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Organismus

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Die finalen Tage des Jahreskreises zeigten sich in all ihrer durch das verborgene Wirken der Elemente bedingten Wonne. Die hell erleuchteten Mittagsstunden kristallklar, bitter kalt durchweht, mit pseudo-polaren Ansichten auf eine den ersten Schnee erwartende Natur; die nunmehr lichten, von orangegelbem Laub gesalbten Talhänge in ein ausladendes Kleid spätherbstlichen Nebels gehüllt; die Dunkelheit früh einsetzend und die Menschen zurück in ihre Stuben drängend, an ihre zugestandenen Plätze, die den seelenlosen Werkmächten des Demiurgen und jenen aus der äußeren Finsternis eindringenden Larven formloser Astrapolypen einst opferreich abgetrotzt worden waren.

Infolge einer vierten Sitzung hatten die Presseagenturen soeben eine diplomatische Einigung bei den bereits monatelang andauernden Verhandlungen in Beijing vermeldet. Die Namen vieler Staatschefs würden somit zeitnah unter einer Urkunde zu finden sein, welche die Gesamtheit der Wirtschaftszonen unter einem einzigen Hochkommissar vereinen sollte. Ein logischer Schritt, wie er sich seit Äonen um jedweden Organismus herum und inmitten einer jeden Gemeinschaft auf ein Neues zu gegebener Zeit vollzieht. Nesseltieren gleich, welche ihre Hüllen zu einer wehrhaften Korallenkolonie vereinen und sich, auf diese Weise geschützt, zu riesigen Biostrukturen ausbreiten, war auch die Menschheit in diesen Tagen dabei, ein weiteres Stück zusammen zu rücken; der Finsternis dort draußen zum Trotz, dem nach wie vor Unbekannten, dem vehement Vagen; den starren Blicken der Verborgenen abhold, entgegen jenen Unsichtbaren, von deren vermeintlichen Formen und Absichten niemand öffentlich zu sprechen wagte. Existierten sie überhaupt? Falls ja, beäugten jene Namenlosen in diesen historischen Augenblicken die Pläne einer, nach kosmischen Maßstäben beurteilt, im besten Falle vorpubertären Primatenzivilisation voll Missgunst, oder entsprach die jüngste Entwicklung vielleicht ganz ihrem Interesse, und sandten sie deshalb, in ihrem allewiglichen Anspruch auf die Lenkung instinktbasierten Lebens, aus verborgenen Räumen heraus Anerkennungen zu empfänglichen, ihnen verschworenen Akolythen in hohen Ämtern?

Ich beabsichtigte derweil, mich vor den lauernden, intuitiv wahrgenommenen Blicken jener halbversiegelten Kosmosmächte zumindest temporär zu verbergen, und so suchte ich in der Nachmittagsdämmerung den nahegelegenen Wald auf. Dort gab es naturgemäß bloß wenige Winkel, aus denen ein fremdweltlicher Geist in unsere Sphäre hineinzuspähen vermochte. Im kupferfarbenen Schein matter Straßenlaternen verwandelte sich in diesen herbstlichen Nebelstunden eine jede Gasse, ein jeder von ausgedorrten Hecken und kahlen Bäumen gesäumte Treppenaufgang in eine finster romantische Traumansicht; ich genoss diese feinen, hastigeren Blicken zumeist verborgenen Details. Vorbei an identischen Einfamilienhäusern mit großformatigen, ungeschützten Fensterelementen, die auf zur Arglosigkeit dressierte Charaktere schließen ließen, schritt ich durch die Kühle voran.

Während man in den Städten bloß noch an schmutzige Hinterhöfe grenzend Kirchen oder Bibliotheken fand, zeigten sich die Menschen in diesen Tagen von großen Ideen befreit; man war sich selbst genug. Jedoch, und dies soll nicht unerwähnt bleiben, beobachtete ich ein zunehmendes Interesse seitens der Wissenschaften bestimmte grundlegende Fragen der Existenz betreffend. Fragen, die man vor einigen Jahren noch zu meiden suchte. Außerkörperliche Erfahrungen, Spukphänome, Nahtoderlebnisse, Interaktionen mit fremdartigen Geschöpfen skurriler Couleur – derlei wurde in jüngster Zeit vermehrt diskutiert, und ja, auch ich interessierte mich für solche Grenzbereiche. Dabei empfand ich den Anspruch der Mainstreamwissenschaften, in eine der letzten Bastionen von Religion und Spiritualität nunmehr empirisch vorzudringen, um somit weitere Deutungshoheiten zu erlangen, als überaus anmaßend.

