenziert. Entscheidend ist doch, womit man die Reise ausfüllt, die zwischen Quelle und Meer liegt.»
«Stimmt», lenkte Petra ein. «Genau betrachtet ist das Leben eines Flusslaufs unglaublich hart, denn von den Wassertropfen, die hier oben starten, erreicht wohl kein einziger das Meer. Sie werden lange vorher auf Felder verteilt, in Häuser geleitet, in Fabriken verarbeitet, werden verkocht, getrunken …»
«… finden sich wieder in Kuhfladen und Hühnerpisse …», warf Toni schmunzelnd ein.
«Genau! Die machen tausend Umwege, bevor sie ins Meer gelangen, wenn sie es überhaupt schaffen, die Wahrscheinlichkeit ist verschwindend klein. Die Wassertropfen hier oben müssten völlig hoffnungslos und deprimiert sein. Warum scheint dieses Bächlein nur so fröhlich?»
Das Schweigen, mit dem sich alle dieser Frage widmeten, wurde schliesslich von Annamaria gebrochen.
«Weil das Ziel der Himmel ist, nicht das Meer», sagte sie.
Georg und Petra musterten sie verblüfft.
«Das Ziel des Flusses mag das Meer sein», fuhr Annamaria fort. «Aber das Ziel jedes einzelnen Wassertropfens ist es, zu verdunsten und zum Himmel aufzusteigen.»
«Klug», bemerkte Georg.
«Überzeugend!», ergänzte Petra. «Der einzelne Tropfen braucht das Ziel des Flusses nicht zu erreichen, seine Bestimmung ist es, ein Stück des Weges mitzugehen und eine Zeitlang ein Teil des Ganzen zu sein.» Anerkennend betrachtete sie Annamaria, die ihr mit einem Lächeln in den Augen zunickte.
Die nachdenkliche Stille wurde unterbrochen durch einen spindeldürren Mann im Übergewand, der sich mit einem Besen in der Hand dem Haus näherte.
«Ciao, Pulit!», begrüsste ihn Toni. «Magst du auch einen Sirup?»
Der Mann strahlte. «Ja, Toni, gerne, Toni!» Er nickte eifrig. «Aber zuerst putze ich den Platz vor eurem Stall.»
«Danke, Pulit», sagte Annamaria, «und die Steinplatten vor der Haustür, die hätten es auch nötig!»
«Ja, Annamaria, gerne, Annamaria», antwortete der Dünne und ging eifrig hinüber zum Stall.
Erst am späteren Nachmittag entschloss sich Toni widerwillig, seinen Platz auf der Bank zu räumen. Es wurde kühl, die meisten Touristen machten sich auf den Heimweg oder hatten den Glaspass bereits verlassen.
Pulit hatte sich nach seiner Putzrunde zunächst zu ihm auf die Bank gesetzt, nicht ohne sie vorher sorgfältig abzuwischen, und ein wenig mit ihm geplaudert. Toni hatte sich erkundigt, ob er etwas brauche, er fahre Anfang der Woche nach Thusis, aber Pulit war ausgerüstet. Er lebte von den Eiern, die seine Hühner für ihn legten, und von Teigwaren. Angereichert wurde sein Speiseplan mit den Leckereien, die ihm die Dorfbewohner zusteckten, wenn er Hauseingänge, Vorplätze und Treppen putzte. Auf diese Weise verfügte er manchmal über Brot und Käse, hie und da bekam er Salsiz, Kuchen, Früchte oder auch eine Suppe zum Aufwärmen. Jetzt trank er in der Küche den Sirup, den ihm Annamaria reichte, und nahm dankbar ein grosses Stück Hefekranz entgegen.
Toni wollte sich gerade erheben und ebenfalls hineingehen, als ein Auto auf den Parkplatz fuhr. Interessiert beobachtete er die drei jungen Männer, die ausstiegen und offensichtlich heftig stritten. Aber so sehr sich Toni anstrengte, er konnte nicht verstehen, was sie sagten.
«Das müssen wohl die Deutschen sein, die Frank angekündigt hat», überlegte Toni. «Das sind vielleicht Streithähne! Ob sie enttäuscht sind von ihrem Feriendomizil? Haben sie ein Wellnesshotel mit Erlebnispark erwartet?» Er schaute amüsiert zu.
