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Allein mit dem Guru
ОглавлениеSeit nunmehr zwölf Jahren begleite ich ihn auf seinen Reisen um die Welt. Im Laufe dieser Zeit habe ich es mir verdient, ein Teil des inneren Kreises zu werden, der den Erleuchteten stets umgeben darf. Heute ist ein ganz besonderer Tag, denn ich werde eine finale Weihe erhalten, die mir der Meister während dieser gemeinsamen Meditation spenden wird.
Das jahrelange Exerzieren, das Transzendieren veralteter Vorstellungen über das Göttliche, die Welt und meine eigene Natur, hat sich letztendlich gelohnt. Ich bin froh, nicht auf die Unerleuchteten gehört zu haben, die mich einst von der Nachfolge abhalten wollten. Meinen alten Glauben habe ich lange hinter mir gelassen, und heute noch erinnere ich mich an die Worte, mit denen mich Mikael zurückhalten wollte.
»Merkst du denn nicht, dass er diese Bibelstellen verdreht und aus dem Kontext gerissen wiedergibt, damit sie mit seiner Philosophie übereinstimmen?«
Während ich an all den Reisen und Satsangs meines spirituellen Lehrers teilgenommen habe, durfte ich wahre Wunder erleben und erfahren, was es bedeutet einer Inkarnation der Wahrheit nachzufolgen. Mein Bekannter hat, wie so viele andere Bemitleidenswerte, die Gegenwart des Erleuchteten nie gespürt, geschweige denn, sich eingehender mit seiner Lehre befasst, und dass, obwohl er gewisslich die Gelegenheit dazu besaß. Was früher lediglich einer kleinen Schar wahrhaft Suchender vorbehalten war, ist heute durch das Internet und andere Medien frei verfügbar. So gut wie jeder Mensch kann seine göttliche Natur erkennen, es bedarf nicht mehr der langen und mühsamen Nachfolge eines Gurus. Doch ich habe eine solche gewählt und bin dankbar für die spirituellen Wahrheiten, die mir mein Lehrer in seinem Bestreben, die gesamte Menschheit zu erleuchten, offenbart hat. Dieses Leben, so bin ich überzeugt, wird meine letzte Inkarnation innerhalb einer Illusion sein; nun, da ich begriffen habe, dass ich selbst Gott bin! Solange ich auf Erden weile, werde ich lehren, und ich bin dankbar, dass mir mein Meister heute seinen Segen geben wird. Sein Körper ist alt, beinahe vierundachtzig Jahre, und die ehrwürdige Linie von Gurus, der er entstammt, darf und wird nicht mit ihm zu Ende gehen.
Der Großteil des inneren Kreises besteht, wohlgemerkt, aus jungen Frauen, die auf von ihm verliehene Namen hören und ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen. Heute Abend habe ich ihre sanften Schritte jedoch noch nicht vernommen, denn sein Nachfolger, darauf bestand er ausdrücklich, solle ein Mann sein.
Und so trafen wir uns vor dreißig Minuten in der leeren Versammlungshalle des Ashrams, der Tag für Tag von Pilgern aus aller Welt aufgesucht wird. Dezenter Kerzenschein erhellt die Winkel des abgedunkelten Raums und Hauche jüngst verräucherten Sandelholzes wahrnehmend, meditiere ich im Lotussitz. Mir gegenüber, in gleicher Haltung, sitzt der Ehrwürdige auf seinem feuervergoldeten, mit Jasminblüten geschmückten Thron. Dem besonderen Anlass entsprechend tragen wir bunte Prachtgewänder, und wie immer emanieren kosmische Schwingungen aus den Chakren meines Meisters, der in eine tiefe Meditation versunken ist. Ich solle mir die Erkenntnisse all der Jahre ins Gedächtnis rufen, völlig ruhig und leer verweilen, um sodann meinen Geist zu öffnen und mich komplett hinzugeben; ließ er mich zu Beginn des Rituals wissen. Wahrlich, er wird mir seinen Segen geben und ich werde sein Nachfolger sein. Alles verdanke ich diesem liebenswürdigen, hochgelehrten Lichtbringer. Er ist derjenige, der die Dunkelheit in mir zerstört und meine Augen aufgetan hat.