In Richtung Ortsausgang formte sich fortan ein Spätherbstpanorama aus den atmosphärischen Ansichten der in glühendes Abendrot getauchten und von nebligen Schwaden durchsetzen Nestern tannenbestandener Forste, wie sie die hüglige und von landwirtschaftlichen Feldern unterbrochene Landschaft hier und dort pittoresk zierten. Das artifizielle Ambiente der Siedlung ließ ich hinter mir, ebenso jene in dieser sakrosankten Jahreszeit vermehrt zu bemerkenden grellen Lichtinstallationen. Die wahrhaftige Finsternis kennt sehr wohl andere Wege in die Behausungen träumender Säuger, sie lässt sich nicht von gezähmten Strahlen rauchlosen Feuers irritieren. Der Kosmische Schatten war bereits Legende, ehe die flammenden Großgestirne seine Autorität, wenn auch bloß temporär, zu ächten begannen und lange bevor halbbewusste, gedrungene Primaten von den geschuppten Erben Atlantis die Zucht des erstgeborenen Elementes erlernten.

Die grellrot blinkenden Signaturen in der Ferne hoch aufragender Windräderkolonien pulsierten irritierend durch die den Horizont langsam einäschernde Dämmerung, und ich bog auf einen vertrauten Rundwanderweg ein, den ich in einer guten halben Stunde hinter mich bringen wollte. Es war nicht ratsam, in diesen gottlosen Tagen weit in die stärker werdenden Schatten vorzudringen, dennoch versuchte ich meinen Verstand von Alltagsbalast zu befreien, mich in der kühlen Abgeschiedenheit des Waldes etwas zu entspannen, und so schritt ich guten Mutes den unebenen Pfad entlang, vorbei an kahlen Buchen, Birken und dürren Sträuchern, raschelende Laubhaufe streifend, die kalte Luft tief einatmend und meinen Blick immer wieder in Richtung des dämmrigen, rubinrot getränkten Firmaments wendend.