Schwungvoll landete eine Sporttasche im Schotter, von einem wütenden jungen Mann hingeschmissen. Die Autotür, die ein anderer heftig zuwarf, überstand den ruppigen Umgang ohne Schaden. Der Dritte stapfte so gereizt den Weg hinauf, dass Toni glaubte, seinen Kopf rauchen zu sehen.
«So, jetzt reicht’s aber!», murmelte Toni. «Ihr habt Ferien, Männer! Verschiebt doch euren Streit auf die Heimreise, dann habt ihr etwas von eurem Aufenthalt hier.»
«Die sind nicht sauber», sagte Pulit traurig, der unbemerkt neben Toni getreten war. «Sie sind schmutzig, haben böse Gedanken.»
«Ach, Pulit, wenn es so einfach wäre», bemerkte Toni. «Nicht wenige, die blitzsauber aussehen, haben Dreck am Stecken.»
«Sauber auszusehen reicht nicht. Sie müssen sauber sein. So wie du, Toni. Du bist sauber.»
«Ich, Pulit? Du machst dir keine Vorstellung, wie viele böswillige, hinterhältige Gedanken meinen Geist bevölkern! Nein, ich bin nicht sauber. Im Gegensatz zu Annamaria, sie ist sauber, so, wie du es verstehst. Aber ich selber habe Schmutzflecken, die sich nicht entfernen lassen.»
«Nein, Toni, du hast keine Schmutzflecken, du bist sauber. Aber die da oben, die sind nicht sauber, Toni, die nicht.» Er wischte die Bank ab, von der sich Toni erhoben hatte, und machte sich auf den Heimweg.
Auf der Terrasse des Gasthauses war es ruhig geworden. Einige der Hotelgäste sassen bei einem Aperitif, lauschten dem auffrischenden Wind und atmeten die Luft ein, die bereits einen Hauch von Herbst mitzuführen schien. An einem Tisch sass das Ehepaar Müller, das in Ausserglas ein Ferienhaus besass, sich aber häufig das Kochen ersparte und die gute Küche von Frank im Berggasthaus genoss. Zu Sandra Studacher hatten sich zwei junge Burschen, offenbar Italiener, gesellt, die es auf der Suche nach Arbeit für die Wintersaison nach Glas verschlagen hatte. Frank, der Wirt, konnte ihnen zwar keine Stelle anbieten, doch ein währschaftes Abendessen wollten sie sich nicht entgehen lassen. Mit sicherem Blick hatten sie zwei Plätze neben Sandra ausgewählt, der einzigen, darüber war sie sich rasch im Klaren, weiblichen Person unter vierzig weit und breit.
Tatsächlich war Tizianos Taxierung in diesem Sinn ausgefallen, wenn auch weit weniger diskret: Tolle Beine, hübsche Augen, zu grosse Nase, zu schmale Lippen, zu dünn, zu flachbrüstig, viel zu klein, besser als gar nichts. Rasch waren die drei ins Gespräch gekommen, das hauptsächlich von Tiziano bestritten wurde.
«Ich kenne die Berge gut, capisci», sagte Tiziano gerade. «Bei uns zu Hause gehen wir klettern, im Winter im Eis der Wasserfälle, oh, das ist meraviglioso, wunderschön.»
«Warst du tatsächlich einmal Eisklettern?», fragte Lorenzo, der ruhigere der beiden, ungläubig.
«Klar, weisst du nicht mehr, in Cortina d’Ampezzo!»
Lorenzo stimmte rasch zu, obwohl er genau wusste, dass Tiziano Cortina nur von den Skirennen im Fernseher kannte. Er hütete sich, weitere Fragen zu stellen, wusste er doch, dass Tiziano hemmungslos flunkerte, wenn es ihm in den Kram passte.
«Geht ihr morgen auf den Piz Beverin?», fragte Sandra. «Das müsste dann ja ein Leichtes sein für euch.»
«Wir gehen heute noch runter nach Thusis, wir schlafen dort bei einem Kollegen. Mit ihm gehen wir auf die Gasse heute Abend, kommst du mit? Es gibt einige Bars in Thusis, Chur ist auch nicht weit, oder Flims, Davos …»
«Nein, danke!», wehrte Sandra indigniert ab, was Tiziano weder erstaunte noch enttäuschte. Wenn er schon vorhatte, sich auszutoben diese Nacht, brauchte er sich nicht mit einer ausgemergelten Sportverrückten zu belasten, die womöglich um zwei Uhr bereits nach Hause wollte.