Alle Dinge kommen und gehen, doch eines ist immer konstant: mein göttliches Selbst. Es gibt keinen persönlichen Schöpfer, das Gegenteil glauben lediglich Kinder oder Narren, und ich bin heilfroh, dieser Täuschung entflohen zu sein; andernfalls hätte ich mich erneut im karmischen Kreislauf verstrickt. Gewiss, denn Ich selbst bin Gott; mein Selbst ist Er – ist Es. Bevor die Welt geschaffen wurde, ward bereits mein wahres Ich, existierte mein Selbst frei von Geburt und Tod. Doch habe ich diese ultimative Wahrheit vergessen, eingesperrt in eine fleischliche Hülle, meine Erinnerungen verdunkelt durch das falsche Ich, welches lediglich ein Konvolut diverser Konditionierungen und Verhaltensmuster ist. Auch erkenne ich heute in vollem Umfang, dass das Gute wie auch das Böse bloß eine Illusion darstellt, relativ und einzig vom Betrachter abhängig ist! Ich weiß um die Wahrheit, wie man sie bloß nahe des Todes kostet, wonach sich die Unwissenden Schicksale und Fährnisse eigenständig aufbürden; es gibt niemanden, den man für irgendein vermeintliches Verbrechen verantwortlich machen kann. Jene, die inkarnieren, haben sich ihre Erfahrungen stets freiwillig ausgesucht – und so entschied ich mich einst für die Erleuchtung.
Viele Kernaussagen des Meisters rufe ich mir ins Bewusstsein, doch bleibe ich fortan ganz frei, von Gedanken unberührt. Meine Augen sind geschlossen und ich bin eins mit dem Göttlichen, ich bin das Göttliche, eine unpersönliche Energie, in der alles wahrgenommen wird, sich alles ereignet. Schmerz und Freude, Trauer und Glück, Glaube und Unglaube, Krieg und Frieden. Alles kommt und geht, doch ich bin immer und somit gewahr einer jeden Sensation. Ich bin ohne Geburt und ohne Tod. Ich bin ewig, ich bin Gott und frei von jeder individuellen Identität. Dies wissend, gebe ich mich ganz hin, gebe ich mich vollständig auf.
Nun spüre ich, wie ein kalter Hauch meinem Körper naht. Vermutlich durch ein offenes Fenster hineingelangt, verteilt sich eisige Luft im Raum, streift über meine Wangen, umschmeichelt meine blanken Füße. Sicher, auch solches kommt und geht und ist somit nicht real. Es wundert mich zwar, aber ebenso wie das Auftauchen dieses Phänomens, werde ich auch sein Verschwinden wahrnehmen.
Ich vermisse jedoch die Anwesenheit meines Meisters. Widerwillig öffne ich die Augen und erkenne, wie er in sich zusammengesackt zur Seite gekippt ist. Seine Lider sind nach wie vor geschlossen, und wüsste ich nicht um seine vollendeten Fähigkeiten, so müsste ich annehmen, er sei während der Meditation eingeschlafen. Für einen flüchtigen Augenblick habe ich den Lufthauch vergessen, doch nun spüre ich ihn abermals, mit aggressiver Intensität, und als nächstes, eine elektrische Entladung auf Höhe des Solarplexus.
Es ist so dunkel … Wo bin ich? Um mich herum herrscht tiefste Schwärze. Von Zeit zu Zeit steigen verschwommene Bilder in meinem Bewusstsein auf, ich nehme das Außen auf eine bizarre Weise, einem Fiebertraum vergleichbar, wahr. Ich sehe die Versammlungshalle unseres Ashrams, Menschen aus vielen Nationen. Sie lachen, sind guten Mutes und erhalten die Aufmerksamkeit, nach der sie sich sehnen. Sie tragen mir ihre Probleme vor, küssen in demütiger Verehrung meine Füße, blicken zu Tränen gerührt zu mir auf. Du bist Gott, höre ich mich immer wieder sagen. Ich bin ihr Guru und sie haben mich als den lang ersehnten Nachfolger des Meisters anerkannt. Mein Körper ruht auf dem feuervergoldeten Thron und lehrt die Suchenden. Doch nicht ich bin es, der spricht. Jene Dinge, die mein Körper in Abwesenheit der Schüler vollführt, wage ich nicht ansatzweise zu beschreiben.
Diese Wesen, sie benötigen keinen Schlaf, sie sind stets gegenwärtig … In der Lichtlosigkeit dieser Innenwelt tun sie mir auf eine eigentümliche Weise weh. Gefangen in meinem eigenen Körper, in eine hermetisch versiegelte Kammer des Hirns gesperrt, bin ich jedweder Möglichkeit beraubt. Um mich herum pulsiert ein Kosmos reinster Finsternis, eine unbeschreiblich grauenhafte Atmosphäre, komponiert aus hoffnungsloser Unruhe und brennendem Zorn. Sie sind Legion und amüsieren sich über die eitle Menschenseele, die so bereitwillig ihr Opfer wurde. Sie mischen Wahrheiten mit Lügen, das haben sie schon immer getan.
Kreischen und Schnattern in der Finsternis … Infernalische Invasoren, Schlangenbrut, gefallene Engel! Wir sind Brüder in jener hohen Sünde, für die sie einst aus dem Himmel verbannt wurden und die sie seit Anbeginn der Zeit als Frucht zur Speise reichen. Allein Gott kann mir nun noch helfen!
Alles kommt und geht … Bewusstsein ist immer … So wie diese Dunkelheit, und ich bin nicht allein in ihr.