Bald schon überkamen mich spekulative Gedanken metaphysischer Natur; sie sollten meine Wanderung begleiten. Ich fragte mich, ob es den Naturwissenschaften tatsächlich gelingen würde, Licht in jenes Dunkel zu bringen, welches in der Vergangenheit durch die unterschiedlichsten Religionen und Geistesströmungen gleichermaßen und niemals vollständig erkundet worden war. Um ehrlich zu sein, bezweifelte ich es. Wie konnte eine Sache, die Absolut war, zum Beispiel eine mögliche Gottheit, das Jenseits, Bewusstsein, also etwas, das nicht den Gesetzten der Materie unterlag, sondern diese vielmehr begünstigte, jemals mit Werkzeugen von Menschenhand, seien sich noch so komplex, erfasst werden? Ebenso misstraute ich den oftmals malerischen Erzählungen vermeintlicher Jenseitsbesucher. Ich schloss die Existenz anderer Welten, Daseinsformen und Mächte dabei gewiss nicht aus. Nein, vielmehr zeigte ich mich, was die Bekenntnisse der Masse betraf, als außerordentlich kritisch. Das Genre der Nahtoderfahrungen war zu guter Letzt enorm angewachsen, und es gehörte beinahe schon zum guten Ton, Gevatter Tod knapp zu entrinnen, um sodann von himmlischen Gefilden, wunderbaren Landschaften und fantastischen Erlebnissen auf der anderen Seite zu berichten. Doch ebenjene Beschreibungen beinhalteten für mich zugleich des Pudels Kern, die Erkenntnis, dass sich derlei bloß im eigenen Hirn abspielte. War es nicht von jeher allein der menschliche Organismus, eine Mischung aus Genetik und Erziehung, die all unsere Erfahrungen prägte und für uns deutete? Zugleich als Schicksal interpretierte Pfade auftat, oder verschloss? Der Körper eines hochentwickelten Tieres sollte im Jenseits allen Ernstes weiterhin über dieselbe Erscheinungsform wie auf Erden verfügen? Wozu das? Existierten dort auch Werkzeuge, die man mithilfe eines fortschrittlichen Daumens und einer entsprechenden Hand-Augen Koordination verwendete? Niemand konnte ernsthaft verneinen, dass jeder geistigen Regung, jeglicher Empfindung eine biologische Grundlage, eine Veränderung innerhalb des hochkomplexen hormonellen Gleichgewichts und der Hirnchemie des menschlichen Körpers zu Grunde lag. Wie konnte also etwas existieren, das sich dieser sinnlichen Erfahrungswelt entzog, bzw. nicht von ihr generiert wurde? Die Fähigkeit zur Selbstreflexion, wie sie oftmals mit einem vermeintlichen Seelenleben verwechselt wurde, schien bei Menschen mit degenerativen neurologischen Erkrankungen oder unterentwickelten Merkmalen oftmals unterdrückt, wenn nicht gar ausgeschaltet. In solch einem Fall verwiesen sogenannte spirituelle Menschen auf eine heilende Veränderung nach dem Tode. So würde der Kranke, oder anderweitig vom Schicksal Geschlagene einst wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückkehren. Naiv! Vermutlich teilten jene wohlmeinenden Kindsköpfe solche Ansichten nicht mit Personen, die aufgrund ihrer biologisch-genetischen Konstitution oder gesellschaftlichen Stellung auf ein Fortbestehen ihres liebgewonnenen Ichs nach dem grobstofflichen Exitus hofften. Zudem gelang es bloß dank unlogischer Akte träumerischer Verklärung, den Myriaden tierischen Lebens eine jeweils individuelle Weiterexistenz in einem vermeintlichen Nirvana zu attestieren. Warum sollte eine solche Kontinuität bei Homo sapiens mehr Sinn ergeben? Gerne wurde ihm eine berechtigte Hoffnung auf ein Fortbestehen nach dem irdischen Ableben eingeräumt, gebot dies doch angeblich bereits seine Fähigkeit zu bewusstem Denken und Handeln, seine Fähigkeit, über sich selbst nachzusinnen. Nun, waren diese Gaben nicht zynische Geschenke des Hirns? War es nicht ohnehin so, dass sich ebendieses Denkorgan von jenen der anderen Säugetiere in seiner Komplexität enorm unterschied? Beinhaltete diese Frage nicht zugleich die naheliegende Antwort, die niemand hören wollte? Wie dem auch sei, diese Grübeleien begannen mich zu langweilen.

Bald schon ließ ich den finsteren Versammlungsplatz einer heruntergekommenen Grillhütte hinter mir. Da hörte ich zu meiner Rechten ein raschelndes Wimmeln, das mich entlang des baum- und strauchbestandenen Wanderwegs zu flankieren schien. Ähnlicher einer Klapperschlange von unwahrscheinlichen Ausmaßen wand sich etwas durch das trockene Gestrüpp. Womöglich handelte es sich dabei vielmehr um ein Wildkaninchen, oder gar um eine seltene Waldkatze? Zuerst brachte ich das offenbare Herannahen eines oder mehrerer Dämmerungstiere mit meinem zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Monaten anhaltenden Vegetarismus in Verbindung. Ich hatte eine steile These aufgestellt, wonach unsere Mitgeschöpfe in Bezug auf den Menschen ganz ihren Riechorganen vertrauten und sich selbstverständlich nicht jenen Zweibeinern näherten, deren Haut das modrige Odeur einer Kadavergrube ausdünstete. Nun, es war bestimmt angebracht, die Taschenlampe einzuschalten! Bekanntlich vermochte ein noch so kleines Geschöpf, fern des Tageslichts, durchaus den ein oder anderen Schreck auszuteilen. Der künstliche Schein fiel auf den trockenen Wanderweg, ich ließ ihn die Büsche zur Rechten und den steilen Abhang zur Linken durchfluten.