Ihr Geplänkel wurde unterbrochen von der Ankunft der letzten Übernachtungsgäste, der drei jungen Männer aus Deutschland, die Frank angekündigt hatte. Zwar befanden sie sich auf der Zufahrt ausser Sichtweite der Gruppe auf der Terrasse, nicht aber ausser Hörweite. Allem Anschein nach lieferten sie sich eine wütende Auseinandersetzung. Als sie schliesslich die Treppe heraufkamen, schwiegen sie, doch die gespannte Atmosphäre war beinahe mit Händen zu greifen. Die Gespräche waren verstummt, die Gäste musterten die Neuankömmlinge verstohlen. Frank hingegen begrüsste sie unbefangen und führte sie hinauf in ihr Zimmer.
Auf dem Polizeiposten in Thusis beschäftigte sich Walter Buess mit den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Er ordnete die Stapel neu, richtete einige Stifte parallel zum Rand der Schreibtischunterlage aus und liess sich sogar dazu hinreissen, mit einem Tuch über den Bildschirm zu wischen.
Endlich Freitag!, dachte er und summte vor sich hin. Eine ruhige Arbeitswoche neigte sich dem Ende zu, er freute sich auf ein ebenso ruhiges Wochenende. In der Einkaufstasche, die neben der Tür am Kleiderhaken hing, befanden sich eine grosse Schachtel mit Schokoriegeln (Aktion, plus zwanzig Prozent gratis), zwei neue CDs (Schottisch und Polka sowie Best of Tirol, letztere dreissig Prozent herabgesetzt), sowie ein Stapel neue Notenblätter: Schlager der 70er für Akkordeon (teuer, zum vollen Preis erstanden). Er wollte bis zum Feierabend in einer halben Stunde keine Stricke mehr verreissen, sondern sich mental auf die beiden freien Tage einstellen. Das gelang ihm für genau sechs Minuten. Dann wurde die Tür aufgerissen und seine Bürokollegin stürmte herein.
«Walterli, du fauler Kerl, bist du geistig schon im Wochenende?», fragte Meta Schäfer gut gelaunt.
«Schäferin, schone meine Nerven. Du bist der einzige Mensch hier, der bereits im Büro steht, bevor die Tür offen ist. Die Reihenfolge ist umgekehrt, begreifst du das nicht?»
«Du leidest unter verzögerter Wahrnehmung. Tritt häufig auf, wenn man gerade geschlafen hat.»
«Was du hier machst, nennt man versuchte Körperverletzung. Eines Tages werde ich einen Herzinfarkt erleiden, weil du mich so erschreckst.»
Meta liess sich in ihren Bürostuhl plumpsen, der den Angriff mit bemerkenswerter Lautlosigkeit ertrug.
Buess stöhnte. «Herrgott, schone wenigstens das Mobiliar, wenn es dir schon bei meinen Nerven nicht gelingt!», fluchte er.
Sie angelte einen Halbliter Cola unter dem Tisch hervor, öffnete den Schraubverschluss und trank direkt aus der Flasche. Dann räkelte sie sich wohlig. «Ah, thank God it’s Friday», sagte sie. «Das wird ein ruhiges Wochenende: Kein grosser Anlass in der Region, kein Feiertag, keine Hochsaison, wenig Verkehr auf den Strassen. Ich werde dreissig Stunden schlafen und dazwischen liegen. Und du? Ist Sidonia immer noch im Osten?»
«Ja, sie bleibt noch einige Wochen in Moldawien. Neben der Arbeit im Kinderheim hat sie ein Projekt angerissen, um Ausbildungsmöglichkeiten für junge Frauen zu schaffen. Das läuft harzig an. Sie wird wohl dort bleiben, bis der Winter anbricht.»
«Armer Walter», sagte Meta mit echtem Mitgefühl in der Stimme. «Was tust du denn das ganze Wochenende, ausser Süssigkeiten essen und Heimatfilme schauen?»
«Den Hometrainer strapazieren, um die Kalorien zu verbrennen, die ich in mich hineinfuttere!»
Toni konnte es nicht lassen. Er hatte seinem Sohn im Stall geholfen, mit Annamaria zu Abend gegessen, den Wetterbericht im Fernseher geschaut. Danach war er gleich sitzen geblieben, weil eine neue Folge einer Krimiserie kam. Er liebte diese Serie. Die Kommissarin war eine bodenständige, praktische junge Frau, keine aufgemöbelte Zicke, die in Stöckelschuhen auf Verbrecherjagd ging. Und der Kommissar hatte einen Bauch, wie es sich in seinem Alter gehörte. Nachdem die Täter gefasst waren, konnte Toni jedoch nicht mehr sitzen bleiben. Die Neugier trieb ihn ins Gasthaus. Er wollte die neuen Gäste aus der Nähe sehen.
Nach der abendlichen Kühle draussen war es in der Gaststube angenehm warm. Der Raum hatte grosse Ähnlichkeit mit dem Wohnzimmer in seinem Haus. Die Wände waren getäfelt, das unbehandelte Holz stark nachgedunkelt. Der caramelfarbige Kachelofen nahm einen beträchtlichen Platz ein im ohnehin nicht grossen Raum. Das schummrige Licht passte zur warmen Atmosphäre und stammte von hübschen Hängelampen, wie sie früher auch Tonis Mutter besessen hatte. Karierte Vorhänge, Ansichtskarten von Gästen und allerlei Schnickschnack auf Simsen und Regalen wirkten ebenfalls freundlich und boten den Gästen eine familiäre Atmosphäre, die überdies zahlreiche Klischees vom Leben in den Bergen bediente.
Fast alle Tische waren besetzt. Toni erblickte Müllers hinten an der Wand, die ihm zuwinkten und ihm bedeuteten, sich zu ihnen zu setzen.
«Dasselbe, bitte», beantwortete Toni Franks Frage nach seiner Bestellung und deutete auf die Getränke von Gusti und Greti Müller, die beide einen Espresso und ein Gläschen Grappa vor sich hatten.
«Wir brauchten ein Verdauungsschnäpschen», erklärte Greti lächelnd. «Frank hat so gut gekocht und so reichlich geschöpft, dass wir kaum mehr aufstehen mögen!»
«Mmh, ja», bestätigte Gusti. «Die Schnitzel waren ganz zart, die Sauce ein Gedicht, sag ich dir, und solchen Risotto bekommt man sonst nirgends! Er spart nicht mit dem Käse, der Frank, und mit dem Wein auch nicht, der versteht was vom Kochen.»
Toni lehnte sich zurück und beobachtete die Gäste. Die Frau mit den beiden Mädchen war am Vortag bereits hier gewesen, Wochenendausflügler. Eine nette Idee, mit den Kindern auf den Glaspass zu kommen, in einem der einfachen Zimmer zu übernachten, ein wenig zu wandern und draussen zu spielen. Sympathisch, wenn auch etwas langweilig.
Die hübschen Beine verbargen sich leider unter dem Tisch und lenkten so seinen Blick nicht vom Gesicht der jungen Frau ab, die sich über ihr Telefon beugte und mit dem Schreiben einer Nachricht beschäftigt war. Als sie kurz aufschaute, um einen Schluck ihres Mineralwassers zu trinken, kreuzten sich ihre Blicke. Hübsche Augen, freundliche Ausstrahlung, könnte sich als ganz nett herausstellen. Ihr gegenüber sass ein junger Italiener, der sich ebenfalls mit seinem Telefon beschäftigte. Für Toni würde es immer ein Rätsel bleiben, wieso die jungen Leute ihren elektronischen Kontakten eine höhere Priorität einräumten als den realen. Zwei junge Leute an einem Tisch sollten sich miteinander unterhalten, nicht jeder für sich mit seinem Telefon! Jetzt näherte sich energischen Schrittes ein zweiter Südländer, der offenbar auf der Toilette gewesen war.
«Ah, Lorenzo, erst halb zehn! Wird es denn nie mehr Abend heute? Gehen wir?»
«Nein, das hat keinen Wert, Gianni arbeitet noch. Vor elf Uhr müssen wir nicht unten sein, um diese Zeit ist auch noch nichts los in Thusis. Komm, Tiziano, trinken wir noch was.» Er winkte Frank.
Tiziano trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch, war aber einverstanden. Er musterte Sandra Studacher, der schon wieder ein Ton den Erhalt einer neuen Mitteilung ankündigte.
«Wem schreibst du denn die ganze Zeit? Ist das so wichtig?»