Nichts! Nichts, bis auf ein neuerliches Rascheln, das plötzlich an Stärke gewann und sich ohrenbetäubend näherte – hinterrücks. Obgleich ich erschrocken herumwirbelte, konnte ich den Ursprung des Tosens nicht rechtzeitig erkennen, vielmehr schien er mich in Bodennähe seitlich zu passieren, um sich sodann auf unrealistische Weise vor mir in die Höhe zu schrauben … Was um alles in der Welt war das? Dieses nicht wirklich sichtbare, doch zugleich im hellblauen Schein der Taschenlampe schemenhaft flirrende Ding mit seinen gelbleuchtenden, ellipsenförmigen Glotzaugen! Es türmte sich groteskenhaft auf, fokussierte meine Gestalt aus Richtung der kahlen Baumkronen. Die Luft ward erfüllt von schrillen Tönen und scheußlichen Zischlauten; meine Atmung stoppte. Alles ereignete sich überaus rasch! Die schiere Präsenz des Etwas drängte mich jedenfalls zurück und den Abgrund zur Linken hinab. Den Halt im Hang verlor ich schnell, und durch Gestrüpp sowie Geröll rückwärts stürzend kam Panik auf, doch ein parallel verlaufender Wanderweg bremste den Sturz. Bloß für Sekundenbruchteile blieb ich käfergleich auf dem Rücken liegen, dann raffte ich mich auf, leuchtete verstört die Anhöhe aus. Da waren sie, nach wie vor! Wie japanische Nylonlaternen schwankten sie sanft zwischen den Ästen, die giftgelb leuchtenden Punkte in der Dunkelheit, vermutlich die Sehorgane dieses … Meine Güte, ich vermochte keineswegs einzuschätzen, um was es sich dabei tatsächlich handelte, mein Verstand kapitulierte. Warum besaß es keine richtige Gestalt? Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen! Der schmale Weg führte weiter nach unten, bergab, in die Tiefe. Ob das klug war? Gewiss klüger, als ein Aufstieg in Richtung der beständig wippenden und sonderbare Laute ausstoßenden Erscheinung inmitten der nun abendlichen Schwärze des stillen Waldes. Ich sputete mich. Ja, ich sputete mich sehr, und so eilte ich den unebenen Pfad hinab, durch den kühlen Herbstwind, lauernd, auf Geräusche horchend, die einen schlangenartigen Verfolger verraten würden. Zum Glück verbarg mein Verstand in jenen Adrenalinaugenblicken das Ausmaß der Gefahr, die eisig nach meinem Leben griff. Hier befand ich mich allein auf weiter Flur, mit einer undefinierbaren, doch offenbar intelligenten Kreatur, wohlgemerkt, und auf dem Weg in ein gar namenloses Tal. Die Flucht nach vorn führte vorbei an dichten, selbst vom Taschenlampenschein nicht zu durchdringenden nebeldurchzogenen Tannennestern, deren tiefe Totenstille nicht gerade zu meinem Behagen beitrug.

Alsbald gähnte zur Rechten ein gefährlicher Abgrund, und ich bemerkte, wie die linksseitige Bewaldung von schroffen Schieferfelsen abgelöst wurde, die den Pfad bergab von nun an zu prägen schienen. Ich hielt mich links, tastete an den kühlen Steinformationen entlang und leuchtete von Zeit zu Zeit nicht bloß rückwärts, sondern auch in die Tiefe. Ich musste aufpassen, denn der schmale Weg zeigte sich fortan von Geröll geschlagen, und sich sporadisch manifestierende feuchte Nebelbänke begannen, meine ohnehin gespannten Nerven noch weiter zu strapazieren. Nicht zu sprechen von meiner körperlichen Verfassung, die unter dem spontanen Fluchtmanöver durchaus gelitten hatte. Ich musste mich ausruhen, tastete jedoch noch einige hundert Meter im schwächer werdenden Kunstlicht voran. Wie lange war ich bereits unterwegs? Umgeben von ständig zunehmendem Nebel wurde jeder Gedanke an eine mögliche Umkehr obsolet. Mit der Linken griff ich urplötzlich ins Nichts, strauchelte, konnte meinen Stand jedoch halten und entdeckte eine moosbewachsene Höhlung in der Felswand. Diese rasch ausleuchtend zwängte ich mich in den kühlen Schieferbruch, atmete tief durch, deaktivierte die Handleuchte und inmitten der ominösen Finsternis übergab ich meine ermatteten Sinne schließlich dem sanften Rauschen des Windes …

Tatsächlich, ich musste vor Erschöpfung an Ort und Stelle eingeschlafen sein! Denn als ich erwachte, sah ich die von moosigem Schiefer bestimmten Umrisse meines Verstecks von sanftem Lichtschein umspielt.