Seine Stimme war laut genug, dass Toni jedes Wort verstehen konnte und unter seinem Bart verstohlen schmunzelte. Ein Seelenverwandter.
«Moment … warte …», murmelte Sandra.
«Hallo, Sandra, du hast Gesellschaft!» Tiziano wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht.
«Lass sie doch», beschwichtigte Lorenzo, «es scheint wichtig zu sein.»
«Quatsch, wichtig! Los, Sandra, erzähl mal, was schreibst du da?»
«Senden!», murmelte sie, berührte das Gerät am richtigen Ort und blickte auf. «Was ich schreibe?», wiederholte sie. «Eine Kollegin hatte heute eine wichtige Prüfung, da wollte ich nachfragen, wie es ihr gegangen ist. Eine andere hat sich erkundigt, ob ich gut angekommen sei. Meine Mutter war mit dem Hund beim Tierarzt und teilte mir mit, dass ihn dieser behandeln konnte. Ein Bekannter …»
«Eben, ich wusste es doch! Alles unwichtig, hast du gehört, Lorenzo?»
«Na, hör mal! Meine Freunde und die Familie sind wichtig für mich!», empörte sich Sandra.
«Aber in den Ferien sind doch die neuen Bekanntschaften wichtig, sonst müsstest du ja gar nicht wegfahren, capisci? Du könntest genauso gut zu Hause auf dem Sofa sitzen, allein, die ganze Woche, und Nachrichten schreiben.»
Sandra holte tief Luft, um zu einer Antwort anzusetzen. In diesem Moment ertönte ein penetranter Glockenklang, der Tiziano aufspringen liess. Er riss sein Smartphone aus der Hosentasche, meldete sich mit «ciao, ciao, dimmi …» und verliess eilig das Restaurant.
Lorenzo hob resigniert die Schultern und lachte Sandra an. Sie lächelte zaghaft zurück.
«Grosse Worte und nichts dahinter, was?», sagte sie.
«Ja, er ist ein unverbesserlicher Schwätzer, aber mit ihm läuft immer etwas, da ist es nie langweilig!»
Auch Toni Hunger, der die Szene beobachtet hatte, lachte. Einen Tisch weiter vorne sassen Petra und Georg Steingruber, die Gäste aus Österreich, die nichts mitbekommen hatten. Sie beugten sich tief über eine Wanderkarte, ihre Köpfe berührten sich fast, und unterhielten sich leise. Am Tisch, der der Tür am nächsten stand, sassen die drei jungen Deutschen. Sie hatten noch kaum miteinander gesprochen, seit Toni hier war. Einer kratzte sorgfältig die letzten Reste seines Desserts aus dem Teller, einer spielte mit dem Zuckerpäckchen, das er zu seinem Kaffee erhalten hatte, und der dritte stocherte mit einem Hölzchen in seinen Zähnen.
Frank versicherte sich mit einem Blick, dass alle seine Gäste bedient waren, bevor er sich an einen der Tische setzte. Er hatte eine Karte und einige Prospekte dabei und gab bereitwillig Auskunft über die Sport- und Ausflugsmöglichkeiten, die sich den Gästen boten.
«Der Piz Beverin ist nicht zu unterschätzen. Der Aufstieg von hier aus ist keine einfache Wanderung, sondern eine Bergtour.»
«Muss man denselben Weg wieder runter, oder gibt es noch andere Routen?», fragte einer der drei Deutschen.
Frank schilderte ausführlich die anderen, weniger problematischen Möglichkeiten und ging dann über zu den leichteren Wanderungen: längere und kürzere, steilere und flachere, einsamere und solche mit Gasthäusern am Weg.
«Der Weg vom Glaspass hinunter ins Safiental hätte mich heute ungemein gereizt, als ich mit dem Velo unterwegs war», sagte Sandra. «Wie komme ich von dort wieder zurück hierher?»
«‹Velo› sagt sie», bemerkte einer der Deutschen halblaut. Und in verletzend abschätzigem Tonfall fügte er hinzu: «Wie soll jemand Fahrrad fahren können, wenn er’s nicht mal aussprechen kann?»
Einen Moment herrschte Totenstille, dann beeilte sich sein Gefährte zu bemerken: «Ach, Dieter, nun fang bloss nicht schon wieder an, dich so aufzuführen, ja?» Als der Dritte ansetzte, ebenfalls etwas zu sagen, brachte er ihn mit einem Blick zum Schweigen.
Dieter grinste spöttisch und blickte Sandra herablassend an. Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff Frank das Wort und erklärte ihr freundlich: «Mit dem Velo – oder Fahrrad – », fügte er mit einem Blick auf Dieter hinzu, «über den Glaspass ist sehr zu empfehlen für geübte Fahrer mit guter Kondition.» Er beschrieb den schmalen Pfad den Heinzenberg hinunter nach Safien-Platz, dann den Weg durch das Safiental hinaus und diesseits des Heinzenbergs zurück. «Zum Schluss musst du dann noch den ganzen Weg bergauf nach Glas, das ist ein Krampf. Wenn du zu müde bist, kannst du das Postauto bis Tschappina benützen, dann brauchst du nur noch das letzte Stück zu trampeln.»
«Toll, das reizt mich. Kann ich dasselbe Bike morgen nochmals mieten?», fragte Sandra.
«Schau, schau, jetzt sagt sie ‹Bike›. Sogar Fremdsprachen beherrscht sie.» Dieters Stimme triefte vor Hohn und brachte den dritten deutschen Kollegen zum Explodieren.
«Nun halt endlich deine verdammte Fresse, du Arschloch! Im Restaurant unterwegs hast du den Kellner fertig gemacht, der Verkäuferin im Sportgeschäft ging’s nicht besser, und jetzt das. Du bist doch nicht normal!»
«Klaus, bitte, lass dich nicht provozieren.» Sein Kamerad versuchte wieder zu schlichten. «Dieter, heute bist du wirklich übel gelaunt. Lass doch die Leute in Frieden.»
Dieter setzte ein abschätziges Lächeln auf, schwieg aber. Erleichtertes Aufatmen bei den übrigen Gästen.
Angela Oberhofer erkundigte sich bei Frank nach ein, zwei Kesseln, die sie sich ausleihen könnte, weil sie am Montag Heidelbeeren sammeln wollte mit den Kindern.
«Klar, ich gebe euch die grossen Jogurt-Behälter mit, die braucht ihr nicht zurückzugeben. Am meisten Beeren findet ihr am Heidbüel, das ist die Kuppe am Fuss des Piz Beverin. Er ist über und über voll von Heidelbeerstauden und Alpenrosen. Zuoberst befindet sich ein kleiner See, fast eingewachsen, in einer Stunde seid ihr dort. Dahinter beginnen die Felsen, doch bis zum Teich ist der Weg völlig ungefährlich und gut markiert.»
Angela bedankte sich für die Auskünfte und machte den Mädchen den Ausflug schmackhaft.
«Frank, bitt’ schön, kannst du uns etwas sagen zu dem Weg, der am Fuss des Piz Beverin entlang nach Thusis hinunterführt?»
«Oh, Austria ist auch vertreten», liess sich Dieter vernehmen. «Sind österreichischen Snobs die Berge im eigenen Land nicht gut genug?»
Sandra stöhnte auf, Tiziano schimpfte: «Mann, was ist los! Trink noch ein Bier, das beruhigt die Nerven, capisci.»
«Darf ich dreimal raten? Ach nein, einmal wird genügen: Du bist italienischer Kellner in Deutschland, richtig?»
«Ja, das stimmt genau. Und wenn ich Gäste hätte, wie du einer bist, würde ich sie rausschmeissen, capisci, da kannst du sicher sein. Zum Glück sind die meisten nicht solche Arsch…»
Diesmal fuhr Sandra dazwischen und schlichtete den Zank.
Tiziano schwieg schliesslich und liess seinen Zorn an einem leeren Zigarettenpäckchen aus, das er wütend zerknüllte.
Dieter erhob mit süffisantem Lächeln sein Schnapsglas und nahm einen Schluck.
Frank holte tief Luft und beschrieb Georg und Petra den Weg, der über Alpweiden, durch Tobel und später durch den Wald jenseits des wilden Bergbachs Nolla nach Thusis führte.
Nachdenklich beobachtete Toni Hunger die Gäste, deren Gespräche er mit Interesse verfolgt hatte. An der Gruppe war nichts Ungewöhnliches, und trotzdem konnte er das Knistern spüren, das zwischen den Gästen herrschte. Im Gegensatz zu Toni liess das Geschehen seine beiden Tischkameraden völlig unberührt. Gusti und Greti Müller berieten, was sie noch alles erledigen mussten, um ihr Ferienhaus für den Winter bereitzumachen, und schienen nichts mitzubekommen von den Spannungen an den Nebentischen.