Zuerst spürte ich eine starke Unterkühlung, dann einen brennenden Durst, schließlich das Schmerzen meiner Knochen. Bei dem Gedanken an den vor mir liegenden Aufstieg empfand ich dumpfe Pein in der Magengrube und ein nervöses Grinsen zerrte an meinen Mundwinkeln, woran gewiss auch die nunmehr als übertrieben empfundene Sorge vor den giftgelben Augen in der Dunkelheit Anteil hatte. Mein Gott, alles war auf einmal so unwirklich gewesen! Die zurückliegende Bedrohung hatte ich im Augenblick ihres Auftretens als ebenso echt wie bedeutsam erlebt. Ja, es war ohne Frage vernünftig gewesen, diesen unbekannten Pfad einzuschlagen. Wer vermochte schon ansatzweise zu deuten, was passiert wäre, hätte ich es auf eine Konfrontation mit jener halbunsichtbaren Erscheinung ankommen lassen. Bald schon würde ich in Ruhe über diese Sache nachdenken, doch nicht jetzt! Ich hatte soeben eine Nacht in der Wildnis verbracht. Würde man eine derartige Aktion auf lange Sicht planen, sie würde in ihrer Intensität niemals an ein solches, wenn auch unfreiwillig spontanes Abenteuer heranreichen. Ich raffte mich auf, klopfte Steinpartikel und Erde ab, streckte mich und trat aus der Felsnische. Im Lichte des Tages stand ich auf dem steil bergabführenden, holprigen Talweg. Vor mir klaffte eine vermutlich von einem in der Tiefe gurgelnden Fluss durchzogene Schlucht, und die gegenüberliegende, jüngst von Nebel belagerte Felswand zeigte sich ebenso schroff wie von morschen Baumkrüppeln und ungesund braunen Ginsterbüschen überzogen. Bergauf? Dazu fühlte ich mich keineswegs in der Lage! Immerhin, früher oder später würde ich gewiss auf eine verschlafene Ortschaft im Tal stoßen – dann doch lieber eine Rückfahrt mit dem Taxi. Obwohl mir dieser obskur steile Pfad in die Tiefe unvertraut war, glaubte ich, die geographischen Gegebenheiten einigermaßen einschätzen zu können und war guten Mutes, schon bald auf ein Zeichen von Zivilisation zu stoßen. Ich führte weder Uhr noch Smartphone mit und der Blick himmelwärts offenbarte überraschenderweise kein Gestirn, sondern bloß ein unvertraut graues Firmament. Erleuchtet, ja, doch starr wie Stahl. Merkwürdig …

Von da an ging es also weiter abwärts. Es schien mir gar so, als verringere sich mein Hörvermögen mit jedem Schritt, während eine sonderbare, der Jahreszeit nicht entsprechende Wärme hartnäckig auf meinen strapazierten Schultern hockte und schweißtreibend im Nacken nistete. Vermutlich war es um die frühe Mittagsstunde, ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, konnte bloß schätzen. Der Magen knurrte empfindlich, schmirgelpapierähnlich offenbarte sich starker Durst auf den Lippen. Meine Laune und meine Gedankenwelt zeigten sich von den Strapazen verändert, von äußerlichen Einflüssen belastet, und so musste ich unfreiwillig an meine jüngsten metaphysischen Überlegungen anknüpfen. Sollte tatsächlich so etwas wie eine Seele in meiner Brust hausen, wäre sie dann nicht in der Lage, mehr Abstand zu den sie umgebenden Umständen einzunehmen? Einen wahren Abstand, nicht eine durch Untätigkeit oder fragwürdige Praktiken künstlich herbeigeführte Dissoziation. Nein, während dieser anstrengenden Phase fand ich mein Fleisch einmal mehr auf untrennbare Weise mit meinem vermeintlichen Geiste verwoben. Wissend, dass die mich plagenden Mühen nichts im Vergleich zu den Dramen und Schicksalen waren, die sich in diesen Sekunden überall auf dem Globus ereigneten.

Kein Bachrauschen drang aus der Tiefe, doch nach einiger Weile, über knochige Äste keuchend kletternd, schien ich mich tatsächlich der Talsohle zu nähern. Oh, ganz gewiss, und nicht nur das! Inmitten der Schlucht offenbarte sich meinen Augen eine gar surreale Ansicht. Ein hoch aufragender Rundbau, betonfarben trist, deplatziert wirkend, bekrönt von einer bleiernen Kuppel ohne Fenster oder Luken. Ich glaubte, die Umrisse eines Eingangs zu erkennen. Ja, nun da ich näher herantrat, bemerkte ich eine schmale Pforte und wunderte mich, als ich den nunmehr geradeverlaufenden, trockenen Waldweg verließ, um ein weites herbstrotes Meer verdorrten Mooses zu betreten. Unter meinem Gewicht gab die weiche Fläche bedrohlich nach, und es wirkte beinahe so, als träume unter der in dieser Form noch nie zuvor geschauten Vegetation ein banngeschlagener Urzeitsee. Auf eine nicht nachvollziehbare Weise war mir, als sei ich am tiefsten Punkt der Erde angelangt; dies vermutlich bloß wenige Kilometer von meinem Heimatort entfernt. Verstörend … Wohnte hier etwa jemand? Um welche Art von Bauwerk handelte es sich? Als ich über die wabernde Fläche herantrat, bemerkte ich, dass die betongrauen Gebäudewände von großporigen, schwach zitternden Unregelmäßigkeiten durchzogen wurden, und in der dominanten Stille der sonderbar warmen Umgebung drang auf einmal ein dröhnendes Rauschen, ähnlich dem vermeintlichen Nüsteratem eines geschuppten Fabelwesens, an meine Ohren. Vielleicht neigte mein unterzuckertes Nervensystem aber auch bloß zu Missempfindungen, weshalb ich die Gesamtszenerie verfälscht, fantastisch aufgeladen wahrnahm. Gewiss, möglicherweise handelte es sich bloß um eine Art Kläranlage. Ich sollte es herausfinden, und so klopfte ich an die Pforte. Würde jemand öffnen? Nein, niemand erwiderte mein Einlassbegehren, und ich schob die klinkenlos Türe nach Innen auf.

Dunkelheit …

Nervös kramte ich nach der Handleuchte. Zuerst in der linken Jackentasche, dann in der rechten, schließlich fand ich sie in einer Hosentasche. Ich musste mich in den Proportionen des Baus enorm getäuscht haben, denn das schwächer gewordene Kunstlicht vermochte nicht einmal ansatzweise, den weitläufigen Raum zu erhellen – oder die Eingangspforte zu finden, die wie durch Hexerei verschwunden schien und an deren Stelle bloß eine graue Fläche waberte. Ein mulmiges Gefühl in der Magengrube gesellte sich zu Hunger und Durst. Augenscheinlich war mein Eintreten nicht unbemerkt geblieben, denn auf enigmatische Weise wurde das Innere des Rundbaus nun taghell ausgeleuchtet. Die Dunkelheit wich einem angenehm sanften Glanz, der aus den Wänden zu emanieren schien. Gewiss, sie konnten mir nicht für eine Sekunde verborgen bleiben, diese wahrhaft überproportionierten Tücher, die das Innere der gewölbten Konstruktion, von der Decke hängend, tiefschwarz ausflaggten. Sie verbargen einen somit quadratisch beschirmten, in gut einhundert Metern Entfernung befindlichen zentralen Punkt.