Schliesslich löste sich die Runde auf. Die beiden Italiener verabschiedeten sich. Angela, Jana und Julia räumten ihr Brettspiel zusammen und gingen zur Treppe, die Mädchen kichernd und flüsternd. Die Müllers trauten sich nach dem Verdauungsschnaps zu, sich zu erheben und den Heimweg zu ihrem Häuschen anzutreten. Es klappte tatsächlich, und Toni folgte ihnen hinaus. Nachdem er sich unten auf der Strasse von ihnen verabschiedet hatte, machte er sich gut gelaunt auf den Weg zu seinem Haus. Die Gästeschar schien ihm vielversprechend zu sein, wer weiss, vielleicht würde er in der kommenden Woche die eine oder andere spannende Szene miterleben.
Sie lag niedergeschlagen im Bett und fühlte sich, als würde die Bettdecke mit dem Gewicht eines Kartoffelsacks auf ihrer Brust liegen. Sie vermisste ihn so sehr. Jetzt würden sie nebeneinander liegen und sich über die Gäste unterhalten. Sie wären sich einig, dass die Tante mit den beiden Kindern zwar nett, aber langweilig sei, der Deutsche ein mieser Kerl, den man besser mied, und der alte Bauer ein sonderbarer Typ. Sie würde sich in seine Armbeuge schmiegen, er mit ihren Haaren spielen. Der schmerzhafte Stich, den sie in ihrem Herzen spürte, liess sie aufstöhnen.
Die Ferienreise hatte sie nicht abgesagt, weil das so kurzfristig nicht möglich gewesen wäre ohne finanzielle Einbusse. Das hätte wiederum bedeutet, dass sie nirgends hätte hinfahren können, und eine Woche ohne Tapetenwechsel war ihr noch schlimmer vorgekommen als eine Woche allein auf dem Glaspass. Nun war sie hier, doch ihre Hoffnung, an andere Gäste Anschluss zu finden, hatte sich zerschlagen.
Den halben Abend hatte sie mit ihrem Smartphone verbracht, um ihre Kolleginnen von der Trennung zu unterrichten. Deren Mitgefühl und tröstende Worte hatten ihr gutgetan. Nun war das Handy verstummt. Ob er wohl anrief?, fragte sie sich. Sie wartete sehnsüchtig darauf, seine Stimme zu hören, und fürchtete gleichzeitig, einem Gespräch nicht gewachsen zu sein. Sie würde schimpfen oder weinen, das Telefonat würde in einem Desaster enden, und sie würde sich wünschen, er hätte nie angerufen. Doch Sandra vermisste ihn so unsäglich, dass sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte.
Georg Steingruber konnte ebenfalls nicht einschlafen. Der Platz neben ihm im Bett war leer. Das war er gewohnt, denn während er um zehn Uhr abends jeweils rasch schläfrig wurde, dachte Petra um diese Uhrzeit noch in keiner Weise an Nachtruhe. Trotzdem hätte es ihn gefreut, wenn sie sich heute, an ihrem ersten Ferientag, zu ihm ins Bett gelegt hätte. Sie hätten sich über ihre neuen Bekanntschaften unterhalten können, über ihre Pläne für die nächsten Tage, über diese abgeschottete Welt auf über achtzehnhundert Metern Höhe, die für eine Woche ihr Zuhause war. Doch Petra war noch nicht von der Gaststube ins Zimmer heraufgekommen. Georg seufzte. Er zündete die Nachttischlampe an und nahm sein Buch zur Hand, um noch ein paar Seiten zu lesen, bis seine Frau endlich das Zimmer betreten würde.
Die leisen, regelmässigen Atemzüge waren der einzige Laut, der in den frühen Morgenstunden in einem der Zimmer zu hören war. Das Mondlicht zeichnete in der Dunkelheit ganz schwach die Konturen der Möbel nach. Die Kraft des Mondes reichte gerade aus, um einige Grautöne aus der Schwärze der Nacht herauszuarbeiten, aber weder für Farben noch für Wärme. Es war ein kaltes Licht. So kalt wie das Innere der Gestalt, die im Bett lag, kalt und grau.