Von außen hätte ich niemals eine solche Weitläufigkeit der Architektur angenommen. Auf einem schlichten grauen Grund wandelte ich achtsam, ein jeder Schritt hallte, und bald hatte ich den mir frontal gegenüberhängenden schwarzen Banner erreicht. Zögernd berührte ich das schimmernde Gebilde. Aus mir unverständlichen Gründen musste ich an die Haut einer Tiefseekreatur denken. Wie auch immer, dies war beileibe kein gewöhnliches textiles Material. Schmierig, von grobledriger Struktur, beinahe wie von unheiliger Lebenskraft beseelt atmend, eine magnetische Schwingung aussendend. Hastig wischte ich meine Hand auf Brusthöhe ab und ging um das befremdliche Tuch herum, um sodann eine Lücke in der Verhüllung festzustellen, die mich in den Mittelpunkt des Baus vordringen ließ.

Hier nun sah ich zu meinem neuerlichen Erstaunen – und ja, spätestens ab diesem Zeitpunkt hätte ein weniger Verzweifelter versuchen sollen, das Gebäude auf irgendeine Weise zu verlassen – eine kahlköpfige Gestalt, eine Art Schaufensterpuppe, bekleidet mit einem mottenlöchrigen Tweedanzug, an einer Art Altar sitzend. Der ihr gegenüberstehende Hochlehner war unbesetzt und von ebenso schlichter grauer Substanz wie jener abstruse, mit dunklen Stoffen mehrschichtig bedeckte Opfertisch. Wen, oder besser was stellte die deplatzierte Figur dar? Ihre bloß angedeuteten Gesichtszüge waren die eines herrlich lodernden Engels und die eines geschlachteten Viehs, waren ebenso reich an weiblicher Anmut wie an maskuliner Stärke, und ihre Augen … Oh Gott, diese Augen – gleich gesprungenem nachtschwarzem Obsidian, scharfkantig aus dem ebenen Antlitz hervortretend. Höchst vornehm wies mir die schweigsame Gestalt mit der Rechten den Platz, ihr lippenloser Mund starr wie Stahl. Ich folgte der edlen Geste, und so saß ich Ihm gegenüber – Ihm, dem Herrn der Welt, dem Verborgenen, dem Uralten …

Er wusste um meinen Durst, kannte meinen Hunger. Der Uralte reichte mir mein vor Tränen der Ekstase schäumendes Blut in einem bleiernen Gralsgefäß nie ersonnener Ordnung zum Tranke, und sodann, assistiert von gewaltigen, sich aus der finsteren Beflaggung herausschälenden, kalmarähnlichen Schleimscheusalen, begann ich mit dem hohen Festmahl zu Ehren seiner nunmehr finster lohenden Exzellenz, dem unvergänglichen Verzehrer.

Ich fraß mich selbst auf … Bloß, um dann fleischlich entblößt, nach einer jeden Schmerz übertreffenden Widerlichkeitsdurchflutung, in einem Zustand satanischer Hellsichtigkeit befreit hinaufzusteigen; die wahren Formen der Schöpfung durchdringend und erkennend, sie ob ihrer Profanität höhnisch verlachend und sie gleichzeitig eingedenk ihrer nie erdachten Unaussprechlichkeiten preisend. Von einem grünspanfarben glühenden Nimbus des Wahnsinns verherrlicht glitt ich empor, hinweg aus dem Mittelpunkt der Welt, der Behausung des ewig nagenden Fressers, des Gebärers und Ausmerzers allen zuckenden Lebens. Etagen um Etagen wabernder Fleischschichten und schwefelfarben kochender Exkremente im Gefolge formlos blökender Nichtigkeiten durchdringend und immer weiter aufsteigend, vorbei an den Arkana einer fortan wie geschlachtet vor mir ausgebreiten Materie, zurück an die Oberfläche. Dort verweilte ich über den nunmehr phantasmagorisch enthüllten Wäldern und Siedlungen der Heimat und erkannte die in Gedärmkatakomben gefangenen, von perlmutfarbenen Fühlern mit dem blutschlammigen Boden verbundenen und umhergeleiteten Menschen in einem Zustand ständiger Verdauung. Soweit meine hellsichtige, von allen Blockaden befreite Schau drang: Legionen irrsinnig gestalteter Bakterien, wendelförmiger Spirochäten, umhertorkelnder Bakteriophagen und Kohorten namenloser Dinge, die Madenhirten einer verborgenen Ordnung; alles durchdringend, alles bestimmend. Jedwede Regung, eine jede Idee oder Überzeugung, bloß die Entsprechung in gröberem Leben siedelnder Kleinstlebewesen. Die einst auf den Höhen schwingenden Windräder zeigten sich enttarnt als umherpeitschende Tentakelkonstrukte, als entstellte Triskelen, unerhörte Schatten über eine schändliche Vegetation blutroter Pilzkolonien, faulig leprös aufgeblähter Organwälder und zittrig schwitzender Nester schwammiger Nervenklumpen werfend, und hie und da, monströse, auf perverse Weise mit der Umgebung verwachsene, giftgelbäugige Schatten; die silberfischartigen Blutgärtnerdämonen eines in dieser Form niemals erträumten, alle Ideen und Annahmen des menschlichen Verstandes ad absurdum führenden bestialischen Paradieses. Fortan durch ein tränengebärendes, einem Ozean wirbelnder Pastelltöne ähnelndes, verschwommenes Firmament levitierend, die von löwengesichtigen Mäulern und fiesen, auf ausgehöhlten Menschenköpfen wie auf Bockpfeifen kreischend musizierenden Absurditäten durchzogene Atmosphäre irre kichernd durchdringend, entglitt ich schließlich jenem verfluchten, widerlich kochenden Eiterplaneten und trat ein in die äußeren, von öligen Lachen des kosmischen Leviathans umspülten Bereiche einer von potent nährendem Blute unaufhörlich durchdrungenen Albtraumschöpfung des unendlich gnadenlosen Gottes Namens Zufall. Die zu pulsierendem Leben erwachten, geifernden, einst Gestirne genannten Knorpelanhäufungen in der Ferne sollte ich niemals erreichen, denn sogleich ich eine sich windende, titanische Regung in der unendlichen schwarzen Weite bemerkte, vermochte meine körperlose Form diesen finstersten Schleier nicht weiter zu durchdringen. In den Brennpunkten Myriaden plötzlich auflodernder, zerplatzender, sich tumorartig multiplizierender Götteraugen und angesichts jener zugleich vor mir aus der öligen Unendlichkeit zu absonderlichen Formen erstehenden Harlekingötzen verging mein Ich, verging mein Selbst in der finalen Bereitschaft, endlich die ultimative Wahrheit hinter den entblößten Dingen zu begreifen.

Ja, in der Tat! Soeben wunderte ich mich noch, wieso ein entleibtes Wesen eigentlich wahnsinnig werden konnte, da schmiegte sie sich an mich, die ewig subtil ersehnte, die letzte Offenbarung inmitten eines sich selbst befruchtenden und stets verzehrenden Lebewesens namens Kosmos, Universum, Geist, Bewusstsein; inmitten eines Organismus, der wie eine Hexenküche chemisch biologischer Verbindungen sogar die Illusion von selbstreflektierendem Bewusstsein, eigenständigen Gedanken und körperloser Existenz erschuf – jede Sekunde auf ein Neues; die Nahrung des ewigen, sich selbst verköstigenden, allumfassenden Verzehrers auf den Schlachtbänken irremachender Sinnlosigkeit gebärend, mästend; sich in sich selbst verschwendend, zugleich marternd …

Und so, in den letzten, nicht greifbaren Sekunden meines unwiederbringlich endenden Daseins, im neonfarben verblassenden Glanz eines vor bewusstseinsbildenden Bakterienkolonien des Irrsinns zitternden Glorienscheins, umarme ich hier und jetzt die finale Erkenntnis, wie sie sich durch mich und in mir ungefragt offenbart. Alles war, alles ist Materie. Ewigkeit ist einzig dem Uralten vorbehalten. Er ist die Zeit, die Seele eine flüchtige Illusion, und jedem Gefühl eines Ichs beraubt, nach einem Leben voll Verzicht und sinnlosem Hoffen, nicht ungleich einer beliebigen anderen atmenden Form, liebkost mich die schonungslose Wahrheit schließlich mit dem sanften Hauch der Nichtexistenz, wie er sich bloß im erlöschenden Inferno panisch funkender Neuronen flüchtig erfassen lässt, bevor dort fern von Zeit und Raum nichts mehr ist.

Abyssarion

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